Süchtige klagen laut, Angehörige leiden still.

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Aktuelles

Folgend finden Sie aktuelle Informationen und Kommentare zur Angehörigenthematik der Sucht, z.B. zu neuen Angeboten, gesundheitspolitischen Ereignissen, Buchveröffentlichungen und zu Aktivitäten des Autors.

Ältere Beiträge können Sie auf der Seite Archiv einsehen.

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2024-11 | Radio | Selbsthilfe

Selbsthilfe hat Stimme

Einer Gruppenmoderatorin der Freundeskreise hat mich darauf hingewiesen: Sie und eine weitere Angehörige haben dem Radio Gütersloh ein Interview zur Thematik der Angehörigen und Selbsthilfe gegeben. Übrigens werde auch ich in dem Feature erwähnt. Aus der Ankündigung:

Selbsthilfegruppe für Angehörige von suchtkranken Menschen

Am 13. November 2024 ging es in unserer Sondersendung "Selbsthilfe hat Stimme" um ein Thema, das oft unter den Tisch fällt, aber unglaublich wichtig ist: Sucht trifft nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Familien. Angehörige leiden häufig unter großen emotionalen, psychischen und finanziellen Belastungen.

Wenn der Partner, ein Elternteil oder ein Kind abhängig ist – sei es von Alkohol, Medikamenten oder Drogen – trifft das auch die Angehörigen hart. Für sie ist es wichtig, Wege zu finden, wie sie mit der Situation umgehen können, ohne daran zu zerbrechen. Genau darum geht es in unserer Sondersendung am 13.11.2024. Wir stellen die Selbsthilfegruppe für Angehörige von Menschen mit Suchterkrankungen in Gütersloh vor. Eva und Ulrike (Namen von der Redaktion geändert) erzählen ihre Geschichte – wie sie Hilfe fanden, schwierige Momente gemeistert haben, was die Treffen ausmacht und wie ihr selbst teilnehmen könnt.

Empfehlenswert, hören Sie selbst herein!

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2024-11 | Musik

Wenn er nicht trinkt

Eine Betroffene hat mich auf eine Neuveröffentlichung von Sarah Lesch hingewiesen. Auf der Platte "Gute Nachrichten" ist auch das Lied "Wenn er nicht trinkt". Lesch singt es aus der Perspektive einer Frau, welche mit einem Trinker liert ist. Der gleichermaßen ironische wie auch traurige Unterton, mit dem sie von dem gemeinsamen Lebensalltag erzählt, spricht mich sehr an. Die Frau steckt zwar noch in der Situation und man weiß nicht, ob sie sich befreien wird, doch sie hat schon verstanden, dass er nicht aufhören wird und sie dem ohnmächtig ausgeliefert ist.

Ich mag es gern, wenn er morgens schon auf ist
und mir liebevoll Kaffee ans Bett bringt,
weil er sowieso schon an der Theke war,
weil er nicht schlafen kann,
wenn er nicht trinkt.
...

Bei der Gelegenheit darf ich Sie auf die Seite Medien hinweisen. Dort finden Sie weitere Musik zum Angehörigenthema, aber auch Romane, Filme, Fotokunst etc. Alle Lieder und Platten dort habe ich gehört, alle Filme gesehen und alle Bücher gelesen, bevor ich sie auf die Liste aufgenommen habe. Diese kleine Bibliothek ist in den letzten vier bis fünf Jahren peu à peu entstanden. Das Auswahlkriterium für die Aufnahme auf die Seite ist, ob der Beitrag angehörigenzentriert ist. Falls Sie kreative Werke zum Thema kennen, die noch fehlen, schicken Sie mir gerne ein E-Mail.

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» Medien

2024-11 | Autobiografie | Rezension

Hoppe, C. (2024) Säuferkind. Mein Leben als Co-Abhängige und wie ich trotzdem glücklich wurde. Berlin: Ullstein.

Die letzten drei Jahre habe ich alle (autobiografischen) Romane zum Angehörigenthema gelesen, die mir empfohlen wurden und die ich finden konnte, insgesamt 20 Bücher. Jetzt reicht es! Auf meinem Nachttisch liegen schon zwei Bücher mit anderer Thematik. Darauf freue ich mich. Doch noch eine letzte Rezension zu einem Buch, dessen Wert darin liegt, dass es ganz unspektakulär und unprätentiös daherkommt. Cornelia Hoppe schildert ihre Geschichte als Säuferkind. Nachstehend die Inhaltsangabe von der Verlagsseite:

St. Pauli, 70er Jahre: Cornelia Hoppe wächst mit alkoholkranken Eltern in bitterer Armut auf. Ihr Spielplatz sind triste Trinkerkneipen mit zwielichtigen Gestalten. Einerseits schämt sich Cornelia schon als kleines Kind für ihre Eltern, andererseits sorgt und kümmert sie sich um sie – als typisch Co-Abhängige.

In der Ehe mit einem erfolgreichen Banker scheint sie dann schließlich das Glück gefunden zu haben. Leider merkt Cornelia aber irgendwann, dass auch ihr Mann trinkt und der Teufelskreis von vorne beginnt: Sie leidet still, schämt sich, kümmert sich, hält trotz allem zu ihm. Irgendwann erkennt sie, dass auch ihre Kinder drohen, co-abhängig zu werden. Trotz wirtschaftlicher Abhängigkeit schafft es Cornelia schließlich, ihren Mann zu verlassen – und damit sich und ihre Kinder zu retten.

