Süchtige verleugnen ihre Sucht, Angehörige sich selbst.

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Impulse

Auf dieser Seite von Co-ABHAENGIG.de werden Ihnen als Angehörige eines Suchtkranken kleine Impulse gegeben. Den Essays sollen meine persönlichen Erfahrungen in dem Engagement für Angehörige zugrunde liegen. Mithilfe psychologischer, philosophischer und soziologischer Reflexionen möchte ich Sie zum Nachsinnen über die eigene Situation, zum Bilden eigener Haltungen und Standpunkte anregen, Sie darüber in Unabhängigkeit und Eigensinn stärken und Sie ermutigen, dem Suchtproblem aktiv handelnd sowie selbst- und lebensbejahend zu begegnen.

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2024-12 | Weiße Weihnacht

Von Angst, Trauer, Wut und Mut zur Weihnachtszeit

Ich habe mir vorgenommen, einen adventlichen Impuls über Weihnachten, Todesangst, Wut und Mut zu schreiben. Aber lassen Sie uns genau dort anfangen, wo Weihnachten, Todesangst, Wut und Mut nicht ist, nämlich in der Innenstadt, konkret auf dem Weihnachtsmarkt, ganz konkret auf dem Weihnachtsmarkt des zentralen Bielefelder Platzes.

Der Jahnplatz wurde vor einigen Jahren neu gestaltet und bietet seitdem Menschen viel Platz für Begegnung. Das ist schön. Zur Weihnachtszeit wird dort allerdings ein monströser, phallischer Glühweintempel aufgestellt mit einer Unzahl an Fressbuden drumherum, sodass kein Platz mehr ist. Der Weihnachtsmarkt wurde in Wintermarkt umbenannt, um schon im Novemberregen beginnen zu können und erst im Januarregen aufhören zu müssen. Heute Morgen habe ich mit einem gläubigen Christen gesprochen, der unter anderem den "sinnlosen Konsum" und "Kapitalismus" kritisierte, was mir aus dem Herzen sprach. Der heutige Weihnachtsmarkt hat so viel mit Weihnachten, der heiligen Geschichte und festlicher Besinnung zu tun, wie Suchtmittelkonsum mit Bewusstseinserweiterung.

Der Weihnachtsrummel könnte auf das Motto verkürzt werden: "Kauf, sauf und fress dich glücklich!" Es ist das pervertierte Gegenteil von dem, was die Weihnachtsgeschichte erzählt. Ohne religiös werden zu wollen, ist die Symbolik der Geschichte von Jesus Geburt eine ängstliche, traurige und wütende. Es wird eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit beschrieben, wie eine arme, junge Frau Wehen hat und dennoch abgewiesen wird. Sie gebiert ein Kind unter schrecklichen Bedingungen, in einem dreckigen, nassen und kalten Stall voller Ungeziefer. Schmerzhafte Flohbisse dürften einer der ersten eindrücklichen Erfahrungen des Kindes von dieser Welt gewesen sein. - Daran muss ich immer denken, wenn der adrett ausstaffierte Pastor in der sauberen und beheizten Kirche ruft, dass sich die ebenso in Schale geworfene Gemeinde freuen soll, weil uns angeblich ein Kind geboren wurde und wir "O du fröhliche" oder "Stille Nacht" singen. - Autsch, Flohbiss!

Das Ende der Geschichte - bei lebendigen Leib an ein Kreuz genagelt werden - ist noch übler. Da ich - anders als einige meiner KlientInnen - nie schlimme Misshandlungen erfahren habe, habe ich keinerlei Vorstellung davon. Aber Todesangst kenne ich sehr wohl. Jede Lebensangst ist auf die grundlegende Todesangst zurückzuführen. Wir Menschen tun eine Menge dafür, Angst zu bannen. Sich z.B. durch den Konsum von Musik, Smartphone, Alkohol oder Kaufen abzulenken und gut draufzubringen, ist eine beliebte Abwehrleistung, unsere Sterblichkeit zu verdrängen. Neulich habe ich ein Theaterstück über Geburt und Sterben gesehen, also über denselben Themenkomplex wie in der Weihnachts- und Ostergeschichte. In einer Szene tanzte eine junge Frau ihre Wut darüber, dass die Gesellschaft sie in ihrem Gefühlserleben in ein Korsett zwingt. Sie tanzte korsettsprengend, wild und mutig und schrie dabei ihre Gefühle in den Raum. Das war beeindruckend und berührend.

