Selbsthilfe ist die beste Hilfe.

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Selbsthilfe

Von beinah Anbeginn der Suchtselbsthilfe gab es auch spezielle Selbsthilfegruppen für Angehörige. Im Jahr 1951 soll die erste Al-Anon-Gruppe - so heißt das Angehörigenpendant der Anonymen Alkoholiker - gegründet worden sein (» Al-Anon auf Wikipedia). Allerdings sind Selbsthilfegruppen für Angehörige bis heute eher selten und es mangelt an fachlich, wissenschaftlich fundierten Konzepten (» Methoden).

Nachstehend möchte ich Ihnen mein angehörigenzentriertes Leben-zurück-Konzept skizzieren. Dieses basiert auf personenzentrierter, systemischer und verhaltenstherapeutischer Methodik. Es wird in dem Ratgeber "Ich will mein Leben zurück!" näher inhaltlich dargestellt (Flassbeck, 2023, 5. Auf.) und ist in das wissenschaftliche AnNet-Projekt der Universität Hildesheim (2017) eingegangen. Neben einem illustrierenden Fallbeispiel werden Ihnen drei Rahmenbedingungen, eine Gruppenregel, ein Fallbeispiel und vier Leitlinien für eine angehörigenzentrierte Selbsthilfe vorgestellt.

Durch die Kooperation von Günter Philipps, Vorsitzender der Suchtselbsthilfe in Gütersloh, und mir erschien 09/2019 in der Selbsthilfezeitschrift der Freundeskreise ein Artikel über Selbsthilfe für Angehörige: » Artikel

Zielgruppe: Die Hauptbetroffenengruppen für eine Angehörigenselbsthilfe sind erwachsene Kinder, Partner und Eltern. Auch Geschwister, andere Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen oder Suchthelfer können sich so verstricken, dass sie Hilfe benötigen. Die Betroffenengruppen können gemischt werden, weil zwischen ihnen eine große Schnittmenge besteht und alle dieselben Probleme haben. Ein zusätzlicher Hinweis: Eine Angehörigengruppe abhängig vom Suchtmittel des Suchtkranken, wie es leider immer wieder in der Suchthilfe zu finden ist, z.B. ausschließlich für Angehörigen von Spielern, ist sinnlos. Die Probleme der Angehörigen sind losgelöst vom Suchtmittel des Suchtkranken.

Hauptziel: Das übergeordnete Ziel der Selbsthilfe von Angehörigen lautet Unabhängigkeit. Dies bedeutet, dass die Betroffenen durch die Hilfe zur Selbsthilfe in die Lage gebracht werden, wieder ihr Leben in die Hand zu nehmen und ihre Wünsche, Interessen und Werte zufriedenstellend zu verwirklichen, und zwar möglichst unabhängig davon, ob der Suchtkranke konsumiert oder aufhört, und auch unabhängig davon, inwieweit sich die Angehörigen abgrenzen oder bereit sind, dem Suchtkranken zu helfen.

Rahmen: Selbsthilfegruppen für Angehörige sollten exklusiv sein. Eine gemeinsame Gruppe mit Suchtkranken ist aus zwei Gründen abzulehnen. Erstens kommen Angehörige in solchen Gruppen erfahrungsgemäß zu kurz, weil sich gewöhnlich alles um die Suchtkranken und ihre Themen von Sucht und Abstinenz dreht. Angehörige brauchen einen Freiraum, um die eigenen Probleme und Themen zu erkennen, zu erkunden und zu verstehen. Zweitens sind Angehörige allzu häufig Opfer von Übergriffigkeiten der Suchtkranken. Die Selbsthilfegruppe ist auch ein Schutzraum, was in der ersten Leitlinie näher erläutert wird.

In dem kleinen Fallbeispiel von Frau H. werden alle vier Leitlinien, die Ihnen nachstehend vorgestellt werden, vorbildhaft verwirklicht. Bemerkenswert ist, wie selbstbewusst und zielstrebig Frau H. die eigenen Interessen in der Gruppe vertritt.