Säuferkind ist ein ehrlicher, schonungsloser Bericht, der gleichzeitig Mut macht und zeigt, dass es möglich ist, sich aus den Fesseln der Co-Abhängigkeit zu befreien.

Wie auch das Buch von Klaffke-Römer, Mein Herz an stillen Tagen, könnte Hoppes Geschichte als Lehrbuch zu dem Themenkomplex Kinder aus Suchtfamilien und Co-Abhängigkeit genutzt werden. Ihre Autobiografie ist die einzige, die ich kenne, in der das Phänomen geschildert wird, wie die Kindheit in einer Suchtfamilie später in einer Ehe mit einem suchtkranken Mann mündet. Doch anders als Klaffke-Römer und andere schildert Hoppe ihre Geschichte ganz unaufgeregt. Sie nimmt die Perspektive einer Person ein, die erstaunt zurückblickt, was ihr alles widerfahren ist. So beherrscht Hoppe die Kunst, auch hochgradig beschämende Situationen nüchtern zu erzählen, ohne dass die Erzählung in "der Scham vor der Scham" versinkt. Ein Zitat dazu (S.194 - 195):

Die Reflexionen in dem Buch sind eher sparsam und klar, die Sprache ist einfach und der Erzählfaden stringent, ohne große Dramaturgie. Diese erzählerische Bescheidenheit wirkt stimmig, authentisch und sympathisch. Als Leser bin ich beim Lesen - mit Ausnahme des letzten Teils - nur milde affiziert worden, man fühlt mit der Protagonistin mit, ohne in ihrer leidvollen Betroffenheit zu versinken. Dadurch sind die Geschehnisse gut nachzuvollziehen, ohne eine schlaflose Nacht danach zu bewirken.

Es ist, als warte man auf ein Wunder. Man wünscht sich so sehr, dass es eintritt. Ich habe dann gedacht, so Mutti, heute ist alles schön, jetzt gehst du bitte nicht in die Kneipe. Die Folge war Enttäuschung.

Dass ich wiederum nicht die Ursache dafür bin, dass meine Eltern getrunken haben, das wusste ich schon. Und diese Erkenntnis ist gar nicht mal so wenig. Ich hatte keine Schuld auf mich geladen, war kein Kind, das seinen Eltern Kummer machte.

Die besondere Tragik einer Co-Abhängigkeit zeigt sich ja vor allem dadurch, dass man sich die Verantwortung für die Süchtigen selbst auflädt. Gleichzeitig wünscht man sich, dass das eigene Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Respekt und Liebe von den eigenen Eltern erfüllt wird. Die sind aber so sehr in ihrer eigenen Sucht gefangen, dass sie die seelischen Verletzungen, die ihre Kinder davontragen, nicht wahrnehmen.

Der letzte Teil (S. 203 ff.) hat mich doch noch emotional angefasst. Hoppe berichtet, wie sie mit einem Alkoholiker eine Beziehung beginnt, ihn heiratet und eine Familie gründet. Sehenden Auges rennt sie wieder in das Unglück, welches sie als junge Frau abgeschüttelt hat. Alles, was er tut - saufen, schimpfen, abwerten, beschämen, drohen, Gewalt etc. - kennt sie aus der Kindheit. Sie sieht alles, doch erkennt es nicht. Sie gerät immer tiefer in die co-abhängige Falle, obgleich Freundinnen sie warnen. Sie hört ihnen nicht zu.

Als Psychotherapeut (in der Position der Freundinnen) erfahre ich diese Ohnmacht mit Betroffenen jede Woche. Sie ist schwer auszuhalten. Ungezählte Klientinnen, Töchter aus Suchtfamilien, haben mir erst nach ein, zwei oder drei Jahren Therapie kleinlaut offenbart, dass ihr Partner auch suchtkrank ist. Noch mehr Klientinnen berichten in der Therapie hoffnungsfroh davon, einen neuen Mann kennen gelernt zu haben, bei dem "alles anders" sei, und hören nicht zu, wenn ich ihnen behutsam meine Zweifel mitteile, dass sie das Offensichtliche ausblenden. Dass Cornelia Hoppe dieses schwierige, schamhafte und schmerzvolle Phänomen schonungslos schildert, das ist der besondere Wert ihres Werkes. Noch ein abschließendes Zitat dazu (S. 226 - 227):

Wenn ich die Glaubenssätze meiner Kindheit suche, finde ich nichts, was mir in meiner Ehe hätte helfen können... Die Glaubenssätze, auf die ich zugreifen konnte, waren die einer Co-Abhängigen. Sie waren dazu geeignet, meine erneute Co-Abhängigkeit zu zementieren, und nicht, mir daraus zu helfen.

» Säuferkind auf Ullstein

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2024-11 | Versform

Worte trösten

Die Mutter eines suchtbedingt verstorbenen Sohnes hat mir geschrieben, dass sie jedes Jahr zum internationalen Gedenktag für verstorbene drogengebrauchende Menschen am 21. Juli ein Gedicht schreibt. Zwei davon habe ich auf der Seite Versform mit ihrem Einverständnis aufgenommen. Nachstehend einige Strophen aus dem Gedicht: "Du bist gegangen". Die Worte vergegenwärtigen eindrucksvoll, dass selbst nach dem Tod und in der Trauer die dysfunktionale, suchtzentrierte Familiendynamik fortbesteht. Das vollständige Werk und viele andere finden Sie auf der Seite Versform unter der Rubrik Ansichten.

