Sucht betrifft viele, alle anderen sind als Angehörige betroffen.

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Willkommen

Sie interessieren sich für die Angehörigenproblematik der Sucht? Vielleicht, weil Sie selbst als Kind, Partner, Eltern, Geschwister oder Freund betroffen sind, weil Sie sich in der Selbsthilfe engagieren oder weil Sie als Suchthelfer, Sozialarbeiter oder Psychotherapeut tätig sind? Vielleicht auch, weil Sie aus der Sucht ausgestiegen sind, und erfahren möchten, wie andere unter Ihrem süchtigen Verhalten gelitten haben? Diese Website solidarisiert sich parteiisch mit den betroffenen Angehörigen.

Der Domänenname dieser Website soll einer vielschichtigen und facettenreichen Problematik eine eigene Überschrift geben. Angehörige sind nicht nur Anhängsel, sie leiden ebenso unter den Folgen und Begleiterscheinungen der Sucht wie die Suchtkranken. Co-abhängige Erlebens- und Verhaltensmuster sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die Betroffenen in der Hilfe für eine nahestehende suchtkranke Person verstricken. Durch die Aufopferung im Dienste der Sucht vernachlässigen sie sich selbst, ihre Lebensinteressen und Selbstfürsorge. Darüber entwickeln sie nicht selten eigene psychosoziale und psychosomatische Probleme und Störungen.

Angehörige benötigen Hilfe, doch sie nehmen oftmals die eigene Not kaum wahr und bagatellisieren sie: "Ist nicht schlimm, alles gut!" Ihr stilles Leiden wird durch die Hilfesysteme nur unzureichend erkannt und infolgedessen fallen sie zwischen die Hilfenetze von Prävention, Jugendhilfe, Suchthilfe und Psychotherapie. In der bewussten Hinwendung zu und Beachtung von Angehörigen, davon bin ich überzeugt, liegt eine enorme Chance, die Hilfesysteme gerechter zu gestalten und eine bessere Vernetzung zu entwickeln.

flyer lüdenscheid

2025-09 | Vortrag & Lesung | Lüdenscheid

Zwischen Liebe und Sucht: Angehörige im Schatten

Ende letzten Jahres haben Frau Schickentanz und ich schon in der Drobs Iserlohn ein neues Format ausprobiert und Vortrag und Lesung kombiniert. Für den 16.09. waren wir von Frau Stahlschmidt der Selbsthilfe-Kontaktstelle Märkischer Kreis eingeladen worden, die Veranstaltung zu wiederholen. Aus der Ankündigung der Veranstaltung:

Die Veranstaltung möchte die Sichtbarkeit der Angehörigen erhöhen und ihnen Unterstützung bieten. J. Flassbeck informiert fachlich, während Annabelle Schickentanz mit Auszügen aus ihrem autofiktionalen Roman die emotionalen Aspekte lebendig macht.

Es waren ca. 20 Personen gekommen, viele davon Betroffene. Der eher kleine Rahmen schuf eine vertrauliche Situation und von Beginn an wurden viele Zwischenfragen gestellt. Im Anschluss entwickelte sich eine lebendige Diskussion über die konkrete Situation von Angehörigen, ihren Hilfebedarf und auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Zum Beispiel haben wir die Frage diskutiert, ob Selbsthilfe von Angehörigen einen exklusiven Raum braucht oder die Selbsthilfe von Angehörigen und suchtbetroffenen Personen gemeinsam stattfinden kann. Das Hauptargument für eine gemeinsame Selbsthilfe ist, dass suchtkranke Personen von der belastenden Situation der Angehörigen erfahren und das gegenseitige Verständnis wachsen kann. Das Hauptargumente für eine exklusive Selbsthilfe ist, dass Angehörige einen Schutz- und Freiraum benötigen, sich von den süchtigen Übergriffigkeiten und Manipulationen zu befreien, persönliche Unabhängigkeit zu entwickeln und Mut zu sammeln, ihr Leben wieder aufzugreifen.

