2025-02 | Lesung | app:Bielefeld
Wege aus dem Schatten der Sucht
Vom 16.-22. Februar 2025 fand die 16. bundesweiten Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien statt. Das Motto lautete: #ICHWERDELAUT. Dieses wie auch das diesjährige Plakat haben mir ausgesprochen gut gefallen. Die Woche startete am 13.02. mit einer Kick-Off-Pressekonferenz um 10 Uhr in Berlin. Auf der Konferenz ging es darum, ob die scheidende Bundesregierung ihre ausdrückliches Versprechen, Kinder aus Suchtfamilien mehr zu unterstützen, gehalten hat und was von einer neue Regierung diesbezüglich erwartet wird.
Ich bin sehr zufrieden damit, dieses Jahr den app:Bielefeld, das größte Netzwerk an Psychologischen PsychotherapeutInnen in Deutschland, als Kooperationspartner für eine Veranstaltung gewonnen zu haben. Am 19.02.2025 haben wir, eine Gruppe an AutorInnen und Betroffenen, in den Geschäftsräumen des app: eine Lesung durchgeührt. Aus dem Abstract zur Veranstaltung:
Vor allem Kinder, aber auch Partner und Eltern von uneinsichtig chronifizierten Suchtkranken leiden unter den Begleit- und Folgeerscheinungen von Sucht. Dauerstress, Unbeständigkeit, Manipulationen und Übergriffigkeiten prägen ihren Alltag. Als Folge entwickeln sie überdurchschnittlich häufig psychische Probleme und Störungen. Mehrheitlich sind es Frauen, die sich in helfenden Beziehungen zu Suchtkranken aufopfern und sich selbst und ihr Leben vernachlässigen. Die Folge sind Depressionen, Angststörungen, klassische und komplexe PTBS und psychosomatische Erkrankungen.
Es ist zu vermuten, dass eine beträchtliche Anzahl an KlientInnen in ambulanter Psychotherapie biografisch und/oder aktuell als Angehörige eines Suchtkranken belastet ist. Sucht ist immer noch ein Tabuthema, doch die Angehörigenproblematik ist doppelt tabuisiert. Viele Angehörige können ihre Betroffenheit angst- und schambedingt selbst im Schutzraum der Therapie nicht ansprechen.
Poesietherapie ist eine wunderbare Interventionsform. Sie kann unter anderem zur narrativen Exposition, zur Suche nach Lebenssinn oder zur Verbesserung der Selbstbeziehung eingesetzt werden. Geschichten zu erzählen, sprengt kreativ das Korsett der Sprachlosigkeit und Verleugnung und macht schlicht großes Vergnügen.
Wir sind Betroffene, AutorInnen und ein Psychotherapeut und wollen mit unseren Geschichten das tabuisierte Thema der Angehörigen aus dem kalten Schatten des Verschweigens ins warme Licht der Beachtung holen. Gemäß dem Schweizer Philosophen Peter Bieri ist es unser Anliegen, der verletzten Würde der Angehörigen mit erzählerischer Schwerkraft Raum und Stimme zu geben.
Die Lesung wurde als Fortbildung für Psychologische PsychotherapeutInnen durchgeführt. Bedauerlicherweise waren nur wenige KollegInnen gekommen und ich kann mir an dieser Stelle einen enttäuschten Seufzer über diese erstaunliche Abwehr unserer Berufsgruppe nicht verkneifen: Es hat eine lange psychotherapeutische Tradition, dass wir denken, dass das Thema (Co-)Abhängigkeit uns nicht oder kaum etwas anginge. Als Folge treffen in der ambulanten Psychotherapie symptomatische Sprachlosigkeit der KlientInnen auf professionelle Sprachlosigkeit der TherapeutInnen. Das ist nicht gut.
Die 25 ZuhörerInnen, die Ihren Weg in die Geschäftsstelle des app: gefunden haben, waren zur Hälfte KollegInnen und zur Hälfte Betroffene, nicht wenige waren beides. Die Lesung habe ich atmosphärisch dicht, fokussiert und berührend erlebt. Nach der Lesung hat sich eine offene und wertschätzende Diskussion zwischen allen Anwesenden entwickelt. Die Rückmeldung einer betroffenen KollegIn per E-Mail am Folgetag bringt es, wie ich finde, unprätentiös auf den Punkt:
... nach den Worten hatte ich gestern Abend gesucht: Diese Texte präsentiert zu bekommen macht die Sprachlosigkeit erfahrbar - und hilft vielleicht/hoffentlich, Verständnis dafür zu entwickeln und Patient:innen/Betroffene ernst zu nehmen und darin zu unterstützen, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden.