...
Du bist gegangen.
Es fehlt ein Teil;
nichts ist mehr heil.
Zählte für dich denn nur noch der Stoff
und deshalb tagtäglich zu Hause der Zoff,
Ärger, Geschrei, nur Streit und Zank!
Kaum auszuhalten, es machte uns krank.
Aber deinen Tod zu ertragen, das ist schwer,
ich habe keinen Bruder mehr.
Ihr – ihr trauert - als gab es ihn nur allein,
das tut mir weh, so kann es nicht sein!
Alles dreht sich nur um ihn, immer und immer;
Dieses zu spüren macht es noch schlimmer.
Selbst gegenwärtig - nach seinem Tod,
seht ihr mich nicht, nicht meine Not!
Trauer – Neid auf ihn, durchzieht mein Herz,
wer – frag ich mich – lindert meinen Schmerz?
Hallo Ihr -
ich bin noch hier!
...

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2024-10 | Vortrag | München

Blaues Kreuz München e.V.

Angestoßen durch ein Interview von mir in der Apotheken-Umschau hatten Herr Gerstlacher, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Blauen Kreuzes München, und ich vor einiger Zeit eine anregende Korrespondenz zum Angehörigenthema. Als Resultat davon hat er mich für den 21.10.2024 zu einem Vortrag nach München in der Paul-Gerhardt-Kirche in München-Laim eingeladen. Der Vortragstitel lautete: "Modelle Angehörige Sucht".

Das Blaue Kreuz München bietet Selbsthilfe sowohl für Suchtbetroffene als auch für Angehörige an. Sechs Angehörigengruppen habe ich auf der Website gezählt. Vorbildhaft! Zu dem Abend waren ungefähr 70 Personen gekommen, die Hälfte waren als Angehörige und die andere Hälfte durch Sucht betroffen. Bedauerlicherweise waren nur wenige KollegInnen anwesend. Auch um mit Ressentiments aufzuräumen, aber vor allem aus Gründen der Wertschätzung, habe ich 17 Fachkonzepte der Angehörigenproblematik vorgestellt. Danach habe ich mein Metakonzept vertieft, in das die vorgestellten Ansätze eingeflossen sind. Besonderes Augenmerk galt dabei der einseitigen Dynamik des abhängigen Systems. Abschließend habe ich mein Selbsthilfe-Konzept Leben zurück! angerissen.

Für mich als Vortragender und Psychotherapeut ist es stets spannend, was für eine Resonanz meine Worte auslösen. So viele intelligente Zwischenfragen und -bemerkungen von Angehörigen und auch Suchtbetroffenen habe ich noch nie erlebt. Besonders berührt hat mich das Feedback einer Angehörigen am Ende. Sie äußerte, mitzunehmen, dass sie sich Raum für sich selbst nehmen dürfe. Diese Möglichkeit erlebe sie als neu, seltsam, befremdend. Daraufhin habe ich sie gefragt, wie es sich anfühlt, dass sie sich gerade Raum nehme, sich anzusprechen. Sie konnte es noch nicht sagen, doch die keimende Freude und Trauer darüber konnte ich schon in ihrem Gesicht und ihren Augen erkennen. Für eine solche kleine Begegnung lohnt es sich, nach München zu fahren.

Ich bin mit einem zuversichtlichen, bestärkenden Eindruck nach Hause gefahren, dass Angehörige in München eine solidarische und kompetente Anlaufstelle haben. Eine gekürzte Version der Präsentation zum Vortrag habe ich Ihnen angehängt.

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2024-10 | Autobiografie | Rezension

Koch, C. (2010) Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern. Hamburg: Acabus.

Aus dem Abstract zum Buch:

„Wessen Moral?“ ist ein autobiografischer Roman über eine junge Frau, die retrospektiv das Verhältnis zu ihrer suchtkranken Mutter beleuchtet und zu verstehen versucht. Zunächst noch mit den Augen eines Kindes beobachtet die Autorin wie ihre Mutter Stück für Stück an Stärke und Lebenswillen verliert. Mehr und mehr lässt sich die Mutter von ihren eigenen Süchten leiten, bis sie schließlich an ihnen zerbricht. Cécile Koch versuchte lange, sich ihre verstörende Welt mit kindlicher Fantasie zurechtzurücken. Als Außenseiterin in der Nachbarschaft und Schule erfindet sie sich Freunde und erschafft sich eine eigene Realität. Mit vierzehn Jahren reist sie sechs Wochen mit einem kleinen Wanderzirkus mit und bezahlt dafür mit dem einzigen, was sie hat - mit sich selbst. Nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr bricht ihr der Boden unter den Füßen weg...

Mit einfachen, nüchternen Worten betrachtet die Autorin rückblickend ihr Leben ohne geborgene Kindheit und ihren Versuch, aus eigener Kraft erwachsen zu werden. Nicht die nachträgliche Betroffenheit steht im Vordergrund ihrer Schilderungen. Vielmehr geht es um den Mut und auch die Probleme, das eigene Leben anzunehmen und selbstbestimmt zu führen. Der Titel „Wessen Moral?“ steht stellvertretend für alle Fragen nach den Gründen und der Gerechtigkeit der Welt, welche Cécile Koch beschäftigen.

