Süchtige verleugnen ihre Sucht, Angehörige sich selbst.

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Impulse

Auf dieser Seite von Co-ABHAENGIG.de werden Ihnen als Angehörige eines Suchtkranken kleine Impulse gegeben. Diese richten sich ebenfalls an psychotherapeutische KollegInnen und MitarbeiterInnen der Suchthilfe. Den Essays sollen meine persönlichen Erfahrungen in dem Engagement für Angehörige zugrunde liegen. Mithilfe psychologischer, philosophischer und soziologischer Reflexionen möchte ich Sie zum Nachsinnen über die eigene Situation, zum Bilden eigener Haltungen und Standpunkte anregen, Sie darüber in Unabhängigkeit und Eigensinn stärken und Sie ermutigen, dem Suchtproblem aktiv handelnd sowie selbst- und lebensbejahend zu begegnen.

2024-10 | ZEITmagazin | Martenstein

Verleugnung des Sichtbaren

In einer Kolumne von Harald Martenstein im ZEITmagazin, Nr. 43 vom 10.10.2024, wird das Thema Sucht in einer Nebenrolle erwähnt. Der Kolumnist beschreibt ein Phänomen, welches schon so alt ist, wie es Menschen gibt, nämlich dass eine für jeden sichtbare Angelegenheit verleugnet wird. Er macht es an dem Politiker Cem Özdemir und dem ehemaligen Nachrichtensprecher Ulrich Wickert fest, die öffentlich über sexistische Entgleisungen von jungen Männern mit Migrationshintergrund gesprochen haben und daraufhin von anderen Personen des öffentlichen Lebens der Lüge bezichtigt wurden. Neben der von Martenstein beschriebenen Realitätsverleugnung hat die psychosoziale Abwehr eine zweite Seite, nämlich die Invalidierung. Die Erfahrungen, das Fühlen und Denken einer Person wird für ungültig erklärt, um die Person mundtot zu machen. Die Verleugnung dient der intrapsychischen Abwehr, die Invalidierung der interpsychischen Abwehr.

Wenn es nicht pietätlos wäre, könnten wir Martensteins Einschätzung sokratisch disputieren, ob die Folgen der Leugnung von Sucht "ein paar Nummern kleiner" seien. Der Disput ist eh müßig, denn Gewalt durch Männer (mit und ohne Migrationshintergrund) an Frauen ist allzu häufig durch übermäßigen Suchtmittelkonsum enthemmt. In der Kürze einer Kolumne, das wollen wir ihm auch zugutehalten, können nicht alle Zusammenhänge bis ins Detail beleuchtet werden.

Suchtkranke verleugnen ihre Sucht; die Kombination aus Uneinsichtigkeit und Tabuisierung ist vielleicht das Hauptsymptom der Sucht. Angehörige werden rund um die Uhr durch den Suchtkranken und co-abhängig verstrickte Personen invalidiert. KlientInnen berichten mir häufig in der Therapie davon, wie sie in ihren Wahrnehmungen, Meinungen und ihrer Not von anderen schön- und kleingeredet werden. Aber auch die KlientInnen selber können und wollen die Tragweite der Sucht oftmals nicht erkennen, wenn sie sich z.B. über süchtige Verhaltenszwänge aufregen. Sie legen den falschen Maßstab an und übersehen, dass der Suchtkranke symptomatisch keine Wahl hat. Obendrein invalidieren sie das eigene Erleben, z.B. indem sie ihre Wut und Trauer unterdrücken. Im Extremfall kippen KlientInnen in der Therapie und leugnen von einer Stunde zur nächsten das Offensichtliche: "Er hat mir versprochen, aufzuhören. Alles wird jetzt gut werden. Wir lieben uns so sehr" und brechen die Therapie ab.

Auf dieselben verzerrenden und verleugnenden Muster treffe ich, wenn ich mich in der Sache öffentlich engagiere, also Vorträge halte, Interviews gebe oder Fortbildungen durchführe. "Auf der Bühne" habe ich schon alle Spielarten der Abwehr erlebt: Lügen, Ignoranz, Beschuldigungen, Abwertungen bis hin zu sogar Gewaltandrohungen. Meine Reaktionen darauf werden sich nicht groß von Ihren Reaktionen als Angehörige unterscheiden: Unmittelbar kränkt mich die Invalidierung meiner Erfahrungen und die Verleugnung von selbst wissenschaftlichen Befunden. Es macht mich zornig, wenn der "Elch im Wohnzimmer" nicht benannt werden darf (» mehr). Der Elch im Wohnzimmer ist - ähnlich wie der dunkle Lord, dessen Name nicht gesagt werden darf, bei Harry Potter - eine Metapher für die Tabuisierung menschlichen Erlebens in Suchtfamilien.

