Wie eine Batterie hat das abhängige System zwei Pole.

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Kurzgefasst

Immer mal wieder werde ich von JournalistInnen kontaktiert, die Beiträge zum Angehörigenthema bringen wollen und bei ihrer Recherche auf CO-ABHAENGIG.de stoßen. Die Anfragen lösen ambivalente Reaktionen in mir aus. Auf der einen Seite sind Interviews stressig und ich bin nicht gut darin, verstrickte Sachverhalte eloquent auf den Punkt zu bringen. Als Psychotherapeut kann ich besser Fragen stellen, als Antworten geben. Die JournalistInnen wünschen - verständlicherweise - prägnante Antworten und unterschätzen dabei die Komplexität der co-abhängigen Problematik und die gesellschaftliche Brisanz des Tabuthemas.

Auf der anderen Seite benötigt die Angehörigensache Öffentlichkeit. Genau daran mangelt es. Das Engagement der JournalistInnen ist daher begrüßens- und unterstützenswert. Angeregt durch die neugierigen Fragen von JournalistInnen ist diese Seite entstanden. Hier habe ich die wichtigsten Interviewfragen gesammelt und versucht, Antworten auf den Punkt zu bringen, damit Sie sich einen schnellen Überblick über die Angehörigenthematik verschaffen können.

Allgemein verstehe ich darunter zweierlei. Erstens nutze ich den Begriff als Überschrift für die Leiden, Probleme und Störungen der Angehörigen von Suchtkranken. Abhängigkeit ist ein soziales System, welches wie eine Batterie einen Minus- und einen Pluspol hat. Suchtkranke verhalten sich uneinsichtig, selbstsüchtig und verantwortungslos und beschuldigen andere. Co-abhängige Angehörige sind komplementär dazu: problembewusst, selbstlos und übermäßig verantwortungs- und schuldbewusst. Angehörige sind nicht nur wie ein Anhängsel der Suchtkranken mit-betroffen, sie sind als Teil des Systems selbst betroffen. Um sich der Angehörigenproblematik angemessen zuwenden zu können, braucht sie einen eigenen Namen.

Wie in einer Batterie der Strom vom Plus- zum Minuspol fließt, hat auch das abhängige System eine einseitige Tendenz. Suchtkranke nehmen und Angehörige geben: Aufmerksamkeit, Mühe, Liebe, Geld und Nerven. Zweitens beschreibt das Adjektiv „co-abhängig“ typische Erlebens- und Verhaltensmuster von Angehörigen, wenn diese sich in die Hilfe eines uneinsichtigen, chronifizierten Suchtkranken verstrickt haben und zu viel geben. Die Angehörigen kreisen um den Suchtkranken und erschöpfen sich in der Aufgabe, ihn zu retten, sodass sie sich selbst verlieren, sich selbst nicht mehr spüren und eigene Bedürfnisse, Ziele und Interessen vernachlässigen.

Betroffen sind vor allem Kinder aus Suchtfamilien, Partner und Eltern, aber auch Geschwister und professionelle Helfer, die mit Suchtkranken arbeiten, z.B. SuchtberaterInnen und -therapeutInnen. Überwiegend sind aufgrund klinischer Beobachtungen Frauen betroffen. Selbstverständlich können sich auch Männer verstricken, doch dies ist seltener der Fall. Auch ganze Familien, Freundeskreise, andere Gruppen oder Arbeitseinheiten können sich in der Hilfe für ein suchtkrankes Mitglied verlieren. Und im Besonderen sind Einrichtungen der Suchthilfe betroffen, die rigide co-abhängige Strukturen und Prozesse ausbilden können.

Dies scheint seinen Grund darin zu haben, dass Versorgung, Fürsorge und Pflege genderspezifisch mit der weiblichen Rolle assoziiert sind. Frauen werden sowohl vom Umfeld verpflichtet, einem erkrankten Menschen beizustehen, als sie sich auch in ihrem Selbstanspruch herausgefordert fühlen, den Kranken zu retten. Männern dahingegen ist es in dem Fall von Krankheit gesellschaftlich erlaubt, sich abzugrenzen, und entsprechend scheinen sie bessere Kompetenzen zu haben, sich konsequent zu verhalten.

