2024-10 | Autobiografie | Rezension
Koch, C. (2010) Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern. Hamburg: Acabus.
Aus dem Abstract zum Buch:
„Wessen Moral?“ ist ein autobiografischer Roman über eine junge Frau, die retrospektiv das Verhältnis zu ihrer suchtkranken Mutter beleuchtet und zu verstehen versucht. Zunächst noch mit den Augen eines Kindes beobachtet die Autorin wie ihre Mutter Stück für Stück an Stärke und Lebenswillen verliert. Mehr und mehr lässt sich die Mutter von ihren eigenen Süchten leiten, bis sie schließlich an ihnen zerbricht. Cécile Koch versuchte lange, sich ihre verstörende Welt mit kindlicher Fantasie zurechtzurücken. Als Außenseiterin in der Nachbarschaft und Schule erfindet sie sich Freunde und erschafft sich eine eigene Realität. Mit vierzehn Jahren reist sie sechs Wochen mit einem kleinen Wanderzirkus mit und bezahlt dafür mit dem einzigen, was sie hat - mit sich selbst. Nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr bricht ihr der Boden unter den Füßen weg...
Mit einfachen, nüchternen Worten betrachtet die Autorin rückblickend ihr Leben ohne geborgene Kindheit und ihren Versuch, aus eigener Kraft erwachsen zu werden. Nicht die nachträgliche Betroffenheit steht im Vordergrund ihrer Schilderungen. Vielmehr geht es um den Mut und auch die Probleme, das eigene Leben anzunehmen und selbstbestimmt zu führen. Der Titel „Wessen Moral?“ steht stellvertretend für alle Fragen nach den Gründen und der Gerechtigkeit der Welt, welche Cécile Koch beschäftigen.
Als ich ungefähr in der Mitte des Buches von Cécile Koch angelangt war, habe ich mich an eine Fortbildung vor einigen Jahren erinnert. Eine Kollegin hatte mir zum Ende kritisch zurückgemeldet, dass sie meine Ausführungen übertrieben drastisch fände. Diese Bewertung hat mich damals gekränkt. Ich hatte die ganz schlimmen Sachen ausgelassen, um die KollegInnen nicht zu sehr zu verstören. Wenn ich vor Betroffenen referiere, dann spreche ich auch die schrecklichen Sachen an. Die Betroffenen fühlen sich dadurch, so melden sie es mir zurück, in ihren Leiden und Schmerzen gesehen. Sie fühlen sich gewürdigt, wenn jemand versucht, das Unsagbare zu sagen.
In Veranstaltungen für KollegInnen erfahre ich immer wieder, dass viele das Thema nicht wirklich durchdringen können, entweder weil sie wohlbehütet aufgewachsen sind und die gesellschaftlichen Abgründe nur theoretisch aus Büchern und Filmen kennen oder weil sie ihr eigenes traumatisches Thema noch abwehren. Und ich erkenne die wenigen, welche selbst betroffen sind und denen dies bewusst ist. Sie sind still, schweigen und verstehen. Sie nicken fast unsichtbar an den richtigen Stellen und in ihren Augen kann ich traurige Freude darüber erkennen, dass ich versuche, ihre Not in Worte zu kleiden.
Wessen Moral? ist nicht die allerschlimmste Autobiografie, Asche meiner Mutter, Platzspitzbaby oder Kinderwhore sind nach meinem Dafürhalten noch drastischer, so schlimm, dass sie auch für mich nicht mehr nachvollziehbar sind. Das macht die ganz schlimmen Bücher irgendwie abstrakt und lesbar. Doch solche Vergleiche sind pietätlos: schlimm, schlimmer, am schlimmsten, am allerschlimmsten. Die Leiden der jungen Cécile sind sehr schlimm, gerade noch nachvollziehbar, was es eher schlimmer macht.
Ihr Ekel, ihre Scham, ihre Wut, ihre Verzweiflung, sie gehen unter die Haut und lösten körperliche Dissonanzen in mir aus. Der Dreck ihrer Kindheit war fühlbar. Die Scham und der Selbsthass von Cécile verkrampften sich wie eine Faust in meinem Bauchraum, dass ich Pausen machen musste, um zu atmen und mich zu lockern. Und vor allem das Mitgefühl mit der Protagonistin haben mich wiederholt affiziert Ich musste dann das Buch weglegen, musste mich bewegen, mir einen bewussten Sinnesreiz zuführen, um mich zurück in meine eher friedliche Realität zu holen. Im Nachhinein denke ich, dass die besagte Kollegin zu der abwehrenden Gruppe an KollegInnen gehört. Ich würde ihr gerne das Buch von Koch schenken. Es berührt tiefgehend.