Besonders berührend fand ich, dass Frau Schickentanz für die Anwesenden ein Vorbild war, sich zu öffnen und von eigenen schlimmen Erfahrungen zu sprechen. Mithin entstand eine ganz sensible, mitfühlende Atmosphäre, sich solidarisch und wertschätzend zu begegnen. Bemerkenswert fand ich auch, dass selbst nach Beendigung des offiziellen Teils ein Großteil der BesucherInnen blieb, um den Austausch in kleinen Gruppen zu vertiefen. Für mich ist es einen schöne Erfahrung, mit dem schwierigen Thema nicht allein aufzutreten. Sich die Verantwortung zu teilen und den thematischen Ball hin und her zuzuspielen, habe ich als sehr angenehm und tröstlich erfahren. Es sind weitere gemeinsame Auftritte in Planung.

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jahrestagung mainz

2025-09 | Fachtagung | Vortrag

Suchtprävention hat ein Gesicht

Am Tag danach, am 17.09., bin ich nach Mainz zur Jahrestagung der Regionalen Arbeitskreise Suchtprävention in Rheinland-Pfalz gefahren. Dort habe ich unter dem Titel: Über Launen und Eigensinn – Gedanken eines Psychotherapeuten zur Suchtprävention der "stillen Mädchen“ vorgetragen. Dies hat mich besonders gefreut, weil ich in der Angehörigensache der Sucht mehr in Rheinland-Pfalz zu Hause und besser vernetzt bin als in meiner Heimatregion. Nirgendwo in Deutschland - das ist meine Erfahrung - sind die Hilfen für Kinder aus Suchtfamilien und andere Angehörigen von suchtkranken Personen so gut ausgebaut wie in Rheinland-Pfalz.

So habe ich auf der Tagung viele alte Bekannte getroffen, mit denen mich eine langjährige, bewährte Kooperation verbindet, zum Beispiel Nina Roth von der Suchtpräventionsstelle des Landesamtes und Dirk Bernsdorf, der, obgleich mittlerweile berentet, die Angehörigenarbeit wie niemand anderes in Rheinland-Pfalz geprägt hat und noch prägt. Highlight der Tagung war in meinen Augen die unkonventionelle und lebendige Moderation durch Janboris Ann-Kathrin Rätz. Janboris ist freiberuflich als Moderator*in und Workshopleitung tätig, ist nicht-binär, katholisch, queer und hat mehr als 25 Jahre TV-Erfahrung (n-tv, Deutsche Welle, ZDF, SWR). In einem eigenen Beitrag hat Janboris auf der Tagung von sich, dem Leben als nonbinäre Person, und auch von der eigenen Kindheit in einer Suchtfamilie und den Auswirkungen erzählt.

Janboris berichtete anekdotisch davon, wie Janboris als junger Mann den Mangel an Gefühlen durch einen ausschweifenden Lebensstil überkompensierte und lange Zeit nicht zu sich stand und sich - äußerlich als Mann verkleidet - vor anderen versteckte. Besonders amüsant, aber auch bedenklich war die Anekdote, wie sich Janboris das erste Mal traute, mit rot lackierten Fingernägeln als Nachrichtensprecher beim SWR aufzutreten, und dadurch den konservativen Betrieb des Rundfunks herausforderte und intern wie auch extern ordentliche Turbulenzen auslöste. Die Erzählungen brachten Leben in den mit über 100 ZuhörerInnen gefüllten Tagungssaal und waren mir und meinem Tagungsthema eine Steilvorlage.

Als Einstimmung habe ich über beschämtes und gleichgültiges Schweigen aus dem Roman Jenseits der Wand von Annabelle Schickentanz vorgelesen (Vorabhinweis: Für April nächsten Jahres ist eine Lesung von Frau Schickentanz und mir in Ingelheim geplant, ganz in der Nähe von Mainz). Danach habe ich essayistisch über die emotional deformierenden Belastungen und Traumata von Kindern aus Suchtfamilien und zu Möglichkeiten der präventiven, therapeutischen Anstiftung zu mehr Authentizität und Eigensinn vorgetragen.