Eins der schönsten Bücher aller Zeiten ist für mich Momo von Michael Ende (1973). Es ist ein philosophisches Buch über die Dichotomie von Vermeidung und Lebendigkeit. Die grauen Herren stehen für die Hektik und Kälte des Konsums. Sie rauchen Zigaretten und nähren sich von der den Menschen gestohlenen Lebenszeit. Das Mädchen Momo mit den wuscheligen Haaren und der Straßenkehrer Beppo sind der Gegenentwurf. Leben bedeutet für sie, die Zeit zu nutzen, zu atmen, zu spielen und sich gegenseitig zu begegnen. Die grauen Herren sind genormt und sehen alle gleich geleckt aus und sie normieren die Menschen, indem sie sie zum Zeitsparen anpeitschen. Momo und ihre Freunde sind alle eigensinnig und einzigartig und darin liebenswert. Momos entwaffnende Qualitäten sind Mitgefühl und Menschlichkeit.

Die bewusste Angst, also die Vergegenwärtigung unserer Sterblichkeit, macht klug. Wir haben eine kurze Spanne, die Dinge zu tun, die wir tun wollen, bevor der Tod uns ereilt. Wenn wir die Dinge tun, die wir tun wollen, können wir besser loslassen und das Zeitliche segnen. Wenn wir unsere Frist nicht genutzt haben, z.B. weil wir uns ständig äußeren Normen anpassen, dann ist Sterben fürchterlich und bitter, weil wir unbewusst wissen, nicht getan zu haben, was wir wollten. Gemäß dem großen österreichischen Analytiker Viktor Frankl ("... trotzdem Ja zum Leben sagen", 1946) geht es darum, trotz der Todesangst dem Abenteuer Leben Ja zu sagen. Dafür brauchen wir Mut, um uns zu trauen. Dieser Mut wird auch Selbstvertrauen genannt, psychologisch wird das Vertrauen nach meiner Erfahrung durch eine Kombination aus Angst und Wut gespeist.

Viele Menschen, vor allem wenn sie aus Suchtfamilien stammen oder andere Traumata erfahren haben, beurteilen Wut als eine destruktive Emotion. Das ist ein Irrtum. Die süchtige und entzügige Tobsucht und der Machtmissbrauch, worunter sie gelitten haben, ist keine Wut, es ist eine aggressive Angstabwehr. Die echte Wut ist konstruktiv. Sie ist die handlungsleitende Emotion, die wir erleben, wenn wir etwas wollen, wirklich von Herzen wollen. Wut ist der Mut, unsere Angst an die Hand zu nehmen und uns zu trauen. Die Wut motiviert uns und die Angst passt auf uns auf, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen.

weiße weihnacht Zurück zum Thema Weihnachten! Es ist viele Jahre her, dass ich den Mut hatte, erstmalig weiße Weihnacht zu feiern. Es ist eine Kampagne, aus Solidarität mit den Kindern aus Suchtfamilien für die Feiertage auf Alkohol zu verzichten. Meine Frau meinte damals, dass es sich nicht lohnt, weil wir eh wenig trinken. Doch es hat sich schon beim ersten Mal so gut angefühlt, dass ich auch gleich zu Silvester mit Punsch angestoßen habe. Mittlerweile habe ich auch Hochzeiten und andere Feiern alkoholfrei erlebt und meine Frau und andere machen oft und gerne mit. Lachen, weinen, spielen, singen oder tanzen ist ohne Promille viel intensiver und schöner.

Probieren Sie es aus! Eine besinnliche, ängstliche, traurige, wütende und nüchterne Advents- und Festzeit und weiße Weihnacht wünsche ich Ihnen. Und kommen Sie gut im neuen Jahr an, möglichst ohne sich etwas vorzunehmen, außer vielleicht, mehr Momo zu wagen und Ihre sehnsüchtigen Wünsche mutig zu leben. Wie dies geht, können Sie gerne bei Michael Ende und Viktor Frankl nachlesen.

