Kurzgeschichte
Die Frau, der Alkoholiker und die anderen
Eine Frau sprach die Schwiegermutter auf die Alkoholprobleme ihres Mannes an. Die Schwiegermutter wurde ganz unruhig: „Du musst ihn verstehen und ihn nehmen, wie er ist. Er war schon als Kind vielfältig talentiert. Du musst für ihn da sein. Ich kann es nicht mehr. Er braucht eine Frau an seiner Seite, die auch mal zurückstecken kann. Er ist ja so empfindsam.“
Die beste Freundin, der sich die Frau offenbarte, erschrak furchtbar und entsetzte sich: „Trenn dich sofort! Was tust du dir an? Denk zuerst an dich. Ich habe dich immer für deine gelebte Unabhängigkeit bewundert.“
In einem psychologisch-pädagogischen Ratgeber las die Frau Folgendes: „Kinder brauchen Väter. Die Bedeutung der Väter für die emotionale und soziale Entwicklung der Kinder wurde viele Jahrzehnte lang unterschätzt. Väter sind bedeutsam für die Entwicklung von Selbständigkeit, Autonomie und Abenteuerlust. Obendrein brauchen Söhne ihren Vater als positives Modell zum Finden der Geschlechterrolle.“
Die Frau rief die eigene Mutter an, die sie beschwichtigte: „Kind, Probleme löst man gemeinsam. Da wirft man nicht gleich die Flinte ins Korn. Schau dir deinen Vater und mich an. Wir haben viele Krisen gemeinsam gemeistert und uns einiges zusammen erarbeitet.“
In der Suchtberatungsstelle, die die Frau aufsuchte, um sich beraten zu lassen, wurde ihr vermittelt: „Es kommt darauf an, dass er nach den lerntheoretischen Gesetzen von Verstärkung und Kontingenz dazu motiviert wird, den Konsum zu reduzieren und eine Therapie zu beginnen.“
Die Frau versuchte auch, mit einem alten Freund ihres Mannes zu sprechen. Er wiegelte ab: „Das Bier am Abend musst du uns schon gönnen. Wir sind richtige Kerle und da gehört die Sause manchmal dazu. Sei froh, dass er kein Warmduscher ist.“
Die Schwester, die die Frau im Café traf, schnitt ihr unwirsch das Wort ab: „Das darfst du nicht sagen. Du trinkst ja auch mal ein Bier. Dann wären wir ja alle Trinker. Auch du und ich!“
In einer Selbsthilfegruppe, an der die Frau abends anonym teilnahm, wurde sie gelobt: „Gut, dass du kommst. Wir sind da alle schon durch. Du musst lernen, deine Ohnmacht zu akzeptieren. Du musst loslassen und aufhören, für ihn alles zu regeln, damit er lernen kann, für sich selber zu sorgen.“
Als die Frau es wagte, mit ihrem Mann selber zu sprechen, bekam sie zu hören: „Wenn du so zu mir bist, bleibt mir ja nichts anderes übrig, als zu saufen.“ Dann suchte er Türen schlagend das Weite.
Die Frau blieb allein zurück und wurde zornig, immer zorniger. Sie bebte vor Wut und dachte: "Egal, wen ich frage, alle wissen es besser." Ab jetzt, nahm sie sich vor, das zu tun, was sie selber für richtig hielt.
(frei nach „Der Esel, der Vater und der Sohn“ von Nossrat Peseschkian)
Hinweis: Die Geschichte stammt aus dem Ratgeber "Ich will mein Leben zurück!"