Da ich nicht gut auf die Zeit geachtet habe und meinen Vortrag nicht zu Ende bringen konnte, möchte ich folgend eine gekürzte Version des letzten Abschnitts bzw. der Quintessenz des Vortrags über die Bedeutung von schamhaftem Respekt für das emotionale Funktionieren und den Eigensinn zitieren:

Die Emotion Scham repräsentiert ein Grundbedürfnis des Menschen, nämlich nach Annahme und Bindung. Wir wollen so angenommen werden, wie wir sind, mit unseren Lichtseiten wie auch Schattenseiten. Und vor allem wollen wir darin angenommen werden, dass wir uns von anderen unterscheiden, eigen sind und darüber hinaus nicht perfekt, ja fehlerhaft und bedürftig sind.

Sich zu schämen, bedeutet zum einen, dass das Bindungsbedürfnis unerfüllt oder sogar verletzt ist. Das unerfüllte Bedürfnis ist unangenehm, das verletzte Gefühl der Beschämung erleben wir als schmerzhaft. Das beschämte Schweigen ist statisch, unfrei und sich selbst aufrechterhaltend. Annie Ernaux nennt es das „beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit“.

Allerdings hat Scham noch eine andere, bewegte und bewegende Seite. Wenn wir uns bedingungslos in unserem So-Sein angenommen fühlen, durch uns selbst oder andere, löst dies ebenso Schamgefühle aus, eine angenehme, freudige, kribbelige Scham, es ist wie ein Verliebtsein in sich selbst. Scham hat wie jedes Gefühl zwei Seiten, eine verletzte Seite und eine sich erfüllende, liebevolle.

Respekt findet dort statt, wo eine Person schamhaft eine andere beschämte Person annimmt. Respekt bedeutet, sich gegenseitig und unverstellt mit der eigenen Scham im anderen gespiegelt zu sehen. Wenn Kinder diese annehmende Spiegelung ausreichend erfahren, entwickeln sie ebenfalls eine respekt- und liebevolle Selbstbeziehung und Beziehungsfähigkeit. Prävention, Therapie oder die Selbsthilfegruppe sind Ersatzräume, diese wichtige Erfahrung nachzuholen.

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2025-09 | ARD | Film

Ein Mann seiner Klasse

Die SWR-Koproduktion Ein Mann seiner Klasse ist als bester Fernsehfilm mit dem Deutschen Fernsehpreis 2025 ausgezeichnet worden. Das Abstract zum Spielfilm von der Mediathek der ARD:

Kaiserslautern, im Sommer 1994. Für den zehnjährigen Christian ist ein Ausflug in den Freizeitpark die absolute Ausnahme. Realität sind die eingetretene Wohnungstür, Hämatome auf dem Rücken der Mutter Mira und die Erfahrung von ständigem Mangel. Sein Vater Ottes ist unberechenbar, meist siegt der Alkohol über den guten Willen und er macht es seiner Familie nicht leicht, ihn zu lieben. Als der aufgeweckte Christian unerwartet eine Gymnasialempfehlung bekommt, will Mira, dass der begabte Sohn seine Chance nutzt. Ottes ist strikt dagegen. Christian soll wie er die Hauptschule besuchen und arbeiten.

Als Mira lebensgefährlich erkrankt, gibt ihre Schwester Juli ein Versprechen ab: Sie wird Verantwortung für die Kinder übernehmen. Nach Miras Tod setzt sie gegen den Willen von Ottes durch, dass Christian aufs Gymnasium geht. In Bedrängnis zwischen Juli und dem Vater, von dem er sich emotional nicht lösen kann, muss Christian sich entscheiden, welchen Weg er im Leben gehen möchte.

Der Spielfilm „Ein Mann seiner Klasse“ und die gleichnamige Doku sind nach dem Bestseller von Christian Baron entstanden.