Das ist eine spannende Frage, leider mangelt es an Forschung dazu. Wir wissen, dass ungefähr 30% der erwachsenen Kinder aus Suchtfamilien als Folge ihrer belasteten Biografie süchtig und nochmals 30% psychisch erkranken. Des Weiteren zeigen Töchter aus Suchtfamilien - nicht Söhne - eine Neigung, sich suchtkranke Männer zu suchen und so ihr Kindheitstrauma als Partnerin zu wiederholen. Es darf angenommen werden, dass dies Folge psychischer Labilität ist. Es gibt geschätzt drei Millionen Kinder und fünf bis sechs Millionen erwachsene Kinder aus Suchtfamilien.

Wie viele Partner, Eltern und Geschwister darüber hinaus co-abhängig betroffen sind, wissen wir nicht. Auch ihre Zahl wird im Millionenbereich liegen. Das abhängige System aus Sucht und Co-Abhängigkeit darf als wohl größte psychosoziale Problematik in unserer modernen, westlichen Gesellschaft eingestuft werden. Eine beachtliche Herausforderung für das Gesundheitssystem.

Ich spreche lieber von Bedingungen als von Ursachen. Es gibt meines Erachtens vier wesentliche Bedingungen, die das Risiko, sich in der Hilfe für einen Suchtkranken zu verstricken und zu verlieren, bestimmen. Diese hängen eng zusammen. Erstens können co-abhängige Erlebens- und Verhaltensmuster der Selbstlosigkeit und Verantwortungsübernahme ausschließlich dort entstehen, wo ein Suchtkranker uneinsichtig ist und seine Störung chronifiziert. Sucht und Co-Abhängigkeit stehen in einer sich gegenseitig bedingenden Wechselwirkung und ein abhängiges soziales System braucht Jahre, um zu wachsen und sich zu verfestigen.

Zweitens zeigen Mädchen aus Suchtfamilien eine Tendenz, sich als erwachsene Frauen suchtkranke Männer zu suchen und mit diesen wiederum Suchtfamilien zu gründen. Das Trauma der Kindheit wird auf diese Art und Weise reinszeniert. Geschätzt die Hälfte der Partnerinnen und Mütter, die ich in über zwei Jahrzehnten behandelt habe, kommen schon aus Suchtfamilien. Wir dürfen annehmen, dass die co-abhängige Rolle der Selbstverleugnung und -aufopferung durch Lernprozesse von der Mutter an die Tochter weitergegeben wird. Ich nenne diese transgenerative Weitergabe die co-abhängige Transmission.

Auf die dritte Bedingung, nämlich die gesellschaftliche Rollenzuschreibung, dass Frauen für Versorgung und Pflege von Hilfebedürftigen verantwortlich gemacht werden, habe ich schon oben hingewiesen. Schließlich und viertens sind psychisch labile Menschen mit Selbstwertstörungen besonders gefährdet, auf die süchtigen Manipulationen hereinzufallen. Die eigene Selbstablehnung wird durch die Fürsorge für einen anderen kompensiert. Die Selbstaufopferung ist eine Art Frondienst. Die co-abhängigen Frauen müssen sich jeden Tag aufs Neue Selbstbestätigung und Lebensrecht mühselig verdienen.

Es sind zu viele, um sie hier aufzuzählen, und es kann individuell stark variieren. Die kardinale Auffälligkeit ist, dass sich das gesamte Denken, Fühlen und Handeln um den Suchtkranken und seine süchtigen Eskapaden dreht. Dieses Um-den-anderen-Kreisen erleben die Betroffenen als zwanghaft. Sie sehen keine Alternative und denken, grenzenlos helfen zu müssen. Typische co-abhängige Glaubenssätze, die sie antreiben, lauten: "Wenn ich ihn nur ausreichend liebe, wird er uns zuliebe die Sucht sein lassen", "Warum tut er das? Wenn wir die Gründe wissen, können wir seine Sucht kontrollieren." oder "Wenn er aufhört, wird alles gut." Dieses Denken ist ein tragischer, folgenreicher Irrtum.

Sich jahrelang rund um die Uhr um jemand anderes zu bemühen, die Last der Verantwortung zu schultern und selbst zu kurz zu kommen, ist sehr anstrengend. Die Betroffenen sind angespannt, erschöpft, depressiv, sehr ängstlich, sie erleben keine Lebensfreude und keinen Lebensgenuss mehr, sie leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl, Schuld- und Schamgefühlen und Selbstzweifeln, sie spüren sich selbst körperlich und emotional nicht, sie haben Schlafstörungen, grübeln tagein tagaus, haben Rückenbeschwerden, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder andere körperliche Leiden. Betroffene geben oftmals an, zwar äußerlich zu funktionieren, sich innerlich aber nur wie eine "leere Hülle" zu fühlen.