Es ist zwar schmerzhaft, doch befreiend und bereichernd, sich mit den eigenen biografischen Belastungen und Traumata auseinanderzusetzen. Darüber legt das Werk von Koch Zeugnis ab. Es ist ein mutiges und notwendiges Buch, weil es verdeutlicht, unter welchen armen und brutalen Bedingungen Kinder in unserem reichen, demokratischen Kulturkreis aufwachsen. Als besonders wertvoll habe ich wahrgenommen, dass Koch herausarbeitet, wie der emotionale Missbrauch den Nährboden für auch sexuellen Missbrauch schafft. Viele meiner KlientInnen haben wie Cécile in der Jugend erotische Ausbeutung durch ältere Männer erfahren und einige wurden durch den alkoholisierten Partner zum nicht einvernehmlichen Sex genötigt. Emotionaler und sexueller Missbrauch sind schrecklich, sie sind Spielarten derselben beschämenden, dissozialen Erniedrigung. Dazu abschließend ein Zitat aus dem Buch (S.215):
Aufgrund der Erfahrungen, die ich in meinem Elternhaus gesammelt hatte, hatte ich keine klare Vorstellung davon, was 'normal' ist. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe und Aufmerksamkeit und war wir ein verhungerter Dackel gewillt alles zu tun, um anerkannt und geliebt zu werden. Ich hatte keine gesunde Ressource, die mir ein Signal gibt, dass hier eine nicht zu überschreitende Grenze überschrtten wird, sondern hatte andauernd das Gefühl noch mehr geben zu müssen, um endlich zu bekommen, wonach ich mich sehnte. Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hat mich damals fast terrissen. Der Direktor des Zirkus hat dies bewusst zu seinen Gunsten genutzt und heute würde ich ganz klar sagen: es war Missbrauch.
2024-09 | Platzspitzbaby | Buch & Film
Halbheer, M. (2015). Platzspitzbaby: Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Lachen: Wörterseh.
Monnard, P. (Reg., 2020). Platzspitzbaby. München: EuroVideo Medien.
Seit drei, vier Jahren "fresse" ich mich durch die Literatur zum Thema der Kinder aus Suchtfamilien und sonstiger Angehöriger, sehe alle Filme, die ich finden kann, und rezensiere Bücher und Filme. Biografische Beiträge haben einen besonderen Tiefgang, sie bieten Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn. Als letztes habe ich das Buch Platzspitzbaby gelesen und den durch das Buch inspirierten, gleichnamigen Film gesehen. Die Geschichte von Michelle Halbheer ist leidvoll und typisch für das Schicksal der stillen, vergessenen Kinder aus Suchtfamilien. Die Besprechungen zum Buch und Film können Sie auf der Seite Medien unter den entsprechenden Rubriken einsehen.
Es ist ein außergewöhnlich mutiges und intelligentes Buch und Halbheer erzählt ihre resiliente Geschichte, wie sie als Kind die Hölle überlebte und dem Schicksal der transgenerationalen Weitergabe aus eigener Kraft entkam. Die Autorin analysiert darüber hinaus tiefgründig das Versagen der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Dazu ein Zitat aus dem Buch (S. 108):
Die Nachbarn, der Pfarrer, der Tankstellenshop-Besitzer, manche Eltern oder andere zufällige involvierte Menschen machten keine Anstalten, mich zu retten. Oder intervenierten sie bei der zuständigen Behörde, und diese blieb - entgegen dem gesetzlichen Auftrag - untätig? Dass auch unzählige Polizeieinsätze, bei denen die Beamten Zeugen der desolaten Zustände wurden, kein Eingreifen der Vormundschaftsbehörde bewirkten, die meine Befreiung hätten prüfen müssen, erstaunt mich heute nicht mehr. Jene, die über keine Lobby verfügen, sind leicht Opfer: Weil von der allfälligen Hilfeleistung niemand erfährt und das Nichtstun keinerlei negative Konsequenzen bewirkt.
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» Website und Trailer Film
» Titelsong auf Youtube
2024-09 | NACOA | Berlin
NACOA feierte 20-jähriges Jubiläum
Auch ich bin schon lange Mitglied in der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. Das Jubiläum wurde mit zwei Veranstaltungen am 20.09.2024 in der Villa Elisabeth in Berlin begangen. Vormittags wurde eine Fachtagung durchgeführt, in der es schwerpunktmäßig um die Problematik der erwachsenen Kinder ging.
Neben einem Vortrag von Dr. Reinhardt Mayer, der anhand der Entwicklung von NACOA Deutschland e.V. einen Überblick über 20 Jahre Arbeit mit und für Kinder aus suchtbelasteten Familien gab, ging es am Vormittag insbesondere um die Zielgruppe der Erwachsenen Kinder. Ich hatte die Ehre, mit einem Impulsvortrag zur Thematik beizutragen. Danach wurde vom Journalisten Andreas Schneider eine Podiumsdiskussion mit Dirk Bernsdorf, Christina Reich, Nina Roth und mir und unter Einbezug des Publikums über Hilfsbedarfe und bestehende Angebote moderiert.