Auf der Seite Medien unter der Rubrik Romane finden Sie eine Rezension zum autobiografischen Buch. Der Film ist gut gemacht, doch vieles fehlt oder wird nur szenisch angedeutet. Das Buch führt nach meinem Dafürhalten die familiäre Tragik und das Schicksal von Christian genauer, vielschichtiger und tiefgehender aus. Sowohl das Buch als auch der Film sind von suchtbedingter Gewalt geprägt, was nicht für sensible Gemüter oder traumatisierte Personen geeignet ist.

Beim Schauen des Films habe ich über den Titel nachgesonnen, der das eigentliche Thema verschweigt. Sucht kennt nämlich keine Klasse. Die Auswirkungen der suchtbedingten Übergriffigkeiten auf das soziale Umfeld sind unabhängig vom Milieu: Die Würde der Angehörigen wird nachhaltig verletzt. Ist dies Absicht des Autors, um den Vater nicht nur als gewalttätigen Säufer zu erinnern, vielmehr ihm als "Mann seiner Klasse" ein menschliches Denkmal zu setzen und so ein liebevolles Gedenken zu pflegen? Ist dies wichtig und gut für den Seelenfrieden von Christian, ist es Ausdruck der Zerrissenheit des Protagonisten oder ist es eine Täuschung? Oder ist alles drei zutreffend, je nach Betrachtungsweise?

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2025-02 | ARTE | Serie

In my Skin

Derzeit und bis zum 14.01.2026 läuft auf ARTE die englische Serie In my Skin. Die dark comedy der Autorin und Regisseurin Kayleigh Llewellyn wurde von 2018 bis 2021 gedreht und durch die BBC Three herausgebracht. Aus der Ankündigung auf ARTE:

Die aufsässige und stürmische Bethan verheimlicht in der Schule ihre dramatischen Familienverhältnisse. Die tragikomische Coming-of-Age-Serie mit spitzzüngigen Dialogen zeichnet das subtile Porträt einer Jugendlichen, die ihr Leben auf eine ungewöhnliche Art anpackt.

In Wales gibt sich die 16-jährige Bethan Gwyndaf vor ihren Mitschülern Travis und Lydia fröhlich und sorglos, doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein schwieriger Familienalltag. Nicht genug, dass sie sich um ihre bipolare Mutter Trina kümmern muss. Auch ihr Vater Dilwyn, ein verantwortungsloser Alkoholiker, macht ihr das Leben schwer. Als Trina nach einem manischen Anfall in die Psychiatrie eingewiesen wird, tritt Bethans Schreibtalent zutage.

Nach außen hin spielt sie die aufsässige Jugendliche, daheim fungiert sie als letzte Stütze einer dysfunktionalen Familie. Bethan führt ein Doppelleben und verschweigt ihren Freunden die Dämonen, die ihren Alltag erdrücken. Mit ihrer bipolaren Mutter, die sie vor ihrem alkoholkranken, untätigen und aufbrausenden Vater beschützen muss, trägt das Mädchen eine viel zu schwere Last. Davon lässt sie sich nichts anmerken und flüchtet zusammen mit ihren Mitschülern ins Teenagerdasein, doch irgendwann bricht die Fassade zusammen.

Ohne jemals in Pathos zu verfallen, manövriert die Serie geschickt zwischen dem jugendlichen Leichtsinn der Tochter, den manisch-depressiven Schüben der Mutter und dem Verfall des Vaters, um die übergroße Verantwortung der jungen Protagonistin, die in die Rolle einer Erwachsenen schlüpfen muss, in den Fokus zu rücken. Gabrielle Creevy, Jo Hartley und Di Botcher bilden ein wunderbares Trio aus Tochter, Mutter und Großmutter, das wie eine Ode an die Schwesternschaft anmutet.