Monika Trentowska vom Vorstand des app: hob hervor, dass die Texte eine alternative, geeignete Form wären, das innere Erleben der Betroffenen zu verstehen, aber weit darüber hinaus gingen. Der selbstbestimmte Akt, auf eine Bühne zu gehen und autobiografische Texte vorzutragen, verlasse den intimen, persönlichen Raum und auch den Schutzraum der Therapie Es bedeute, sich als Mensch sichtbar zu machen und Öffentlichkeit resp. Mitmenschlichkeit zu erzeugen. Sie griff auch den philosophischen Impuls von Frau Schickentanz auf, dass mittels des sprachlichen Ausdrucks die statischen Bilder, z.B. vom Leid der Betroffenen, anfangen würden, sich zu bewegen und lebendig zu werden. Ein anderer Zuhörer sprach diesbezüglich von "Ganzsein" und "Ganzwerdung". Schließlich würdigte eine suchttherapeutische Kollegin den Mut der Autorinnen, über die eigene Verletztheit öffentlich zu erzählen.
Mir hat es ausgesprochen gut gefallen, mein "Einzelkämpfertum" zu verlassen und mit anderen gemeinsam auf der Bühne zu stehen. Solidarität überwindet Alleinsein. In diesem Sinne habe ich beobachtet, wie sich in der Pause und nach der Lesung Publikum und Vortragende vermischten - aus Vortragenden wurden Zuhörer und aus Zuhörern wurden Sprechende - und sich in vielen kleinen, wechselnden Grüppchen angeregt ausgetauscht wurde. Für die Zukunft ist eine zweite Lesung in einem größeren Rahmen für Bielefelder BürgerInnen angedacht. Auch sind schon Lesungen in Lüdenscheid und München terminiert und weitere in Planung. Ich möchte in Zukunft mehr auf dieses Format auf Augenhöhe setzen.
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2024-11 | Neuerscheinung | Rezension
Schickentanz, A. (2025). Jenseits der Wand. Norderstedt: Book on Demand.
Vor beinah zwei Jahren hat mich die Autorin Annabelle Schickentanz gefragt, ob ich sie dabei begleite, einen autofiktionalen Roman über eine Kindheit in einer Suchtfamilie zu verfassen. (Hinweis: Autofiktionale Texte sind eine fiktionale Konstruktion autobiografischer Erfahrungen und dienen dazu, wahre persönliche Erfahrungen literarisch zu verarbeiten.) Am 02.02.2025 ist das fertige Werk im Self-Publishing erscheinen. Es war eine aufregende und lehrreiche Zeit, zweifelsohne für Frau Schickentanz, mithin auch für mich. Was habe ich gelernt? Daneben, dass ich noch mehr Verständnis und Tiefe für die tragische Situation, aber auch die Ressourcen von Kindern aus Suchtfamilien entwickeln konnte, möchte ich zwei Einsichten hervorheben: Ich habe von Frau Schickentanz gelernt, dass man Philosophie nicht vornehmlich mit dem Intellekt, vielmehr mit dem Herzen begreift. Und ich habe durch sie erfahren, wie tröstlich Philosophie sein kann, um das Leben und die Welt anzunehmen, auch wenn beides manchmal unerträglich, leidvoll und ungerecht erscheint.
Zur groben inhaltlichen Übersicht sei folgend der Buchrückseitentext aufgeführt:
Die Sucht der Mutter und materieller Wohlstand prägen Kindheit und Jugend der Erzählerin. Als die Mutter an den Folgen ihrer Sucht stirbt, begibt sich die Erzählerin auf die Suche. In der Rückschau spürt sie der Atmosphäre nach, in der sie aufgewachsen ist und wagt sich hinter der dissoziativen Wand von empfundener Ablehnung und Ohnmacht hervor. Sie beginnt, philosophische Fragen an ihr Leben zu stellen und enttarnt auf diese Weise allmählich das Zusammenwirken von Sucht, dem Schweigen der Anderen und der eigenen Scham.
Diesen Text möchte ich um eine Kostprobe aus dem Buch ergänzen, welche die persönliche Ambivalenz vieler Kinder aus Suchtfamilien auf den Punkt bringt:
Die empfundene Scham des Alkoholikers ist eine der Ursachen für die Sucht, ganz sicher ist sie eine Folge. Das Schweigen meiner Mutter, es war gleichgültig, beschämt und in der Folge beschämend. Meine Scham ist die Scham über eine Mutter, die getrunken hat. Die so viel und über einen so langen Zeitraum getrunken hat, dass sie daran gestorben ist. ... Meine Mutter hat mich mit meiner eigenen Scham zurückgelassen, sodass ich nun wählen kann, ob ich schweige oder spreche.