Als ich ungefähr in der Mitte des Buches von Cécile Koch angelangt war, habe ich mich an eine Fortbildung vor einigen Jahren erinnert. Eine Kollegin hatte mir zum Ende kritisch zurückgemeldet, dass sie meine Ausführungen übertrieben drastisch fände. Diese Bewertung hat mich damals gekränkt. Ich hatte die ganz schlimmen Sachen ausgelassen, um die KollegInnen nicht zu sehr zu verstören. Wenn ich vor Betroffenen referiere, dann spreche ich auch die schrecklichen Sachen an. Die Betroffenen fühlen sich dadurch, so melden sie es mir zurück, in ihren Leiden und Schmerzen gesehen. Sie fühlen sich gewürdigt, wenn jemand versucht, das Unsagbare zu sagen.

In Veranstaltungen für KollegInnen erfahre ich immer wieder, dass viele das Thema nicht wirklich durchdringen können, entweder weil sie wohlbehütet aufgewachsen sind und die gesellschaftlichen Abgründe nur theoretisch aus Büchern und Filmen kennen oder weil sie ihr eigenes traumatisches Thema noch abwehren. Und ich erkenne die wenigen, welche selbst betroffen sind und denen dies bewusst ist. Sie sind still, schweigen und verstehen. Sie nicken fast unsichtbar an den richtigen Stellen und in ihren Augen kann ich traurige Freude darüber erkennen, dass ich versuche, ihre Not in Worte zu kleiden.

Wessen Moral? ist nicht die allerschlimmste Autobiografie, Asche meiner Mutter, Platzspitzbaby oder Kinderwhore sind nach meinem Dafürhalten noch drastischer, so schlimm, dass sie auch für mich nicht mehr nachvollziehbar sind. Das macht die ganz schlimmen Bücher irgendwie abstrakt und lesbar. Doch solche Vergleiche sind pietätlos: schlimm, schlimmer, am schlimmsten, am allerschlimmsten. Die Leiden der jungen Cécile sind sehr schlimm, gerade noch nachvollziehbar, was es eher schlimmer macht.

Ihr Ekel, ihre Scham, ihre Wut, ihre Verzweiflung, sie gehen unter die Haut und lösten körperliche Dissonanzen in mir aus. Der Dreck ihrer Kindheit war fühlbar. Die Scham und der Selbsthass von Cécile verkrampften sich wie eine Faust in meinem Bauchraum, dass ich Pausen machen musste, um zu atmen und mich zu lockern. Und vor allem das Mitgefühl mit der Protagonistin haben mich wiederholt geflutet. Ich musste dann das Buch weglegen, musste mich bewegen, mir einen bewussten Sinnesreiz zuführen, um mich zurück in meine eher friedliche Realität zu holen. Im Nachhinein denke ich, dass die besagte Kollegin zu der abwehrenden Gruppe an KollegInnen gehört. Ich würde ihr gerne das Buch von Koch schenken. Es berührt tiefgehend.

Es ist zwar schmerzhaft, doch befreiend und bereichernd, sich mit den eigenen biografischen Belastungen und Traumata auseinanderzusetzen. Darüber legt das Werk von Koch Zeugnis ab. Es ist ein mutiges und notwendiges Buch, weil es verdeutlicht, unter welchen armen und brutalen Bedingungen Kinder in unserem reichen, demokratischen Kulturkreis aufwachsen. Als besonders wertvoll habe ich wahrgenommen, dass Koch herausarbeitet, wie der emotionale Missbrauch den Nährboden für auch sexuellen Missbrauch schafft. Viele meiner KlientInnen haben wie Cécile in der Jugend erotische Ausbeutung durch ältere Männer erfahren und einige wurden durch den alkoholisierten Partner zum nicht einvernehmlichen Sex genötigt. Emotionaler und sexueller Missbrauch sind schrecklich, sie sind Spielarten derselben beschämenden, dissozialen Erniedrigung. Dazu abschließend ein Zitat aus dem Buch (S.215):

Aufgrund der Erfahrungen, die ich in meinem Elternhaus gesammelt hatte, hatte ich keine klare Vorstellung davon, was 'normal' ist. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe und Aufmerksamkeit und war wir ein verhungerter Dackel gewillt alles zu tun, um anerkannt und geliebt zu werden. Ich hatte keine gesunde Ressource, die mir ein Signal gibt, dass hier eine nicht zu überschreitende Grenze überschrtten wird, sondern hatte andauernd das Gefühl noch mehr geben zu müssen, um endlich zu bekommen, wonach ich mich sehnte. Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hat mich damals fast terrissen. Der Direktor des Zirkus hat dies bewusst zu seinen Gunsten genutzt und heute würde ich ganz klar sagen: es war Missbrauch.

2024-09 | Platzspitzbaby | Buch & Film

Halbheer, M. (2015). Platzspitzbaby: Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Lachen: Wörterseh.
Monnard, P. (Reg., 2020). Platzspitzbaby. München: EuroVideo Medien.