Dem habe ich wenig hinzuzufügen. Ich habe die Serie gerade zu Ende geschaut und bin begeistert. Very british und trotz der komödiantischen Schauspielkunst schmerzhaft realistisch! Derzeit habe ich vier Klientinnen in Psychotherapie, die genauso intelligent wie Beth sind und verblüffend ähnliche Schicksale erlitten haben. Eine Warnung möchte ich für alle sensiblen Menschen aussprechen. Die erste Staffel ist über weite Teile eher Komödie, die Tragödie deutet sich nur an und nimmt erst in der zweiten Staffel richtig Fahrt auf. In der Episode 3 der zweiten Staffel explodiert die unterschwellige Anspannung in einen Gewaltexzess. Dies zu schauen, war für mich schwer auszuhalten, weil ich morgens noch eine Klientin da hatte, die von ähnlich schlimmen Erlebnissen erzählt hatte. Und genauso wie Beth konnte sie als Heranwachsende nicht reden und hat keine angemessene Unterstützung erfahren.

In der Folge 4 der zweiten Staffel kommt es zu einem kleinen, zärtlichen Dialog zwischen Beth und der Freundin Cam, der die ausweglose Tragik von Beth unerträglich verdichtet:

Cam: Wer weiß noch davon?
Beth: Niemand. Nur Du.
Cam: Warum hast du nichts gesagt?
Beth: Keine Ahnung.
Cam: Nein, komm schon. Warum?
Beth: Weil ich mich schäme.

Falls Sie die schwarzhumorige, nervöse Unterschwelligkeit der ersten Serie und den gewalttätigen Spannungsbogen der zweiten Serie nicht ertragen, schauen Sie ausschließlich die letzte Folge. Sie ist so zartfühlend, so wundervoll, so rührend - nicht alles wendet sich zum Guten und das, was gut wird, ist schmerzhaft -, dass meine Frau und ich die ganze Zeit still geweint haben.

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wu wei

2025-10 | Weltanschauung

Wu wei - die Lebenskunst des Tao

Die Tage habe ich ein eintägiges Seminar für Eltern suchtkranker Kinder gegeben. Die Offenheit und der Mut der ausnahmslos Mütter haben mich nachdrücklich berührt. Eine Mutter aus der Gruppe war stark eingenommen von ihrer Tochter. Gemeinsam haben wir herausgearbeitet, dass sie einzig aus der falschen Hoffnung handelte und sich als Folge aufopferte, dass alles wieder gut, wie früher wird, als die Tochter noch ein Kind war, wenn sie nur heute aufhört, Suchtmittel zu missbrauchen. Wir haben die Frau ermutigt, von diesem Irrglauben loszulassen. Sie hat erst geweint, vor Angst und Trauer, dahinter tauchte alsdann sie als (verloren gegangene) Person auf: "Ich bin." Es war, als würde die Sonne aufgehen.

Der Mut der Frau, in ehrlichen Kontakt mit sich zu treten, hat mich an das Buch Wu wei - die Lebenskunst des Tao von Theo Fischer (1995) erinnert. Dieses hat mir vor einiger Zeit eine Klientin, erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie, zum Abschied aus der Therapie geschenkt. Die Kunst des wu wei bedeutet, nichts zu tun. Es ist eine aktive Haltung, sich selbst und der Welt offen, ungebunden und gegenwärtig zu begegnen. Der nachstehende Text aus dem Kapitel Die Kunst des Nichthandelns (S. 18 - 19) fand ich besonders relevant und hilfreich in Bezug auf die co-abhängigen Denk- und Verhaltensfallen wie die falsche Hoffnung:

Sie fühlen sich integriert in die Gesellschaft, und Ihre Anpassung an deren Ordnung und Spielregeln vermittelt Ihnen ein Gefühl von Geborgenheit. Sie finden Halt in Ihrer Partnerschaft, im Beruf, in Ihren alltäglichen, festgefahrenen Gewohnheiten. Alles dieses gewährt einen Anschein von Sicherheit, und diesen scheint der Mensch zu brauchen, ist er doch das einzige, was die Misere der hochgradigen inneren Unfreiheit der Menschheit ein wenig verzuckert.