Die Angehörigen vernachlässigen dauerhaft ihre eigenen Lebensbezüge, also ihre Aktivitäten, Wünsche, Werte, sozialen Bezüge und beruflichen Interessen. Mir fällt dazu beispielhaft ein Fall einer Frau eines spielsüchtigen Mannes ein, die ihren Beruf gekündigt, ihre Freundinnen nicht mehr getroffen, ihre Hobbys eingestellt und selbst ihr Äußeres und die Körper- und Gesundheitsfürsorge vernachlässigt hat, weil sie fortwährend damit beschäftigt war, ihren Mann zu kontrollieren, dass er nicht spielt.

Eine solche Selbstaufopferung und -vernachlässigung macht früher oder später krank. Die betroffene Klientin litt unter einer ausgeprägten Depression. Aus meiner klinischen Erfahrung kann ich sagen: Kinder aus Suchtfamilien entwickeln komplexe Traumafolgestörungen, vor allem komplexe PTBS oder auch rezidivierende Depressionen und häufig in Kombination mit weiteren psychosomatischen Beschwerden, Essstörungen oder Workaholismus. Partner und Eltern neigen zu Burnout, Depressionen, Angststörungen und psychosomatischen Störungen.

Sie können sich ebenso verstricken wie Angehörige und dieselben Auffälligkeiten und Störungen entwickeln. Ich selbst habe mich gerade zu Anfang meiner Tätigkeit in einer Suchtrehabilitationsklinik so häufig übermäßig gekümmert. Es geht auch nicht darum, dies zu verhindern, sondern es zu erkennen, zu reflektieren, gezielte Maßnahmen der Psychohygiene zu ergreifen und die therapeutischen Gegenübertragungen in der therapeutischen Beziehungsarbeit gewinnbringend zu nutzen.

In zwei Jahrzehnten in der Suchthilfe als Psychologe bin ich so vielen überwiegend weiblichen Kolleginnen begegnet, die sich grenzenlos, bis in ihre Freizeit hinein für suchtkranke Klienten aufgeopfert oder sogar mit ihnen Beziehungen begonnen haben. Hier braucht es meines Erachtens mehr Aufklärung, Bewusstsein und Supervision.

Die Diskrepanz zwischen der äußerlich lächelnden und funktionierenden Fassade sowie der innerlich versteckten Not, Erschöpfung und Bitterkeit sind Ansatzpunkte für die Betroffenen, anhand derer sie ein Bewusstsein für ihre Problematik entwickeln können. Denn dahinter verbergen sich eine große angestaute Traurigkeit und Wut, im Leben zu kurz zu kommen. Entscheidend ist, die verletzten und aufgestauten Gefühle und Bedürfnisse zumindest im Ansatz wahrzunehmen und so die co-abhängige Sackgasse des eigenen Handelns zu erkennen.

Betroffenen empfehle ich stets, in ihrer Not nicht allein zu bleiben. Gute Freunde oder Familienmitglieder sind potenziell die besten Helfer. Sollten vertrauensvolle Kontakte fehlen, können sich Betroffene auch an Selbsthilfegruppen oder Suchtberatungsstellen wenden. Bei psychischen Störungen ist der Gang zum ambulanten Psychotherapeuten empfehlenswert. Wichtig ist es, dass sich die helfenden Personen solidarisch mit den Angehörigen und ihren Leiden und Problemen verhalten.

In der Hilfe von Angehörigen geht es vor allem um dreierlei: In einem ersten Schritt geht es darum, dass sie die süchtigen Manipulationen, Forderungen und Täuschungen erkennen, sich davon angemessen abgrenzen und ihre übermäßige Hilfe einstellen. So gewinnen sie einen Freiraum, sich in einem zweiten Schritt sich selbst zuzuwenden und sich Raum zu geben, um die erlittenen seelischen Wunden zu versorgen und Selbsttrost und -fürsorge zu lernen.

Im dritten Schritt geht es darum, das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen, indem die Betroffenen Lebensfreude und -genuss zurückgewinnen, die eigenen Bedürfnisse, Ziele und Interessen erkunden, diese aktiv verfolgen und verwirklichen und ihr Leben in ihrem Sinne umgestalten. Bei starken Verstrickungen und psychischen Störungen kann der gesamte Entwicklungsprozess durchaus zwei bis drei Jahre benötigen.