Am Nachmittag fanden Workshops statt, in denen die zukünftige Ausrichtung der Interessenvertretung in den Bereichen Bildung, Medien, Politik, Wissenschaft und Selbsthilfe diskutiert wurde, um Ideen zu sammeln, Konzepte zu entwickeln, Forderungen aufzustellen etc. Gezeigt wurde darüber hinaus die mut- und resilienzorientierte Fotoausstellung: "Gesicht zeigen! Was erwachsene Kinder suchtkranker Eltern stark gemacht hat" von Hauke Dressler.
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Am Abend feierte NACOA eine Jubiläumsgala. Die JournalistInnen Christina Rubarth und Stephan Kosch führten durch den Abend und interviewten Betroffene, darunter eine Poetry-Slammerin, einen TV-Moderator und einen Journalisten. Der musikalischen Rahmen wurde durch die Sängerin Miss Pirate und den Schirmherrn des Vereins, Max Mutzke, gestaltet, beides auch bekennende Kinder suchtbelasteter Eltern. Der Abend war gleichermaßen berührend, wie auch laut, lebendig und stimmungsvoll. Den Abschluss bildete die Würdigung des Engagements des gesamten NACOA-Teams in Berlin wie auch das der RegionalsprecherInnen der Bundesländer.
Feste feiern, kann NACOA, das kann ich bezeugen. Was habe ich sonst noch aus Berlin mitgenommen? Angesichts der geringen Mitgliedergröße und des "adolszenten" Alters des Vereins, hat NACOA schon eine bewegte, reichhaltige und erfolgreiche Geschichte. Die Vielfalt an Ideen, Wissen, Kompetenzen und Engagement in der Sache, der an dem Tag in der Villa Elisabeth zusammenkam, hat mich tief beeindruckt. Jetzt geht es darum, den Worten weitere Taten folgen zu lassen. Was mir noch aufgefallen ist: Es waren viele junge Menschen anwesend. Das lässt hoffen.
» Bericht Website NACOA
2024-09 | Versform
Wachstum durch Kreativität
Heute sprach ich in der Therapie mit einem Klienten, erwachsener Sohn aus einer Suchtfamilie, darüber, wie wichtig Kreativität ist, um den Schmerz über das Erlittene auszudrücken, Alleinsein abzumildern und Verständnis und Trost zu finden. Dem inneren Unglück durch Singen, Tanzen, Malen, Dichten, Fotografieren etc. eine äußere Form geben, kann "schon fast wieder Glück" sein, wie der Dichter Erich Fried es in einem Gedicht ausgedrückt hat. Obendrein holt es den Ressourcenschatz aus dem Schatten des Verborgenen ans Tageslicht. Probieren Sie es selbst aus!
Und dann schickte mir heute eine andere Betroffene ein Gedicht, mit der Erlaubnis, es auf Co-ABHAENGIG.de zu veröffentlichen: "Der Freund - Jungenspiele spielen". Das Gedicht verdeutlicht, wie die Betroffene in Spieldrang, Selbstentdeckung und Welteroberung gehemmt worden ist. Sie drückt ihre schmerzhafte Sehnsucht danach aus, Alleinsein zu überwinden, sich zu befreien und sie selbst zu werden. Der Schreibprozess selbst ist auch und vor allem die heilsame Verwirklichung der verborgenen Ressourcen. Im Folgenden nur einige Strophen. Das vollständige Werk und viele andere finden Sie auf der Seite Versform unter der Rubrik Ansichten.
Der Freund
brettert mit mir Bälle gegen die blau-abblätternden Garagentüren
erzählt mir abenteuerliche Träume, wenn wir längst schon schlafen sollen
mopst eine Waffel aus dem Vorratsschrank, bevor wir wieder nach draußen verschwinden
holt mich aus meiner Barrikade zum Spielen
stromert mit mir zur Tonkuhle
wo wir noch nie waren
neckt mich mit seinen Kumpels
nimmt mich mit zum Baden im Kanal
zeigt mir, wie man ein Fahrrad ganzmacht
jagt mit mir Hühner
kann mit mir traurig sein
hat auch Angst
...
2024-09 | Roman | Rezension
Baron, C. (2020). Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein.
»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«
Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.
Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.