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2024-10 | ZEITmagazin | Martenstein

Verleugnung des Sichtbaren

In einer Kolumne von Harald Martenstein im ZEITmagazin, Nr. 43 vom 10.10.2024, wird das Thema Sucht in einer Nebenrolle erwähnt. Der Kolumnist beschreibt ein Phänomen, welches schon so alt ist, wie es Menschen gibt, nämlich dass eine für jeden sichtbare Angelegenheit verleugnet wird. Er macht es an dem Politiker Cem Özdemir und dem ehemaligen Nachrichtensprecher Ulrich Wickert fest, die öffentlich über sexistische Entgleisungen von jungen Männern mit Migrationshintergrund gesprochen haben und daraufhin von anderen Personen des öffentlichen Lebens der Lüge bezichtigt wurden. Neben der von Martenstein beschriebenen Realitätsverleugnung hat die psychosoziale Abwehr eine zweite Seite, nämlich die Invalidierung. Die Erfahrungen, das Fühlen und Denken einer Person wird für ungültig erklärt, um die Person mundtot zu machen. Die Verleugnung dient der intrapsychischen Abwehr, die Invalidierung der interpsychischen Abwehr.

Wenn es nicht pietätlos wäre, könnten wir Martensteins Einschätzung sokratisch disputieren, ob die Folgen der Leugnung von Sucht "ein paar Nummern kleiner" seien. Der Disput ist eh müßig, denn Gewalt durch Männer (mit und ohne Migrationshintergrund) an Frauen ist allzu häufig durch übermäßigen Suchtmittelkonsum enthemmt. In der Kürze einer Kolumne, das wollen wir ihm auch zugutehalten, können nicht alle Zusammenhänge bis ins Detail beleuchtet werden.

Suchtkranke verleugnen ihre Sucht; die Kombination aus Uneinsichtigkeit und Tabuisierung ist vielleicht das Hauptsymptom der Sucht. Angehörige werden rund um die Uhr durch den Suchtkranken und co-abhängig verstrickte Personen invalidiert. KlientInnen berichten mir häufig in der Therapie davon, wie sie in ihren Wahrnehmungen, Meinungen und ihrer Not von anderen schön- und kleingeredet werden. Aber auch die KlientInnen selber können und wollen die Tragweite der Sucht oftmals nicht erkennen, wenn sie sich z.B. über süchtige Verhaltenszwänge aufregen. Sie legen den falschen Maßstab an und übersehen, dass der Suchtkranke symptomatisch keine Wahl hat. Obendrein invalidieren sie das eigene Erleben, z.B. indem sie ihre Wut und Trauer unterdrücken. Im Extremfall kippen KlientInnen in der Therapie und leugnen von einer Stunde zur nächsten das Offensichtliche: "Er hat mir versprochen, aufzuhören. Alles wird jetzt gut werden. Wir lieben uns so sehr" und brechen die Therapie ab.

Auf dieselben verzerrenden und verleugnenden Muster treffe ich, wenn ich mich in der Sache öffentlich engagiere, also Vorträge halte, Interviews gebe oder Fortbildungen durchführe. "Auf der Bühne" habe ich schon alle Spielarten der Abwehr erlebt: Lügen, Ignoranz, Beschuldigungen, Abwertungen bis hin zu sogar Gewaltandrohungen. Meine Reaktionen darauf werden sich nicht groß von Ihren Reaktionen als Angehörige unterscheiden: Unmittelbar kränkt mich die Invalidierung meiner Erfahrungen und die Verleugnung von selbst wissenschaftlichen Befunden. Es macht mich zornig, wenn der "Elch im Wohnzimmer" nicht benannt werden darf (» mehr). Der Elch im Wohnzimmer ist - ähnlich wie der dunkle Lord, dessen Name nicht gesagt werden darf, bei Harry Potter - eine Metapher für die Tabuisierung menschlichen Erlebens in Suchtfamilien.