Eins möchte ich noch ergänzen, weil es schlimm ist und leider allzu oft vorkommt, nämlich dass Angehörige Zielscheibe von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt werden. In diesem Fall sind zuallererst und vorrangig Schutzmaßnahmen notwendig, damit die Übergriffigkeiten beendet werden. Wenn die Betroffenen dies nicht aus eigener Kraft schaffen, sollten Opferschutz, Anwalt, Frauenberatung und/oder Polizei einbezogen werden.

Ja, vor allem dann, wenn die Angehörigen Opfer von Gewalt waren oder noch sind, ist dieser Schritt notwendig. Aber auch in allen anderen Fällen ist der Kontaktabbruch zum Süchtigen eine mögliche Option. Die Angehörigen haben das Recht, darüber gründlich nachzudenken und das eigene Leben, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Sehnsüchte zu erkunden. Die Therapie hat die Funktion, sie in ihrem Selbstwertgefühl, ihrer Eigenverantwortung und Autonomie so zu stärken, dass sie eine gute Entscheidung für sich treffen und sie engagiert in die Tat umsetzen können.

Aber auf eins möchte ich in diesem Zusammenhang hinweisen: Eine Lösung der emotionalen Probleme ist eine Trennung keinesfalls. Meine Erfahrung ist, dass die Betroffenen nach dem vollzogenen Schritt in ein depressives Loch fallen. Ohne den ganzen Stress und Ärger wird ihnen gewahr, was sie sich all die Jahre haben antun lassen. Die Erkenntnis schmerzt und es benötigt ganz viel liebevolle Zuwendung, Fürsorge und Trost, bis die seelischen Wunden heilen können.

Zugewandt, wertschätzend, verständnisvoll, mitfühlend, solidarisch und, wenn Gewalt im Spiel ist, parteiisch. Angehörige brauchen keine Ratschläge, sondern jemand, der liebevoll und geduldig für sie da ist, sie nicht allein lässt und sie durch alle Höhen und Tiefen ihrer Selbsttäuschung und -findung begleitet.

Eigentlich haben wir in Deutschland ein gut ausgebautes Gesundheitssystem, auch und gerade in Bezug auf psychosoziale Problemstellungen. Doch erstaunlicherweise ist das Thema der co-abhängigen Angehörigen selbst in Fachkreisen beinah gänzlich unbekannt. Es kommt in den Ausbildungen zum Sozialarbeiter, Psychologen, Arzt, Sucht- oder Psychotherapeuten nicht vor. Die Defizite als Folge davon sind vielschichtig. Es mangelt an angehörigenspezifischer Prävention, an Selbsthilfegruppen und an bedarfsgerechter Beratung und Therapie.

Vor allem die Unverhältnismäßigkeit in der Suchthilfe und Suchtselbsthilfe ist bemerkenswert: Alle Hilfen sind für die Suchtkranken reserviert, die Angehörigen werden vergessen und übersehen. Die Größenordnung und Tragik der Angehörigenproblematik einerseits und der diesbezügliche Mangel an Beachtung, Forschung, Wissen und Hilfeangeboten andererseits stehen in einem krassen Widerspruch. Ich sehe diesbezüglich jede Menge Entwicklungsbedarf.

Die Suchthilfe unterliegt derselben Dynamik, wie ich zu Anfang zum abhängigen System beschrieben habe. Der einseitig verstandene Auftrag der Suchthilfe, ausschließlich Suchtkranken zu helfen, legt die Grundlage für institutionelle Verstrickungen. Die Suchthilfe ist in derselben Rolle wie die selbstlose, Verantwortung schulternde Angehörige. Mein Verständnis des Auftrags ist ein anderer: Die Suchthilfe ist zuständig für die Auswirkungen von übermäßigem Suchtmittelkonsum. Diese betreffen gleichermaßen die Suchtkranken als auch die Angehörigen. Jede Suchteinrichtung sollte exklusive Angebote vorhalten, die solidarisch mit dem Hilfebedarf der Angehörigen sind.

Einrichtungen, welche die beiden Seiten des abhängigen Systems berücksichtigen, machen bessere, differenziertere Arbeit. Darüber hinaus ist Angehörigenarbeit Psychohygiene für Suchthelfer. Mit den Angehörigen kann man lernen, sich nicht übermäßig zu engagieren, auszubrennen und hart zu werden. Die häufigste berufliche Deformation von Suchthelfern.