Diese Inhaltsangabe auf der Verlagsseite macht nicht nur Werbung für das Buch, sie entspricht meiner Leseerfahrung. Das Buch ist in meinen Augen die deutsche, neuzeitliche Entsprechung zu dem irischen Klassiker Die Asche meiner Mutter von McCourt und dem amerikanischen Bestseller Ein Haus aus Glas von Walls. Diese beide Bücher und auch die Filme dazu werden Ihnen auf der Seite Medien vorgestellt. Baron wünsche ich, dass seine schmerzhafte und lehrreiche Geschichte ebenfalls verfilmt wird.
Ein Mann seiner Klasse ist ein durch und durch ambivalentes Werk. Die Diplom-Pädagogin und Fachbuchautorin Ursula Lambrou hat in Familienkrankheit Alkoholismus (1990) darüber geschrieben, dass viele betroffene Kinder in einem unerträglichen familiären Loyalitätskonflikt aufwachsen, den sie oftmals "lösen", in dem sie mit einer Seite paktieren und die andere ablehnen. Baron hält die Balance. Er pendelt zwischen Schwarz und Weiß geduldig erzählend hin und her, bis sein Roman Grautöne und Farben entwickelt.
Der Protagonist, der Junge Christian, ist zerrissen zwischen der Liebe und Bewunderung für den Vater einerseits und Angst, Hass und Ekel andererseits. Christian laviert zwischen den vielschichtigen, verfeindeten Familienfronten: Mutter gegen Vater, Vater gegen Tante, Tante gegen Tante, Mutter gegen Großvater. Diese Fronten sind durch süchtige, co-abhängige Gegensätze gekennzeichnet.
Schließlich muss Christian mit dem Erwachsenwerden zunehmend ein persönliches Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Klassen finden, dem "assozialen" Arbeitermilieu, aus dem er stammt, und dem "bürgerlichen" Bildungsmilieu, in das er aufgrund von Abitur und Studium hineinwächst. Ein hintergründiger, selbstreflexiver Humor hilf Christian, weder gleichgültig zu werden, noch Partei zu ergreifen und nach und nach eigene, unabhängige Sichtweisen zu entwickeln. Sympathisch ist das Buch darin, dass es ein offenes, unfertiges Ende hat. Christian ist am Schluss nicht geläutert, er kommt nicht zu einer allumfassenden Erkenntnis und es gibt kein Happy End. Das ist gut so. Lassen wir dem Autor das letzte Wort:
Mit all meinem Zorn und all meinem Glück, mit all meinem Schmerz und all meiner Überraschung, mit all meinem Scham und all meinem Stolz, mit all meiner Angst und all meiner Liebe, mit all meinem Hass und all meiner Hoffnung, mit all meinen Zweifeln werde ich kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.
» Verlagsseite
2024-08 | NACOA | Online-Salon
Internetplattform für erwachsene Kinder
NACOA Deutschland e.V. hat mit dem Online-Salon ein spannendes neues Format entwickelt. Aus der jüngsten Einladung dazu:
Der Salon bietet eine Plattform für Erwachsene Kinder, Interessierte, Fachkräfte und alle, die von einer suchtbelasteten Familie betroffen sind. Gemeinsam wollen wir uns zu ausgewählten Themen treffen, um uns über unsere Erfahrungen auszutauschen, Wünsche und Anregungen zu besprechen und offene Fragen zu beantworten.
Wir möchten besonders Fachkräfte dazu ermutigen, sich aktiv einzubringen, Fragen zu stellen und von den persönlichen Geschichten der Betroffenen zu lernen. Es ist uns wichtig, dass dieser Raum für alle Anliegen offen ist, egal ob sie sich direkt auf das Thema beziehen oder nicht. Zu Beginn werden wir 15 Minuten das Thema vorstellen, danach gibt es ausreichend Raum und Zeit, um alle Fragen, Wünsche und Anliegen zu besprechen.
Ihr Engagement und Ihre Offenheit sind entscheidend, um gemeinsam neue Impulse zu setzen und voneinander zu lernen. Alle, die von einer suchtbelasteten Familie betroffen sind – sei es als erwachsene Kinder, Interessierte oder Fachkräfte – sind herzlich willkommen.
Der nächste Termin am 4. September 2024 von 18.00 - 19.30 Uhr hat die Überschrift: Zwischen Stärken und Erschöpfung - Wie erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien zwischen gesunder Anpassung und übermäßiger Leistung navigieren. Den Zoom-Link inklusive Meeting-ID und Kenncode finden Sie auf der verlinkten Seite für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien von NACOA.
» Website NACOA (eKS)
2024-08 | Buch | Rezension
Bedor, C. (2020). Diastimmen. Norderstedt: Books on Demand.