Frau H. nutzt die Gruppe für sich

Frau H. ist 30 Jahre alt, Mutter und Hausfrau und verheiratet mit einem Exuser. Sie besucht seit zwei Jahren eine Angehörigengruppe. Als sie neu in die Gruppe kam, kurz nach der Geburt des zweiten Kindes, war sie überfordert, erschöpft und sehr depressiv. Darüber, dass sie sich nur noch um den Haushalt, die Kinder und den suchtkranken Mann kümmerte, verlor sie ihre FreundInnen, gab jegliche positive Aktivitäten auf und vernachlässigte sich selbst in allen Belangen des täglichen Lebens. In den zwei Jahren der Gruppenteilnahme bessert sich ihre Befindlichkeit deutlich und sie runderneuerte ihr gesamtes Leben. Der Mann besucht ebenfalls eine Selbsthilfegruppe und lebt seitdem clean.

An diesem Abend erzählt Frau H. in der anfänglichen Blitzlichtrunde, dass der Mann gestern tränenreich einen Rückfall gebeichtet habe. Alle Teilnehmerinnen der Gruppe halten erschrocken die Luft an. Doch Frau H. ist klar: "Ich habe ihm gesagt, dass er aufhören soll, zu jammern, und den Rückfall in seiner Gruppe bearbeiten soll. Ich will mich nicht aufregen. Das ist sein Problem. Er soll mich damit in Ruhe lassen. Das habe ich ihm auch so gesagt." Nach einer Atempause lächelt sie ein wenig nervös und äußert, dass sie für heute Abend ein Thema dabeihabe: Sie wolle wieder zurück in den Beruf und sich auf eine Leitungsstelle bewerben, habe aber Angst davor. Sie bittet die Gruppe um Beratung. Alle entspannen sich und die Gruppe coacht in den folgenden Sitzungen Frau H. dabei, beruflich Karriere zu machen.

Sucht ist zerstörerisch und Suchtkranke sind aggressiv, sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere. Süchtige Aggressionen sind bedingt durch die rauschbedingt Enthemmung oder durch die Entzügigkeit. Angehörige, die helfen, können zur Zielscheibe der süchtigen Zerstörungswut werden. Psychische Gewalt in Form von Abwertungen, Beschimpfungen, Beschuldigungen, Beschämungen, Bedrohungen oder Feindseligkeiten sind alltäglich. Deswegen muss die Selbsthilfegruppe ein solidarischer Schutzraum sein, um sich gegenseitig über die erfahrenen Verletzungen auszutauschen und sich gegenseitig zu trösten, damit die Wunden heilen können. In dem Fallbeispiel von Frau H. war die Angehörigengruppe schon zu einem Schutzraum geworden, in dem sie keine falsche Rücksicht nehmen musste und sich angstfrei ansprechen konnte.

Darüber hinaus ist Sucht nicht selten korreliert mit schlimmer Gewalt. Darunter fallen physische Misshandlungen oder sexuelle Gewalt. Dazu gehört auch das weitverbreitete Autofahren im berauschten Zustand, einer der wichtigsten Unfallgründe, welcher gleichermaßen Mitfahrerende wie auch andere VerkehrsteilnehmerInnen in Mitleidenschaft zieht. Des Weiteren gehören Kriminalität und suizidale Drohungen, um Angehörige gefügig zu machen, in die Kategorie schlimme Gewalt. Schließlich können verbale Aggressionen bzw. psychische Gewalt, vor allem bei Kindern in Suchtfamilien, traumatische Wirkung haben. In diesem Fall reicht der Schutzraum der Selbsthilfegruppe nicht mehr, es benötigt aktive Schutzmaßnahmen.

Es kann angeraten sein, z.B. den Kontakt zum Suchtkranken ganz abzubrechen, den Suchtkranken mit Hilfe von Familie oder der Polizei herauszuwerfen und eine Kontaktsperre zu bewirken, heimlich die Tasche zu packen und zu Freunden oder ins Frauenhaus zu flüchten, mit Hilfe des Sozialpsychiatrischen Dienstes eine Zwangsunterbringung in der Psychiatrie zu beantragen oder Anzeige zu erstatten (siehe auch Hilfe für Helfer in der Rubrik professionelle Hilfe). Die Selbsthilfegruppe hat in diesem Fall die Aufgabe, liebevoll und beharrlich zu motivieren, sich zu trauen, die notwendigen Schritte zu gehen. TeilnehmerInnen der Gruppe dürfen, falls erwünscht, die Person beim Gang zur Polizei oder zum Anwalt begleiten. Die Entscheidung dazu, ob und welche Maßnahmen eingesetzt werden, liegt selbstverständlich ausschließlich in der Eigenverantwortung der betroffenen Person.