Seit drei, vier Jahren "fresse" ich mich durch die Literatur zum Thema der Kinder aus Suchtfamilien und sonstiger Angehöriger, sehe alle Filme, die ich finden kann, und rezensiere Bücher und Filme. Biografische Beiträge haben einen besonderen Tiefgang, sie bieten Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn. Als letztes habe ich das Buch Platzspitzbaby gelesen und den durch das Buch inspirierten, gleichnamigen Film gesehen. Die Geschichte von Michelle Halbheer ist leidvoll und typisch für das Schicksal der stillen, vergessenen Kinder aus Suchtfamilien. Die Besprechungen zum Buch und Film können Sie auf der Seite Medien unter den entsprechenden Rubriken einsehen.

Es ist ein außergewöhnlich mutiges und intelligentes Buch und Halbheer erzählt ihre resiliente Geschichte, wie sie als Kind die Hölle überlebte und dem Schicksal der transgenerationalen Weitergabe aus eigener Kraft entkam. Die Autorin analysiert darüber hinaus tiefgründig das Versagen der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Dazu ein Zitat aus dem Buch (S. 108):

Die Nachbarn, der Pfarrer, der Tankstellenshop-Besitzer, manche Eltern oder andere zufällige involvierte Menschen machten keine Anstalten, mich zu retten. Oder intervenierten sie bei der zuständigen Behörde, und diese blieb - entgegen dem gesetzlichen Auftrag - untätig? Dass auch unzählige Polizeieinsätze, bei denen die Beamten Zeugen der desolaten Zustände wurden, kein Eingreifen der Vormundschaftsbehörde bewirkten, die meine Befreiung hätten prüfen müssen, erstaunt mich heute nicht mehr. Jene, die über keine Lobby verfügen, sind leicht Opfer: Weil von der allfälligen Hilfeleistung niemand erfährt und das Nichtstun keinerlei negative Konsequenzen bewirkt.

» Verlagsseite Buches
» Website und Trailer Film
» Titelsong auf Youtube

2024-09 | NACOA | Berlin

NACOA feierte 20-jähriges Jubiläum

Auch ich bin schon lange Mitglied in der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. Das Jubiläum wurde mit zwei Veranstaltungen am 20.09.2024 in der Villa Elisabeth in Berlin begangen. Vormittags wurde eine Fachtagung durchgeführt, in der es schwerpunktmäßig um die Problematik der erwachsenen Kinder ging.

Neben einem Vortrag von Dr. Reinhardt Mayer, der anhand der Entwicklung von NACOA Deutschland e.V. einen Überblick über 20 Jahre Arbeit mit und für Kinder aus suchtbelasteten Familien gab, ging es am Vormittag insbesondere um die Zielgruppe der Erwachsenen Kinder. Ich hatte die Ehre, mit einem Impulsvortrag zur Thematik beizutragen. Danach wurde vom Journalisten Andreas Schneider eine Podiumsdiskussion mit Dirk Bernsdorf, Christina Reich, Nina Roth und mir und unter Einbezug des Publikums über Hilfsbedarfe und bestehende Angebote moderiert.

Am Nachmittag fanden Workshops statt, in denen die zukünftige Ausrichtung der Interessenvertretung in den Bereichen Bildung, Medien, Politik, Wissenschaft und Selbsthilfe diskutiert wurde, um Ideen zu sammeln, Konzepte zu entwickeln, Forderungen aufzustellen etc. Gezeigt wurde darüber hinaus die mut- und resilienzorientierte Fotoausstellung: "Gesicht zeigen! Was erwachsene Kinder suchtkranker Eltern stark gemacht hat" von Hauke Dressler.

Am Abend feierte NACOA eine Jubiläumsgala. Die JournalistInnen Christina Rubarth und Stephan Kosch führten durch den Abend und interviewten Betroffene, darunter eine Poetry-Slammerin, einen TV-Moderator und einen Journalisten. Der musikalischen Rahmen wurde durch die Sängerin Miss Pirate und den Schirmherrn des Vereins, Max Mutzke, gestaltet, beides auch bekennende Kinder suchtbelasteter Eltern. Der Abend war gleichermaßen berührend, wie auch laut, lebendig und stimmungsvoll. Den Abschluss bildete die Würdigung des Engagements des gesamten NACOA-Teams in Berlin wie auch das der RegionalsprecherInnen der Bundesländer.

Feste feiern, kann NACOA, das kann ich bezeugen. Was habe ich sonst noch aus Berlin mitgenommen? Angesichts der geringen Mitgliedergröße und des "adolszenten" Alters des Vereins, hat NACOA schon eine bewegte, reichhaltige und erfolgreiche Geschichte. Die Vielfalt an Ideen, Wissen, Kompetenzen und Engagement in der Sache, der an dem Tag in der Villa Elisabeth zusammenkam, hat mich tief beeindruckt. Jetzt geht es darum, den Worten weitere Taten folgen zu lassen. Was mir noch aufgefallen ist: Es waren viele junge Menschen anwesend. Das lässt hoffen.

» Bericht Website NACOA

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2024-09 | Versform

Wachstum durch Kreativität

Heute sprach ich in der Therapie mit einem Klienten, erwachsener Sohn aus einer Suchtfamilie, darüber, wie wichtig Kreativität ist, um den Schmerz über das Erlittene auszudrücken, Alleinsein abzumildern und Verständnis und Trost zu finden. Dem inneren Unglück durch Singen, Tanzen, Malen, Dichten, Fotografieren etc. eine äußere Form geben, kann "schon fast wieder Glück" sein, wie der Dichter Erich Fried es in einem Gedicht ausgedrückt hat. Obendrein holt es den Ressourcenschatz aus dem Schatten des Verborgenen ans Tageslicht. Probieren Sie es selbst aus!