Thomas Lehr, der Protagonist der Geschichte und Schriftsteller, macht sich ungefähr 25 Jahre danach mit Schreibmaschine, Fotoapparaten und Schreibtischstuhl und ganz viel Augenzwinkern auf Spurensuche seiner suchtbelasteten Familiengeschichte. Eine Kostprobe dazu:
"Ich will während meines Urlaubs nicht zu Hause bleiben!", hatte Lehrs Frau erst neulich gesagt. "Ich will draußen etwas erleben!" Er erlebte drinnen etwas. In sich selbst. Da ging regelrecht die Post ab. Thomas Lehr brauchte das Draußen nicht. Er war gedanklich permanent unterwegs. Hauptsächlich in seiner Vergangenheit. Und in der Vergangenheit derjenigen Menschen, die damals um ihn waren. Man lebte ja nicht nur in seiner eigenen Vergangenheit. Andere Vergangenheiten wurden miterlebt. So griff Lehr mit dem Schreiben in die anderer ein. Ob sie es wollten oder nicht.
Es hat mir viel Vergnügen bereitet, den Protagonisten bei seinen Ausflügen im tiefsten, katholischen Sauerland auf der Suche nach seiner Geschichte und Identität zu begleiten. Der schon 52-jährige Lehr ist von seiner belasteten Kindheit in einer Familie, die nach außen den verlogenen heilen Schein der Bürgerlichkeit hochhielt, immer noch tief verunsichert. Seine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle in Bezug auf sein vergangenes wie auch gegenwärtiges Leben sind entsprechend zögerlich und vage.
Dies findet Ausdruck darin, wie er durch die Wälder und Orte der Kindheit stolpert und irrt, z.B. auf der Suche nach einer Sprungschanze am Rimberg oder einem "schönen Ort" im Wald, den die Familie auf Ausflügen in den 60ern besucht hatte. Lehr findet zumeist nicht, was er sucht, dafür sieht er viele andere Dinge. Seine emotionale Unklarheit kontrastiert mit den genauen Beschreibungen z.B. von Familienereignissen, den Wäldern des Hochsauerlandes oder den technischen Details von Autos, die in der Familie kaputt gefahren wurden.
Das erinnert an die Bücher der Nobelpreisträgerin für Literatur, Annie Ernaux, die sich in einer Art Selbstfindungsprozess autobiografisch und soziologisch mit ihrer persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Entfremdung auseinandersetzt. Wie Ernaux untersucht der Protagonist nicht das Besondere, sondern das Profane, Alltägliche seiner kleinbürgerlichen Herkunft und Existenz. Und wie sie sucht er den Zugang zu sich im Außen seiner Erinnerungen - metaphorisch nennt er diese Dias - und obgleich er dort nicht fündig wird, geschieht dennoch eine innerliche Entwicklung und Klärung:
Wie es mir jetzt geht? Emotional fehlt mir die Brücke von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Zur augenblicklichen Gegenwart. Scheinbar löst sich was. In mir. Scheinbar werden Gefühlselemente zurechtgerückt. Weiterhin bleiben Dinge unklar. Krankmachende Gefühle. Die kenne ich seit meiner Kindheit.
Wie viele Kinder aus Suchtfamilien hat Lehr Vernachlässigung und Gewalt erfahren und leidet als Folge an diffusen Ängsten, Identitäts- und Selbstwertproblemen. Der Autor, Christian Bedor, hat mit Thomas Lehr einen Antihelden gezeichnet, der eine sympathische Art hat, sich nicht zu ernst zu nehmen und mit seinen Unsicherheiten, Schwächen und Irrtümern tolerant, humorvoll und liebevoll umzugehen. Diese Resilienz, mit der ich mich als Leser gut identifizieren kann, ist der besondere Wert des Werkes von Bedor.
Kinder aus Suchtfamilien können gnadenlos kritisch mit sich sein. Wer also die herzerwärmende Resilienz von Lehr in sich entdecken möchte, dem ist das Buch wärmstens zu empfehlen. Übrigens kann man es trotz der sensiblen Inhalte abends gemütlich im Bett lesen und danach zufrieden einschlafen.
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2024-07 | Philosophie | Impuls
Besinnliche Sommerpause
Das Frühjahr war schon ereignisreich, die zweite Jahreshälfte verspricht, noch aufregender zu werden. Einige spannende Veranstaltungen in der Sache der Angehörigen sind für Spätsommer und Herbst schon in trockenen Tüchern, andere sind noch in der Entwicklung. Ich werde beizeiten berichten. Doch jetzt macht Co-Abhaengig.de erst einmal eine Sommerpause, um tief durchzuatmen, sich zu besinnen und neue Ideen zu entwickeln.
Meine Lektüre für den Urlaub liegt schon bereit: "In einem anderen Leben" von Linus Reichlin, "Kinderwhore" von Maria Kjos Fonn und "Der kluge Säufer" von Franziska Steinrauch. Alle Bücher wurden mir von Kolleginnen zum Thema Kinder aus Suchtfamilien wärmstens empfohlen.