Solange Angehörige schlimmen Übergriffigkeiten ausgesetzt sind, sind weitere Entwicklungsschritte der weiteren Leitlinien nicht möglich.

Angehörige von Suchtkranken können sich in der Hilfe für den Kranken problematisch verstricken. Angetrieben von Angst- und Schuldgefühlen müssen sie helfen. Sie erleben es als alternativlose Notwendigkeit und ihr Erleben und Verhalten ist mehr oder weniger eingeengt und zwanghaft. Die Hilfe für Angehörige zielt darauf ab, die Fokussierung auf den Suchtkranken abzumildern, indem die Betroffenen lernen, sich abzugrenzen und Nein zu sagen. Dies bedeutet auch, die übermäßige Fremdverantwortung abzugeben: "Die Sucht ist sein Problem und es ist seine Verantwortung, sich auf den Weg zu machen und sich dafür die notwendige Unterstützung zu holen." Diese Abgrenzung ist indes nur Mittel zum Zweck, Raum für sich zu gewinnen. Es geht darum, diesen Raum zu nutzen, um sich sich selbst liebevoll zuzuwenden und sich selbst in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu rücken: "ICH statt ER".

Die Angehörigen sollen eine freie Wahl entwickeln, sowohl Hilfe geben zu können als auch diese ablehnen zu dürfen. Dies bedeutet, die falsche Hoffnung, Heilillusionen und überfordernde Ideale über Bord zu werfen, Ohnmacht und Erschöpfung wahrzunehmen, die Grenzen der Belastbarkeit zu erkennen und die eigene Befindlichkeit ins Zentrum des Erlebens zu stellen.

Tabuspiel

Wenn in Einzelsitzungen oder Angehörigengruppen die Betroffenen zu sehr von dem Suchtkranken, seinem Verhalten und den zerstörerischen Auswirkungen der Sucht eingenommen sind und ausschließlich darüber reden, setze ich gerne das Tabuspiel ein. Der Suchtkranke wird symbolisch aus dem Raum geschickt und darf nicht mehr benannt werden. Zusätzliche Instruktion ist es, jeden Satz mit dem Personalpronomen Ich zu beginnen und ausschließlich das eigene Erleben zu beschreiben. Sobald Angehörige den Suchtkranken direkt oder indirekt benennen, werden sie unterbrochen: "Bitte versuchen Sie, die Ereignisse ausschließlich aus Ihrer Sicht zu schildern, und konzentrieren Sie sich allein auf das eigene Erleben."

Die Effekte dieser Übung sind für die Betroffenen unmittelbar erfahrbar.

Gruppenregel: Nach meinen Erfahrungen ist die große Ressource von Angehörigen, dass sie sich gegenüber anderen Personen freundlich, verständnisvoll, solidarisch und dankbar verhalten. Angehörigengruppen sind infolgedessen ein Selbstläufer und funktionieren reibungslos. Sie benötigen deshalb nur eine einzige Regel: "Wir sprechen nicht über die Suchtkranken. Wir tauschen uns über uns, unser Leben, unsere Schwierigkeiten, Gefühle, Wünsche, Interessen, Überzeugungen, Vorstellungen und Werte aus."

Verstrickte Angehörige handeln selbstlos. Sie haben für den Suchtkranken und andere stets überbordendes Mitleid, sind bis zur Selbstaufgabe nachsichtig und sind allzeit bereit, für andere grenzenlos da zu sein. Nur gegenüber sich selbst sind sie kritisch, fordernd und hart. Der verständnisvolle Austausch mit anderen Angehörigen, die in derselben Situation stecken oder gesteckt haben, dient dazu, umzulernen. Der durch die beiden ersten Leitlinien erarbeitete Schutz- und Freiraum ist die Voraussetzung dafür, sich dem eigenen Erleben zuzuwenden, sich zu erkunden und besser verstehen zu lernen:

  • Was fühle ich?

  • Was denke ich?

  • Was spüre ich?

  • Was brauche ich?