Und dann schickte mir heute eine andere Betroffene ein Gedicht, mit der Erlaubnis, es auf Co-ABHAENGIG.de zu veröffentlichen: "Der Freund - Jungenspiele spielen". Das Gedicht verdeutlicht, wie die Betroffene in Spieldrang, Selbstentdeckung und Welteroberung gehemmt worden ist. Sie drückt ihre schmerzhafte Sehnsucht danach aus, Alleinsein zu überwinden, sich zu befreien und sie selbst zu werden. Der Schreibprozess selbst ist auch und vor allem die heilsame Verwirklichung der verborgenen Ressourcen. Im Folgenden nur einige Strophen. Das vollständige Werk und viele andere finden Sie auf der Seite Versform unter der Rubrik Ansichten.

Der Freund

brettert mit mir Bälle gegen die blau-abblätternden Garagentüren
erzählt mir abenteuerliche Träume, wenn wir längst schon schlafen sollen
mopst eine Waffel aus dem Vorratsschrank, bevor wir wieder nach draußen verschwinden
holt mich aus meiner Barrikade zum Spielen
stromert mit mir zur Tonkuhle
wo wir noch nie waren
neckt mich mit seinen Kumpels
nimmt mich mit zum Baden im Kanal
zeigt mir, wie man ein Fahrrad ganzmacht
jagt mit mir Hühner
kann mit mir traurig sein
hat auch Angst
...

2024-09 | Roman | Rezension

Baron, C. (2020). Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein.

»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«

Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.

Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.

Diese Inhaltsangabe auf der Verlagsseite macht nicht nur Werbung für das Buch, sie entspricht meiner Leseerfahrung. Das Buch ist in meinen Augen die deutsche, neuzeitliche Entsprechung zu dem irischen Klassiker Die Asche meiner Mutter von McCourt und dem amerikanischen Bestseller Ein Haus aus Glas von Walls. Diese beide Bücher und auch die Filme dazu werden Ihnen auf der Seite Medien vorgestellt. Baron wünsche ich, dass seine schmerzhafte und lehrreiche Geschichte ebenfalls verfilmt wird.

Ein Mann seiner Klasse ist ein durch und durch ambivalentes Werk. Die Diplom-Pädagogin und Fachbuchautorin Ursula Lambrou hat in Familienkrankheit Alkoholismus (1990) darüber geschrieben, dass viele betroffene Kinder in einem unerträglichen familiären Loyalitätskonflikt aufwachsen, den sie oftmals "lösen", in dem sie mit einer Seite paktieren und die andere ablehnen. Baron hält die Balance. Er pendelt zwischen Schwarz und Weiß geduldig erzählend hin und her, bis sein Roman Grautöne und Farben entwickelt.

Der Protagonist, der Junge Christian, ist zerrissen zwischen der Liebe und Bewunderung für den Vater einerseits und Angst, Hass und Ekel andererseits. Christian laviert zwischen den vielschichtigen, verfeindeten Familienfronten: Mutter gegen Vater, Vater gegen Tante, Tante gegen Tante, Mutter gegen Großvater. Diese Fronten sind durch süchtige, co-abhängige Gegensätze gekennzeichnet.

Schließlich muss Christian mit dem Erwachsenwerden zunehmend ein persönliches Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Klassen finden, dem "assozialen" Arbeitermilieu, aus dem er stammt, und dem "bürgerlichen" Bildungsmilieu, in das er aufgrund von Abitur und Studium hineinwächst. Ein hintergründiger, selbstreflexiver Humor hilf Christian, weder gleichgültig zu werden, noch Partei zu ergreifen und nach und nach eigene, unabhängige Sichtweisen zu entwickeln. Sympathisch ist das Buch darin, dass es ein offenes, unfertiges Ende hat. Christian ist am Schluss nicht geläutert, er kommt nicht zu einer allumfassenden Erkenntnis und es gibt kein Happy End. Das ist gut so. Lassen wir dem Autor das letzte Wort:

Mit all meinem Zorn und all meinem Glück, mit all meinem Schmerz und all meiner Überraschung, mit all meinem Scham und all meinem Stolz, mit all meiner Angst und all meiner Liebe, mit all meinem Hass und all meiner Hoffnung, mit all meinen Zweifeln werde ich kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.

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2024-08 | NACOA | Online-Salon

Internetplattform für erwachsene Kinder

NACOA Deutschland e.V. hat mit dem Online-Salon ein spannendes neues Format entwickelt. Aus der jüngsten Einladung dazu:

Der Salon bietet eine Plattform für Erwachsene Kinder, Interessierte, Fachkräfte und alle, die von einer suchtbelasteten Familie betroffen sind. Gemeinsam wollen wir uns zu ausgewählten Themen treffen, um uns über unsere Erfahrungen auszutauschen, Wünsche und Anregungen zu besprechen und offene Fragen zu beantworten.

Wir möchten besonders Fachkräfte dazu ermutigen, sich aktiv einzubringen, Fragen zu stellen und von den persönlichen Geschichten der Betroffenen zu lernen. Es ist uns wichtig, dass dieser Raum für alle Anliegen offen ist, egal ob sie sich direkt auf das Thema beziehen oder nicht. Zu Beginn werden wir 15 Minuten das Thema vorstellen, danach gibt es ausreichend Raum und Zeit, um alle Fragen, Wünsche und Anliegen zu besprechen.