Einen philosophischen, therapeutischen Impuls möchte ich Ihnen zur Sommerpause geben. Diesen habe ich von einem erwachsenen Kind aus einer Suchtfamilie, als wir darüber korrespondiert haben, wie befreiend und befriedigend - im Sinne von inneren Frieden finden - es ist, sich dem Leben und anderen Menschen zu öffnen, zu sich zu stehen, zu leben und zu wachsen. Es ist ein Zitat aus der Festrede: "Wie wäre es, gebildet zu sein?", des Schweizer Philosophen Peter Bieri (2005):
Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draussen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, dass Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann. Ich erfahre, was es heisst, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu werden.
Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, dass ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über blosse Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen eine selbstbestimmte und friedliche Sommerzeit.
Nachtrag: Die Bücher von Kjos Fonn und Steinrauch habe ich mittlerweile rezensiert, siehe in der Rubrik Romane auf der Seite Medien. Beide Bücher haben mir sehr gut gefallen. Das Buch von Reichlin habe ich aus meiner Empfehlungsliste entfernt, weil es eine widerliche, uneinsichtige, süchtige Geschichte wiedergibt.
2024-06 | Saarbrücken | Lesung
Die Frau, der Alkoholiker und die anderen
Frau Altmeier von der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle des Caritasverbandes für Saarbrücken und Umgebung e.V. hatte mich zu einer Lesung nach Saarbrücken geladen. Die Veranstaltung fand am Freitagabend, 14.06.2024, im Lesecafé der Stadtbibliothek, Gustav-Regler-Platz 1, statt. Aus der Ankündigung:
Jens Flassbeck liest aus seinem Buch „Ich will mein Leben zurück! – Selbsthilfe für Angehörige von Suchtkranken“. Nahe Angehörige eines Suchtkranken erleben Tag für Tag eine Achterbahn der Gefühle: Scham, Ohnmacht, Wut und Enttäuschung, aber zugleich auch immer Sorge um den süchtigen Partner oder Elternteil und Hoffnung auf eine Wendung. Doch die Erschöpfung im Dienste des Süchtigen ist oftmals vergebens. Das Buch hilft co-abhängig verstrickten Menschen mit vielen Anregungen und Übungen, zu einer gesunden Distanz und wieder zu sich selbst zu finden.
Die Aktionswoche Alkohol vom 8. bis 16. Juni 2024 stellt unter der zentralen Frage „Wem schadet dein Drink?“ die Auswirkungen des Alkoholkonsums auf Dritte in den Mittelpunkt. Denn: Alkohol schadet nicht nur denen, die ihn trinken. Problematischer Alkoholkonsum und Abhängigkeitserkrankungen haben Auswirkungen auf andere. Sowohl Menschen im sozialen Umfeld als auch die Gesellschaft tragen die Folgen. Betroffene gibt es in fast allen Lebensbereichen.
Ich nutze gerne Poesie- und Bibliotherapie (siehe dazu Wikipedia) in der psychotherapeutischen Behandlung. Poesietherapie ist eine besonders wirksame Interventionsform, weil sie verschiedene Methoden vereint: Motivation, Erlebensaktivierung, emotionsfokussierte Methodik, kognitive Umstrukturierung und narrative Exposition. Darüber hinaus macht es einfach Spaß, gemeinsam mit Worten, Sätzen und dem Zwischen-den-Zeilen zu spielen.
An dem Abend habe ich Texte von Klientinnen und von mir selbst vorgetragen. Ich habe die Veranstaltung unter ein Motto gestellt, welches ich aus dem Buch "Eine Art zu leben" des Schweizer Philosophen Peter Bieri abgeleitet habe (S. 21): Die Würde der Angehörigen wiederherzustellen, indem ihrem einzigartigen Subjektsein "mit erzählerischer Schwerkraft" Raum und Stimme gegeben wird. Die Angehörigenproblematik der Sucht mal anders, kreativ auf die Bühne zu bringen, hat mir sehr viel Vergnügen bereitet. Ich will dies in Zukunft vertiefen.
Und dann hat die Reise nach Saarbrücken zwei glückliche Wendungen genommen. Manchmal muss man weit weg in die Fremde fahren, um überraschende Begnungen zu haben: Erstens war eine Autorin zugegen, die ich bewundere, und wir haben nach der Veranstaltung gemeinsame Projekte zum Thema der erwachsenen Kinder aus Suchtfamilien angedacht. Zweitens habe ich die Vorsitzende von NACOA und Kollegin, Frau Corinna Oswald, kennengelernt und am Folgetag haben wir uns bei einem Kaffee angeregt ausgetauscht. Auch wir haben eine Kooperation in naher Zukunft besprochen.