  • Wozu habe ich keine Lust?

  • Und die wichtigste Frage: Was will ich?

Indem die Betroffenen in der Selbsthilfegruppe parteiisch Mitgefühl, Solidarität, Trost und Rückhalt erfahren und sie in ihrem Erleben bedingungslos validiert werden, können sie einen annehmenden Selbstkontakt verinnerlichen. Die wertschätzende Gruppenatmosphäre hilft ihnen, sich auf die eigenen Gefühle, Wünsche, Interessen und Werte zu besinnen und zu lernen, sich selbst bedingungslos anzunehmen. Bei diesem Schritt ist es wichtig, dass die Gruppe keine vorschnellen Ratschläge gibt oder der Person halbgare Problemlösungen aufdrängt.

Typisch ist es, dass die Betroffenen in diesem Schritt bemerken, wie abgekämpft und erschöpft sie sind. Die Gruppe wird zum Ort der Entspannung, um aufzutanken, und zum Wohlfühlort, um Selbstfürsorge zu entwickeln. Die Erfahrungen in der Gruppe, zur Ruhe zu kommen, Frieden mit sich zu finden und sich selbst liebzugewinnen, wird die Person mit ins Leben nehmen und dort auf ihre eigene, besondere Art und Weise umsetzen. Die Solidarität der Gruppe und die liebevolle Selbstzuwendung sorgt für das Selbstvertrauen, das eigene Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen umgestalten zu können, was in der nächsten und letzten Leitlinie skiziert wird.

Die Entwicklung von Selbstmitgefühl und -annahme schafft die Grundlage dafür, übermäßige Ängste zu überwinden und sich in das Abenteuer Leben hinauszuwagen. Indem die Betroffenen lernen, die eigene Lust und Unust zum Motiv ihres Handelns zu machen, ihrer Lebenswünsche gewahr zu werden und diese gegenüber anderen klarer zu kommunizieren, entwickeln sie Selbstwirksamkeit, -entfaltung und -bestimmung. Es geht um die Eigenverantwortung, sich mutig, kreativ und unabhängig auszuprobieren und das Leben aktiv zu gestalten. Drei Aspekte, das Leben zu erobern, halte ich für wichtig:

1. Werden Sie im Kleinen für sich tätig: Es geht darum, im Lebensalltag Pausen einzulegen, sich zuzugestehen, durchzuatmen, und den grauen Lebensalltag mit kleinen, bunten Aktivitäten und Belohnungen zu bereichern, wie z.B. einer gemütlichen Tee- oder Kaffee-Pause, einem Sonnenbad, einem Regen-Spaziergang, einer Radtour, einem Eis, einem warmen Bad, einer Massage, einem Kino-, Konzert- oder Theaterbesuch oder einem Wochenend-Trip.

2. Entwickeln Sie eine gesunde Aggressivität: Verstrickte Angehörige haben eine übermäßige Moralvorstellung, nicht egoistisch oder aggressiv sein zu dürfen: "Ich will niemanden verletzen." Diese Hemmung bedingt, dass sie ständig zu kurz kommen und verletzt werden. Es geht darum, die Moral aufzuweichen und durch eine gesunde Aggressivität zu ergänzen: "Ich darf etwas vom Leben wollen und meine Wünsche selbstbestimmt in die Tat umsetzen." Dabei geht es auch darum, sich im Aktivwerden im Dienste der eigenen Lust nicht von anderen abhängig zu machen, also z.B. auch allein ins Restaurant oder Kino zu gehen.

3. Leben Sie Ihre Träume: Wenn die beiden ersten Schritte getan sind, dann geht es in einem weiteren Schritt darum, die großen Lebensthemen anzugehen. Im Fallbeispiel von Frau H. ist es die berufliche Karriere. Andere große Lebensthemen könnten z.B. eine Ausbildung, eine Reise in fremde Länder, das Lernen einer Sprache oder eines Musikinstruments oder das Aneigenen eines Hobbys sein. Die Selbsthilfegruppe berät und motiviert: "Trau dich!", und gibt Rückhalt: "Es darf schiefgehen. An Fehlern wächst du." Beim Realisieren der Träume geht es um eine neue, spielerische Haltung und Herangehensweise: Der Weg ist bekanntlich das Ziel.