Ihr Engagement und Ihre Offenheit sind entscheidend, um gemeinsam neue Impulse zu setzen und voneinander zu lernen. Alle, die von einer suchtbelasteten Familie betroffen sind – sei es als erwachsene Kinder, Interessierte oder Fachkräfte – sind herzlich willkommen.

Der nächste Termin am 4. September 2024 von 18.00 - 19.30 Uhr hat die Überschrift: Zwischen Stärken und Erschöpfung - Wie erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien zwischen gesunder Anpassung und übermäßiger Leistung navigieren. Den Zoom-Link inklusive Meeting-ID und Kenncode finden Sie auf der verlinkten Seite für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien von NACOA.

» Website NACOA (eKS)

2024-08 | Buch | Rezension

Bedor, C. (2020). Diastimmen. Norderstedt: Books on Demand.

Thomas Lehr, der Protagonist der Geschichte und Schriftsteller, macht sich ungefähr 25 Jahre danach mit Schreibmaschine, Fotoapparaten und Schreibtischstuhl und ganz viel Augenzwinkern auf Spurensuche seiner suchtbelasteten Familiengeschichte. Eine Kostprobe dazu:

"Ich will während meines Urlaubs nicht zu Hause bleiben!", hatte Lehrs Frau erst neulich gesagt. "Ich will draußen etwas erleben!" Er erlebte drinnen etwas. In sich selbst. Da ging regelrecht die Post ab. Thomas Lehr brauchte das Draußen nicht. Er war gedanklich permanent unterwegs. Hauptsächlich in seiner Vergangenheit. Und in der Vergangenheit derjenigen Menschen, die damals um ihn waren. Man lebte ja nicht nur in seiner eigenen Vergangenheit. Andere Vergangenheiten wurden miterlebt. So griff Lehr mit dem Schreiben in die anderer ein. Ob sie es wollten oder nicht.

Es hat mir viel Vergnügen bereitet, den Protagonisten bei seinen Ausflügen im tiefsten, katholischen Sauerland auf der Suche nach seiner Geschichte und Identität zu begleiten. Der schon 52-jährige Lehr ist von seiner belasteten Kindheit in einer Familie, die nach außen den verlogenen heilen Schein der Bürgerlichkeit hochhielt, immer noch tief verunsichert. Seine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle in Bezug auf sein vergangenes wie auch gegenwärtiges Leben sind entsprechend zögerlich und vage.

Dies findet Ausdruck darin, wie er durch die Wälder und Orte der Kindheit stolpert und irrt, z.B. auf der Suche nach einer Sprungschanze am Rimberg oder einem "schönen Ort" im Wald, den die Familie auf Ausflügen in den 60ern besucht hatte. Lehr findet zumeist nicht, was er sucht, dafür sieht er viele andere Dinge. Seine emotionale Unklarheit kontrastiert mit den genauen Beschreibungen z.B. von Familienereignissen, den Wäldern des Hochsauerlandes oder den technischen Details von Autos, die in der Familie kaputt gefahren wurden.

Das erinnert an die Bücher der Nobelpreisträgerin für Literatur, Annie Ernaux, die sich in einer Art Selbstfindungsprozess autobiografisch und soziologisch mit ihrer persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Entfremdung auseinandersetzt. Wie Ernaux untersucht der Protagonist nicht das Besondere, sondern das Profane, Alltägliche seiner kleinbürgerlichen Herkunft und Existenz. Und wie sie sucht er den Zugang zu sich im Außen seiner Erinnerungen - metaphorisch nennt er diese Dias - und obgleich er dort nicht fündig wird, geschieht dennoch eine innerliche Entwicklung und Klärung:

Wie es mir jetzt geht? Emotional fehlt mir die Brücke von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Zur augenblicklichen Gegenwart. Scheinbar löst sich was. In mir. Scheinbar werden Gefühlselemente zurechtgerückt. Weiterhin bleiben Dinge unklar. Krankmachende Gefühle. Die kenne ich seit meiner Kindheit.

Wie viele Kinder aus Suchtfamilien hat Lehr Vernachlässigung und Gewalt erfahren und leidet als Folge an diffusen Ängsten, Identitäts- und Selbstwertproblemen. Der Autor, Christian Bedor, hat mit Thomas Lehr einen Antihelden gezeichnet, der eine sympathische Art hat, sich nicht zu ernst zu nehmen und mit seinen Unsicherheiten, Schwächen und Irrtümern tolerant, humorvoll und liebevoll umzugehen. Diese Resilienz, mit der ich mich als Leser gut identifizieren kann, ist der besondere Wert des Werkes von Bedor.

Kinder aus Suchtfamilien können gnadenlos kritisch mit sich sein. Wer also die herzerwärmende Resilienz von Lehr in sich entdecken möchte, dem ist das Buch wärmstens zu empfehlen. Übrigens kann man es trotz der sensiblen Inhalte abends gemütlich im Bett lesen und danach zufrieden einschlafen.