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» Suchtberatung Saarbrücken
2024-06 | Spiegel | Interview
Spiegel Psychologe
Vor kurzem hatte ich zwei Interviews zur Angehörigenthematik. Das bedeutet für mich stets viel Stress, neben der täglichen psychotherapeutischen Arbeit, mich den Fragen der JournalistInnen zu stellen und Rede und Antwort zu stehen. JournalistInnen wünschen möglichst spontane und prägnante Antworten. Als Psychotherapeut bin ich dies nicht geübt; ich bin gewohnt, anderen zu helfen, eigene Antworten zu finden. Auch ist es eine Gratwanderung, eine vielschichtige Thematik, wie es die Angehörigenproblematik der Sucht ist, verständlich auf den Punkt zu bringen, ohne zu vereinfachen.
Das Interview mit Ute Becker ist positiv verlaufen. Sie war ungewöhnlich gut vorbereitet, hatte schon zuvor zur Angehörigensache der Sucht veröffentlicht. Und sie hatte im Vorlauf ausgiebig mit drei Angehörigen gesprochen. Unser Gespräch war ganz spannend, weil wir beim Frage-Antwort-Spiel gemeinsam nach Antworten gesucht haben. Der Artikel von Frau Becker ist nun online auf Spiegel Psychologie erschienen und meines Erachtens vorzüglich geworden: Einfach, klar und fundiert. Nur ein kurzer Absatz aus dem Artikel, um keine Urheberrechte zu verletzen:
Hier erzählen drei Frauen von ihrer Kindheit mit suchtkranken Eltern und Großeltern – und von ihrer späteren Liebe zu suchtkranken Partnern und zu einer drogenabhängigen Tochter. Worunter haben sie gelitten? Welche Muster aus der Kindheit haben sich in späteren Partnerschaften wiederholt? Und vor allem: Was hat ihnen geholfen, sie zu durchbrechen?
Die Erzählungen der Betroffenen lassen das Thema konkret und lebendig werden. Unter den interviewten Frauen ist auch Jil Rieger, die ich aufgrund ihres kompetenten und authentischen Engagements für Angehörige sehr schätze. Bedauerlicherweise ist der Artikel nur mit Abo zu lesen. Dass sich große Medien wie der Spiegel dem Thema der Angehörigen Suchtkranker widmen, halte ich für bedeutsam, nicht nur um Betroffene zu erreichen und aufzuklären, sondern auch um Druck auf die Gesundheitspolitik auszuüben. - Mehr davon!
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2024-06 | Buch | Rezension
Steinrauch, F. (2012). Der kluge Säufer. Roman von Liebe und Sucht. Tübingen: Konkursverlag.
Dieses literarische Debüt erzählt eine schmerzhafte Liebesgeschichte zwischen zwei unkonventionellen, freiheitsliebenden und sinnlichen Menschen. Die Frau, aus deren Perspektive geschrieben wird, ist erst achtzehn, als sie dem "Mann ihres Lebens" begegnet. Ihre Brüder sehen Ennos Hände und denken: Mit dem stimmt etwas nicht, doch wissen auch sie nicht, was. Das erste Jahr über gelingt es Enno zu verbergen, dass er alkoholkrank ist. Bald droht die Liebe ganz der Sorge und dem Mitleid zu weichen. Dagegen kämpft die Ich-Erzählerin an. Als Enno verunglückt, verschafft ihm das eine Pause. Monatelang trinkt er keinen Alkohol. Doch dann...
Auf Co-ABHANGIG.de nehme ich ausschließlich angehörigenzentrierte Inhalte auf; das ist die Absicht, die Methode und der Sinn dieser Website. Wie auch schon beim Buch Dunkelblau (s.o.) verstoße ich mit der Berücksichtigung des Buches von Franziska Steinrauch - der Name ist ein Pseudonym, unter dem die Autorin Sonja Ruf veröffentlicht - eigentlich gegen die Maxime. Zwar ist der Roman aus der Perspektive von Franziska geschrieben, doch es geht fast ausschließlich um den alkoholkranken Ehemann Enno. Anders auch, als das zitierte Abstract es nahelegt, ist es eher eine konventionelle Trinkergeschichte, wie jemand persönliche und partnerschaftliche Freiheit und Sinnlichkeit im Suff ertränkt.
Der Verfall von Enno wird ungeschönt beschrieben, doch seine selbstsüchtige Zerstörungswut und seine destruktiven Motive werden einseitig verstanden und erklärt. Die Beweggründe, warum Franziska ihre Liebe über 20 Jahre mit Füßen treten lässt, bleiben im Dunkeln. Warum verlässt sie z.B. einen Liebhaber enttäuscht, mit dem sie sich eine feste Beziehung wünscht, weil sie in einem Detail unterschiedliche sexuelle Vorstellungen haben, bleibt aber bei Enno, obgleich er sie in allen Belangen enttäuscht? Selbst als er Abstinenz erzielt, dreht sich alles weiter um sein überwundenes Leiden und seine wiedergewonnene Lebendigkeit. Die Verzweiflung und das Leben von Franziska werden allenfalls angedeutet.