Wenn mein Zorn verraucht, werde ich stets hilflos, traurig und erschöpft. Ein wenig verzweifelt hinterfrage ich manchmal meinen Einsatz. Die Antwort ist stets dieselbe und ernüchternd: Aufgeben ist in diesem Fall keine Option. Die co-abhängige Selbstverleugnung und die süchtige Realitätsverleugnung sind der gleichermaßen brutale wie auch tragikomische Versuch, die Lebens- und Todesangst zu überwinden. Diese Kontrolle nimmt das Leben in den Würgegriff, was Paulo Coehlo de Souza ironisiert hat: "Wenn Du denkst, das Abenteuer sei gefährlich, versuche die Routine. Sie ist tödlich." (Co-)Abhängige Routine ist die totale Kontrolle, sie erstickt das Leben.

Es geht darum, frei atmen zu können und selbstbestimmt zu leben. Die Freiheit, sich der Vielschichtigkeit der Realität immer wieder aufs Neue zu stellen und das Abenteuer Leben zu wagen, ist gefährlich und beängstigend. Die Selbstannahme, Angst haben zu dürfen, schafft Einzigartigkeit, Unabhängigkeit und Würde. Meine fortwährenden Zweifel, mich selbst, andere und das Leben zu hinterfragen, erfahre ich als die Grundlage meiner Lebendigkeit und Leidenschaft. Diese zweifelnde Erfahrungsoffenheit ist das große, humanistische Lebensthema von Martenstein, dessen wöchentliche Kolumne ich seit langem schätze.

Aus der liebevollen Versorgung meiner Kränkungen, die ich durch das Engagement in der Angehörigensache erfahren muss, ziehe ich übrigens Trost, Orientierung, Lebenskraft und -mut. Wenn die Wunden geleckt sind und der Schmerz beweint ist, fühle ich mich bereichert, es befreit kreative Energien in mir, z.B. den Impuls dieser Website eine neue Seite zu schenken. Um die Bildsprache von Martin Fengel in der Kolumne aufzugreifen: Wachstum benötigt Sonne und Regen. - Probieren Sie es aus und gehen Sie im Regen spazieren!

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2024-07 | Philosophie | Impuls

Besinnliche Sommerpause

Das Frühjahr war schon ereignisreich, die zweite Jahreshälfte verspricht, noch aufregender zu werden. Einige spannende Veranstaltungen in der Sache der Angehörigen sind für Spätsommer und Herbst schon in trockenen Tüchern, andere sind noch in der Entwicklung. Ich werde beizeiten berichten. Doch jetzt macht Co-Abhaengig.de erst einmal eine Sommerpause, um tief durchzuatmen, sich zu besinnen und neue Ideen zu entwickeln.

Meine Lektüre für den Urlaub liegt schon bereit: "In einem anderen Leben" von Linus Reichlin, "Kinderwhore" von Maria Kjos Fonn und "Der kluge Säufer" von Franziska Steinrauch. Alle Bücher wurden mir von Kolleginnen zum Thema Kinder aus Suchtfamilien wärmstens empfohlen.

Einen philosophischen, therapeutischen Impuls möchte ich Ihnen zur Sommerpause geben. Diesen habe ich von einem erwachsenen Kind aus einer Suchtfamilie, als wir darüber korrespondiert haben, wie befreiend und befriedigend - im Sinne von inneren Frieden finden - es ist, sich dem Leben und anderen Menschen zu öffnen, zu sich zu stehen, zu leben und zu wachsen. Es ist ein Zitat aus der Festrede: "Wie wäre es, gebildet zu sein?", des Schweizer Philosophen Peter Bieri (2005):

Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draussen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, dass Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann. Ich erfahre, was es heisst, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu werden.

Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, dass ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über blosse Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen eine selbstbestimmte und friedliche Sommerzeit.

Nachtrag: Die Bücher von Kjos Fonn und Steinrauch habe ich mittlerweile rezensiert, siehe in der Rubrik Romane auf der Seite Medien. Beide Bücher haben mir sehr gut gefallen. Das Buch von Reichlin habe ich aus meiner Empfehlungsliste entfernt, weil es eine widerliche, uneinsichtige, süchtige Geschichte wiedergibt.