Dabei ist diese Sicherheit trügerisch, sie ist relativ, in Wahrheit existiert sie nur als intellektuelle oder emotionale Vorstellung, es ist eine Beruhigungspille mit Dauerwirkung. Diese Dauerwirkung hält aber bestimmt nicht bis zum Tode an. Irgendwann wird jeder einmal gezwungen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der eine früher, der andere später. Denn eine gedankliche Konstruktion von Sicherheit ist keine, und wenn dann das Leben mit ernsthaften Herausforderungen an uns herantritt, das Sicherheitsgefüge rings um uns zerbricht, dann stehen wir nackt da, wie eine Muschel, die ihrer schützenden Schale beraubt ist. [...]

Aber oft macht er gerade dann eine bestürzende Erfahrung, die die meisten von uns nicht zu deuten wissen: Wenn Sie im Leben bereits einmal eine tiefgreifende Krise durchgemacht haben, die bis an die Fundamente Ihrer Existenz reichte, dann werden Sie sich erinnern, daß die Wendung zum Besseren just in jener Phase eintrat, da Sie sich, zu erschöpft zum Weiterkämpfen, total aufgeben hatten.

Wer sich der Lebenskunst des Tao zuwendet, sich dem intuitiven Handeln verschreibt und sich hineinfallen läßt in die Geborgenheit der eigenen inneren Autorität, wird das Leben und seinen Alltag mit anderen Augen ansehen. [...] Ja, es ist unerläßlich, daß Sie Ihre Motive, Ihr eigenes Streben, Ihren Wunsch, etwas zu werden, was Sie noch nicht sind, aufgeben. Sie müssen statt dessen lernen, nichts mehr zu tun, zu beobachten, aufmerksam zu sein. Dies ist die wahre Art intelligenten Handelns. «Es» handelt für Sie, besser als Ihr Verstand es jemals vermochte.

Und die nachstehenden Sätze aus dem Kapitel Unsere Gesellschaft und das verleugnete Selbst (S. 68 - 69) wirken zwar mittlerweile ein wenig abgedroschen, sprechen mir als humanistischem Psychotherapeuten nichtsdestotrotz aus dem Herzen:

Dieses Selbst, ist der eigentliche, wahre Mensch in uns, den wir verleugnen, weil wir ihn weder kennen noch etwas von seiner Existenz wahrnehmen können. Infolge dieser Verleugnung, die wir durch unsere Art zu denken und zu leben praktizieren, sind wir von unseren echten Gefühlen vollständig abgeschnitten, denn diese existieren einzig in diesem Selbst. [..] Sobald wir aufhören, über Gefühle nachzudenken, und wir versuchen, sie unmittelbar zu empfinden, sie zu beobachten, ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken, werden wir ihre Existenz wahrnehmen. [...]

Die meisten Menschen fürchten sich vor ihren Gefühlen. [...] Aber um frei zu werden, führt kein Weg an unseren Gefühlen vorbei, mögen sie zu Anfang noch so schmerzhaft und unerträglich erscheinen. Sobald Sie sich dafür entschieden haben, alles, was an Gefühlen in Ihnen existiert, hochkommen zu lassen, es intensiv anzuschauen, diese Gefühle zu durchleben, erwächst Ihnen daraus eine kolossale Kraft, von deren Vorhandensein Sie bisher keine Ahnung hatten. Und in diesem Wechselspiel von erlebten, akzeptierten Gefühlen und erwachsener Kraft gewinnen Sie Bezug zu Ihrem Selbst, finden zurück zu Ihrem ursprünglichen Wesen, ...

Folgend einige Hinweise zum Gebrauch und zum konzeptionellen Hintergrund dieser Website:

Schmökern

Diese Website ist zum Schmökern gedacht. Sie ist gefüllt mit Informationen, die sich an verschiedene Gruppen richten: Kinder aus Suchtfamilien, PartnerInnen, Eltern, andere Angehörige, Freunde, Kollegen, Suchtbetroffene, Fachleute, Journalisten und alle anderen, die sich informieren wollen. Die Inhalte bilden das Spektrum von trockenen Fachkonzepten bis hin zu kreativen Medien ab. Um Ihnen die Orientierung zu erleichtern, gibt es erstens ein Sidemap, welches Sie auf jeder Seite unten links im Footer aufrufen können. Zweitens finden Sie unten auf den Seiten die Rubrik Obendrein mit Vorschlägen für inhaltlich ähnliche, weiterführende Seiten.