Anders als z.B. in der Erzählung von Sheff Beautiful boy, kriegt die Geschichte nicht die Kurve, Franziska in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Die Frau bleibt blass. Dies löst ein ambivalentes Empfinden in mir aus, ich finde es gleichermaßen konsequent als auch schade. Schade ist es, weil es wirklich irgendwie auch eine Liebesgeschichte ist und die Fragestellung spannend wäre, wie sich Franziska trotz der frustrierenden Partnerschaft ihre Liebesfähigkeit und Lebenszugewandtheit erhält.
Warum habe ich das Buch hier dennoch aufgenommen? Erstens gibt es Romane über eine Kindheit in einer Suchtfamilie häufiger, Romane über eine süchtig, co-abhängige Partnerschaft eher weniger. Zweitens legt das Buch zwischen den Zeilen und bis zur letzten Zeile Zeugnis darüber ab, was Co-Abhängigkeit ist: Das Kreisen um den Suchtkranken, selbst wenn dieser die Sucht an den Nagel hängt und ins Leben zurückkehrt. Die Überwindung der Sucht beendet nicht die Co-Abhängigkeit, ein häufiger Irrtum von verstrickten Angehörigen.
Drittens möchte ich einen persönlichen Wunsch äußern, der mit jeder Seite gewachsen ist, zum Ende des Werkes in der wiederholten Enttäuschung beinah schmerzhaft wurde, und mich damit direkt an die Autorin wenden: Frau Steinrauch, bitte, schreiben Sie einen zweiten Roman über die Geschichte von Franziska, über ihre Verzweiflung, Ängste, Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen, ihren co-abhängigen "Affen", ihre Liebschaften, biografischen Prägungen, welche ihre Abhängigkeit, aber auch Liebe begründen, und Ihre Karriere als Schriftstellerin, über Ihre kleinen und großen Erfolge und Misserfolge als Ehefrau, als Liebhaberin, als Schriftstellerin und vor allem als (Mit-)Mensch. Bitte, trauen Sie sich, für Franziska!
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2024-05 | Buch | Rezension
Hecht, J. (2021). In diesen Sommern. München: C.H.Beck.
Die Literaturwissenschaftlerin Janina Hecht hat ihren Debütroman über eine scheinbar normale, kleinbürgerliche Kindheit in einer durchschnittlichen deutschen Familie geschrieben, doch das familiäre Miteinander und die Atmosphäre wird zunehmend durch die Alkohol- und Verhaltensexzesse des Vaters belastet. Das Abstract zum Buch:
Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. Erst unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen Sommersonne. Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwellt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie - alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. Ebenso unaufdringlich wie fesselnd erzählt Janina Hecht von schönen und schrecklichen Tagen, von Ausbruch und Befreiung und vom Versuch, sich im Erinnern dem eigenen Leben zu stellen. In diesem Sommer ist die bewegende Geschichte einer Familie auf der unentwegt gefährdeten Such nach einem stillen Glück.
Das gut zu lesende und kurzweilige Werk von Hecht mutet skizzenhaft an. Die Ich-Erzählerin versucht sich, zu erinnern, doch die Erinnerungen sind zunächst vage, anekdotisch und fragmentiert, geordnet allein durch die Chronologie der Ereignisse. Im Verlauf des Buches und mit dem Älterwerden von Teresa gewinnen sie an Zusammenhang und Sinn. Die Schilderungen der Episoden sind zwar aus der Perspektive von Teresa, doch der Leser erfährt nur andeutungsweise über ihr Innenleben. Diese Zurückhaltung bietet viel Spielraum für den Leser, innezuhalten und sich einzufühlen. Statt einer Rezension möchte ich drei Stellen aus dem Buch zitieren, um einen Eindruck zu geben:
Wenn ich an diese Jahre denke, frage ich mich, ob es eine Kontinuität der Ereignisse gibt, eine Entwicklung, auf die ich mich verlassen kann. Ich versuche die Situationen zu ordnen, sie zusammenzuhalten, in ihnen etwas zu finden, was über die konkreten Momente hinausweist. (S. 25)
Diese Momente, in denen mir seine Spur verloren geht. Als wäre er auf einmal nicht mehr dabei gewesen. Dann steht er im Zentrum von allem und nichts kann ohne Bezug zu ihm sein.
Manchmal bin ich wütend darüber, dass ich nie wieder mit ihm sprechen kann. Aber diese Wut hat keine Richtung. Ich kann sie nicht herunterschlucken und sie verschwindet nur sehr langsam.
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