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2024-07 | Philosophie | Impuls

Besinnliche Sommerpause

Das Frühjahr war schon ereignisreich, die zweite Jahreshälfte verspricht, noch aufregender zu werden. Einige spannende Veranstaltungen in der Sache der Angehörigen sind für Spätsommer und Herbst schon in trockenen Tüchern, andere sind noch in der Entwicklung. Ich werde beizeiten berichten. Doch jetzt macht Co-Abhaengig.de erst einmal eine Sommerpause, um tief durchzuatmen, sich zu besinnen und neue Ideen zu entwickeln.

Meine Lektüre für den Urlaub liegt schon bereit: "In einem anderen Leben" von Linus Reichlin, "Kinderwhore" von Maria Kjos Fonn und "Der kluge Säufer" von Franziska Steinrauch. Alle Bücher wurden mir von Kolleginnen zum Thema Kinder aus Suchtfamilien wärmstens empfohlen.

Einen philosophischen, therapeutischen Impuls möchte ich Ihnen zur Sommerpause geben. Diesen habe ich von einem erwachsenen Kind aus einer Suchtfamilie, als wir darüber korrespondiert haben, wie befreiend und befriedigend - im Sinne von inneren Frieden finden - es ist, sich dem Leben und anderen Menschen zu öffnen, zu sich zu stehen, zu leben und zu wachsen. Es ist ein Zitat aus der Festrede: "Wie wäre es, gebildet zu sein?", des Schweizer Philosophen Peter Bieri (2005):

Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draussen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, dass Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann. Ich erfahre, was es heisst, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu werden.

Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, dass ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über blosse Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen eine selbstbestimmte und friedliche Sommerzeit.

Nachtrag: Die Bücher von Kjos Fonn und Steinrauch habe ich mittlerweile rezensiert, siehe in der Rubrik Romane auf der Seite Medien. Beide Bücher haben mir sehr gut gefallen. Das Buch von Reichlin habe ich aus meiner Empfehlungsliste entfernt, weil es eine widerliche, uneinsichtige, süchtige Geschichte wiedergibt.

2024-06 | Saarbrücken | Lesung

Die Frau, der Alkoholiker und die anderen

Frau Altmeier von der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle des Caritasverbandes für Saarbrücken und Umgebung e.V. hatte mich zu einer Lesung nach Saarbrücken geladen. Die Veranstaltung fand am Freitagabend, 14.06.2024, im Lesecafé der Stadtbibliothek, Gustav-Regler-Platz 1, statt. Aus der Ankündigung:

Jens Flassbeck liest aus seinem Buch „Ich will mein Leben zurück! – Selbsthilfe für Angehörige von Suchtkranken“. Nahe Angehörige eines Suchtkranken erleben Tag für Tag eine Achterbahn der Gefühle: Scham, Ohnmacht, Wut und Enttäuschung, aber zugleich auch immer Sorge um den süchtigen Partner oder Elternteil und Hoffnung auf eine Wendung. Doch die Erschöpfung im Dienste des Süchtigen ist oftmals vergebens. Das Buch hilft co-abhängig verstrickten Menschen mit vielen Anregungen und Übungen, zu einer gesunden Distanz und wieder zu sich selbst zu finden.

Die Aktionswoche Alkohol vom 8. bis 16. Juni 2024 stellt unter der zentralen Frage „Wem schadet dein Drink?“ die Auswirkungen des Alkoholkonsums auf Dritte in den Mittelpunkt. Denn: Alkohol schadet nicht nur denen, die ihn trinken. Problematischer Alkoholkonsum und Abhängigkeitserkrankungen haben Auswirkungen auf andere. Sowohl Menschen im sozialen Umfeld als auch die Gesellschaft tragen die Folgen. Betroffene gibt es in fast allen Lebensbereichen.

Ich nutze gerne Poesie- und Bibliotherapie (siehe dazu Wikipedia) in der psychotherapeutischen Behandlung. Poesietherapie ist eine besonders wirksame Interventionsform, weil sie verschiedene Methoden vereint: Motivation, Erlebensaktivierung, emotionsfokussierte Methodik, kognitive Umstrukturierung und narrative Exposition. Darüber hinaus macht es einfach Spaß, gemeinsam mit Worten, Sätzen und dem Zwischen-den-Zeilen zu spielen.

An dem Abend habe ich Texte von Klientinnen und von mir selbst vorgetragen. Ich habe die Veranstaltung unter ein Motto gestellt, welches ich aus dem Buch "Eine Art zu leben" des Schweizer Philosophen Peter Bieri abgeleitet habe (S. 21): Die Würde der Angehörigen wiederherzustellen, indem ihrem einzigartigen Subjektsein "mit erzählerischer Schwerkraft" Raum und Stimme gegeben wird. Die Angehörigenproblematik der Sucht mal anders, kreativ auf die Bühne zu bringen, hat mir sehr viel Vergnügen bereitet. Ich will dies in Zukunft vertiefen.

Und dann hat die Reise nach Saarbrücken zwei glückliche Wendungen genommen. Manchmal muss man weit weg in die Fremde fahren, um überraschende Begnungen zu haben: Erstens war eine Autorin zugegen, die ich bewundere, und wir haben nach der Veranstaltung gemeinsame Projekte zum Thema der erwachsenen Kinder aus Suchtfamilien angedacht. Zweitens habe ich die Vorsitzende von NACOA und Kollegin, Frau Corinna Oswald, kennengelernt und am Folgetag haben wir uns bei einem Kaffee angeregt ausgetauscht. Auch wir haben eine Kooperation in naher Zukunft besprochen.

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