» Sidemap

Eine Angehörigenproblematik

Verschiedene Gruppen sind als Angehörige von Sucht betroffen: Kinder, erwachsene Kinder, Partner, Eltern, Geschwister, Freunde, Arbeitskollegen, Suchthelfer etc. Die Betroffenheit hat zwar viele individuelle Gesichter, doch es gibt meines Erachtens nur eine Angehörigenproblematik. Das möchte ich Ihnen anhand von zwei Argumenten erläutern.

Erstens überschneiden sich die Betroffenengruppen erheblich. Dies liegt an der co-abhängigen Transmission (» mehr). Mädchen - seltener Jungen - aus Suchtfamilien, suchen sich als Erwachsene überdurchschnittlich häufig suchtkranke Partner. Aus diesen (co-)abhängigen Partnerschaften gehen wiederum süchtig und co-abhängig gefährdete Kinder hervor. Geschätzt die Hälfte der Partnerinnen und Mütter und auch, doch seltener Partner und Väter, die ich in über 20 Jahren Angehörigenarbeit behandelt habe, ist biografisch schon durch eine Kindheit in einer Suchtfamilie vorbelastet gewesen.

Zweitens sind alle Personen, die in einem engen, langfristigen Kontakt mit Suchtkranken stehen, denselben Belastungen ausgesetzt: Das berauschte und entzügige Verhalten der Suchtkranken ist selbstsüchtig, verantwortungslos und unzuverlässig. Als Reaktion darauf entwickeln die Angehörigen komplementäre Muster der Selbstlosigkeit, Verantwortungsübernahme und Verlässlichkeit, um die Defizite der Suchtkranken auszugleichen. Auch wenn Kinder zweifelsohne aufgrund ihrer ungefestigten Persönlichkeit besonders vulnerabel sind, sind die psychosozialen Leiden und Folgeprobleme der unterschiedlichen Angehörigengruppen im Prinzip dieselben.

Aus den beiden genannten Gründen wird die Angehörigenproblematik auf dieser Website ganzheitlich betrachtet und behandelt.

Suchthelfer sind Angehörige

Bevor ich mich ambulant als Psychotherapeut niedergelassen habe, habe ich lange als Suchttherapeut gearbeitet. Damals habe ich nach und nach begriffen, dass die Themen und Probleme der Angehörigen ähnlich den beruflichen Herausforderungen der Suchthilfe sind. Auch Suchthelfer können sich in selbst aufopfernden und Verantwortung schulternden Mustern verlieren. Wie Dachdecker vom Dach fallen können, können sich Suchthelfer verstricken. Es ist ihr Berufsrisiko.

Die therapeutische Arbeit mit Angehörigen ist Psychohygiene für Suchthelfer. Indem ich Angehörigen geholfen habe, klarer zu werden und sich besser abzugrenzen, habe ich implizit gelernt, mich gegenüber der suchtkranken Klientel konsequenter zu verhalten. Es hat mir geholfen, sowohl die Sorge für die süchtige Klientel als auch die Selbstfürsorge im Berufsalltag besser auszubalancieren, um nicht auszubrennen und hart und negativ zu werden. Zynismus ist eine häufig zu findende Form der psychischen Beschädigung von Suchthelfern und Angehörigen.

Der Begriff Angehörige wird auf dieser Website als eine Kategorie verwendet, unter die auch Suchthelfer fallen. Alle Inhalte richten sich gleichermaßen an familiär und beruflich Betroffene.

Angehörige von psychisch kranken Personen

Alle Angehörigen von psychisch kranken Personen sind belastet. Warum beschränkt sich diese Website auf das Angehörigenthema der Sucht?