Wenn mein Zorn verraucht, werde ich stets hilflos, traurig und erschöpft. Ein wenig verzweifelt hinterfrage ich manchmal meinen Einsatz. Die Antwort ist stets dieselbe und ernüchternd: Aufgeben ist - in diesem Fall - keine Option. Die co-abhängige Selbstverleugnung und die süchtige Realitätsverleugnung sind der gleichermaßen brutale wie auch tragikomische Versuch, die Lebens- und Todesangst zu überwinden. Diese Kontrolle nimmt das Leben in den Würgegriff, was Paulo Coehlo de Souza ironisiert hat: "Wenn Du denkst, das Abenteuer sei gefährlich, versuche die Routine. Sie ist tödlich." (Co-)Abhängige Routine ist die totale Kontrolle, sie erstickt das Leben.

Es geht darum, frei atmen zu können und selbstbestimmt zu leben. Die Freiheit, sich der Vielschichtigkeit der Realität immer wieder aufs Neue zu stellen und das Abenteuer Leben zu wagen, ist gefährlich und beängstigend. Die Selbstannahme, Angst haben zu dürfen, schafft Einzigartigkeit, Unabhängigkeit und Würde. Meine fortwährenden Zweifel, mich selbst, andere und das Leben zu hinterfragen, erfahre ich als die Grundlage meiner Lebendigkeit und Leidenschaft. Diese zweifelnde Erfahrungsoffenheit ist das große, humanistische Lebensthema von Martenstein, dessen wöchentliche Kolumne ich seit langem schätze.

Aus der liebevollen Versorgung meiner Kränkungen, die ich durch das Engagement in der Angehörigensache erfahren muss, ziehe ich übrigens Trost, Orientierung, Lebenskraft und -mut. Wenn die Wunden geleckt sind und der Schmerz beweint ist, fühle ich mich bereichert, es befreit kreative Energien in mir, z.B. den Impuls dieser Website eine neue Seite zu schenken. Um die Bildsprache von Martin Fengel in der Kolumne aufzugreifen: Wachstum benötigt Sonne und Regen. - Probieren Sie es aus und gehen Sie im Regen spazieren!

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2024-07 | Philosophie | Impuls

Besinnliche Sommerpause

Das Frühjahr war schon ereignisreich, die zweite Jahreshälfte verspricht, noch aufregender zu werden. Einige spannende Veranstaltungen in der Sache der Angehörigen sind für Spätsommer und Herbst schon in trockenen Tüchern, andere sind noch in der Entwicklung. Ich werde beizeiten berichten. Doch jetzt macht Co-Abhaengig.de erst einmal eine Sommerpause, um tief durchzuatmen, sich zu besinnen und neue Ideen zu entwickeln.

Meine Lektüre für den Urlaub liegt schon bereit: "In einem anderen Leben" von Linus Reichlin, "Kinderwhore" von Maria Kjos Fonn und "Der kluge Säufer" von Franziska Steinrauch. Alle Bücher wurden mir von Kolleginnen zum Thema Kinder aus Suchtfamilien wärmstens empfohlen.

Einen philosophischen, therapeutischen Impuls möchte ich Ihnen zur Sommerpause geben. Diesen habe ich von einem erwachsenen Kind aus einer Suchtfamilie, als wir darüber korrespondiert haben, wie befreiend und befriedigend - im Sinne von inneren Frieden finden - es ist, sich dem Leben und anderen Menschen zu öffnen, zu sich zu stehen, zu leben und zu wachsen. Es ist ein Zitat aus der Festrede: "Wie wäre es, gebildet zu sein?", des Schweizer Philosophen Peter Bieri (2005):

Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draussen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, dass Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann. Ich erfahre, was es heisst, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu werden.

Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, dass ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über blosse Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen eine selbstbestimmte und friedliche Sommerzeit.

Nachtrag: Die Bücher von Kjos Fonn und Steinrauch habe ich mittlerweile rezensiert, siehe in der Rubrik Romane auf der Seite Medien. Beide Bücher haben mir sehr gut gefallen. Das Buch von Reichlin habe ich aus meiner Empfehlungsliste entfernt, weil es eine widerliche, uneinsichtige, süchtige Geschichte wiedergibt.