Abhängigkeitserkankungen sind auch psychische Störungen, doch sie unterscheiden sich in einem Aspekt von den meisten anderen psychischen Störungen. Der Suchtmittelmissbrauch ist der Versuch, eine primäre psychische Erkrankung zu bewältigen. Durch den Rausch werden die psychischen Leiden betäubt. Kurzfristig sorgt dies zwar für Erleichterung, doch langfristig verschlimmert sich derart die primäre Problematik und schafft zudem zerstörerische Folgeprobleme. In der Problemverleugnung, den süchtigen Manipulationen, Beschämungen und Beschuldigungen und den rausch- und entzugsbedingten Übergriffigkeiten entwickeln Suchterkrankungen zerstörerische Auswirkungen auf das soziale Umfeld.

Diese schädigenden sozialen Effekte sind bei anderen psychischen Störungen in der Stärke und dem Ausmaß nur selten zu finden. Bitte missverstehen Sie mein Argument nicht, es beschreibt nur eine Tendenz. Ihre konkrete, individuelle Situation kann nämlich ganz anders aussehen, z.B. können Angehörige von Personen mit Impulskontrollstörungen ebenfalls Übergriffigkeiten erfahren. Übrigens gehen solche aggressiven Störungen häufig mit Suchtmittelmissbrauch einher. Nichtsdestotrotz ist - im Gegensatz zur süchtigen Uueinsichtigkeit - den meisten psychisch erkrankten Personen sehr wohl bewusst, dass sie krank sind, und sie tun alles, damit andere nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Diese Website muss inhaltlich begrenzt werden, damit sie nicht ausufert und beliebig wird. Diese Entscheidung hat Vorteile, sie hat aber auch Nachteile. Die Problematik von Angehörigen psychisch kranker Personen wird auf CO-ABHAENIGIG.de implizit berücksichtigt. Sind Sie als Angehörige in diesem Sinne betroffen, sind Sie eingeladen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkunden.

Illustrationen

Die Illustrationen von Prinzessin & Frosch, welche diese Website schmücken, sind von Sina Gruber, eine junge Künstlerin und damals Studentin der Psychologie aus Kassel. Die 23 Werke entstanden 2013 auf Grundlage des Manuskriptentwurfs zum Ratgeber "Ich will mein Leben zurück!"

Anliegen

Co-ABHAENGIG.de habe ich 2010 eingerichtet, als mein erstes Fachbuch zum Thema herauskam. Damals hat es im deutschsprachigen Raum kaum informative Internetrepräsentationen zum Thema gegeben. Seitdem sind zwei weitere Fachbücher entstanden, ich habe eine Reihe an Artikeln verfasst, unzählige Vorträge gehalten, Interviews gegeben und Workshops und Fortbildungen zum Thema durchgeführt. Darüber hatte ich viele bereichernde Begegnungen zu Betroffenen wie auch zu anderen, in der Sache engagierten Fachleuten. Es sind kleinere und größere, kurz- und langfristige Kooperationen zustande gekommen. Vor allem aber habe ich von meinen Klienten gelernt. Ihre Erfahrungen sind für mich Geschenke. Ich bin dankbar, dass ich an ihren Entwicklungen, sich zu befreien und ihr Leben zurückzuerobern, teilhaben darf.

So ist aus dem in der Freizeit gepflegten Steckenpferd mein heutiger Arbeitsschwerpunkt geworden. Mit diesem Prozess ist auch die Website peu à peu gewachsen. Motiviert durch die Kooperation mit der Kollegin und Mitautorin, Judith Barth, habe ich mit dem Jahreswechsel 2020/21 alle Inhalte gründlich überarbeitet, Design und Navigation erneuert und jede Menge neue Seiten hinzugefügt. Das Motiv für mein Engagement hat sich in all den Jahren nicht verändert: Ich möchte über eine tabuisierte Thematik aufklären und zum kritischen Nachsinnen und konkreten Handeln anregen. Darüber hinaus gestalte ich die Website eigenständig und unabhängig und verfolge damit keine wirtschaftlichen, institutionellen oder sonstigen Interessen.

meditierende prinzessin