Was ist der besondere Wert des Werkes von Schickentanz, vor allem im Vergleich mit anderen Romanen zum Thema (siehe in der Rubrik Romane auf der Seite Medien)? Drei Antworten möchte ich Ihnen geben: Erstens spielt die Geschichte von Schickentanz im gut situierten Bildungsmilieu. Bekanntlich hat Sucht keine sozialen Schranken, sie kommt in allen Schichten vor. Dennoch ist es ein erstaunliches Phänomen, dass sich beinah alle anderen Autobiografien in Familien der Unterschicht abgespielt haben. Nach meinen klinischen Erfahrungen in der Arbeit sowohl mit Suchtkranken als auch Angehörigen ist die Tabuisierung, Maskierung und Verleugnung des süchtigen Problems in der Ober- und Mittelschicht deutlich ausgeprägter als in der Unterschicht.
Suchtbetroffenen und auch Angehörigen der Unterschicht fällt es tendenziell leichter, das Suchtproblem und die Begleit- und Folgeprobleme beim Namen zu nennen, z.B. zu sagen: "Mein Vater hat sich gestern wieder mal abgeschossen und rum randaliert. Es war voll ätzend, ich hätte kotzen können." Solche Sätze bringen gut erzogene Akademiker kaum über die Lippen. Sucht ist mittels des restringierten Codes oder des Straßejargons ungeschminkter, direkter auszudrücken. Dem Zierrat des elaborierten Codes wohnt eine diplomatische Tendenz inne, Dinge bis zur Konturlosigkeit weichzuzeichnen. Schickentanz ist hier eine erfrischende Ausnahme, sie findet trotz gehobener Sprache klare Worte zu dem süchtigen Tun ihrer Mutter. Und sie setzt ihre sprachliche Brillanz ein, um die familiäre und gesellschaftliche Doppelbödigkeit präzise zu sezieren und zu enttarnen. Ihr Mut zu dieser Offenheit und Authentizität ist zu würdigen.
Zweitens ist der Roman von Schickentanz nicht wie üblich chronologisch geordnet. Die Geschichte beginnt am Ende mit dem Tod der Mutter, erzählt dann Jugenderfahrungen der Protagonistin mit der Mutter und ihrer Familie, wird aber immer wieder durch Erinnerungen an Episoden der Kindheit, Reflexionen des Schreibprozesses, Assoziationen und Analysen unterbrochen und springt am Ende ins Erwachsenenalter. Der rote Faden von Jenseits der Wand ist die Entwicklung der Protagonistin bzw. der Schreibprozess der Autorin. Es ist insofern ein Entwicklungsroman. Auf dem Hintergrund einer äußerlich erstarrten Situation macht sich die Erzählerin auf den Weg, ihre innere Lebendigkeit zu erkunden. Der Leser darf daran teilhaben, wie sich die Autorin autofiktional auf eine Reise zu sich selbst macht, die Essenz der scheinbar unumstößlichen familiären Gewissheiten hinterfragt, Humor, Sinn und Würde in ihrer ganz eigenen Erfahrungswelt entdeckt und darüber sich der Welt und dem Leben öffnet.
Drittens darf das Buch als ein philosophischer Roman eingeordnet werden. Er ist voller metaphysischer, ethischer, soziologischer und psychologischer Reflexionen. Dies erinnert entfernt an die Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Die beiden Autorinnen verbindet das persönliche, familiäre Thema der Scham. Schickentanz nutzt unter anderem die Lehren von Martin Heidegger, Albert Camus, Peter Bieri, Ernst Bloch und anderen, um Schicht für Schicht die eigene, die familiäre und die gesellschaftliche Doppelbödigkeit freizulegen und sich von dem Ballast der intra- und interpsychischen Abhängigkeiten zu befreien.
Das Werk von Schickentanz ist vielschichtig, verstörend. Es ist zum einen in seinen Erzählungen anrührend, neugierig, trotzig, humorvoll, sinnlich und eigensinnig. Es lädt zu zwischenmenschlicher Nähe und Mitgefühl ein und löst Sympathie für die namenlose Protagonistin aus. Man kann gar nicht anders, als sie ins Herz schließen. Zum anderen ist der Text in seinen Reflexionen schonungslos, fordernd, kritisch und aufdeckend. Die Schreiberin schubst den Leser weg und hält ihm einen Spiegel seiner Verstricktheit und Verruchtheit vor. Das Buch kann nicht konsumiert werden, es widersetzt sich dem; es will entschlüsselt und durchdrungen werden. Dies löst Respekt, vielleicht sogar Ehrfurcht vor der Schreiberin und ihrer Authentizität aus. Einige Kapitel habe ich - aus einer inneren Notwendigkeit - zwei-, dreimal oder öfter gelesen, um alle Facetten zu verstehen. Die Tiefe der Erzählung und des Selbstfindungsprozesses kann durch den Leser nur erfahren werden, wenn er sich auf einen eigenen, ehrlichen, dialektischen Prozess einlässt. Schickentanz zu lesen, ist nicht leicht, doch lohnenswert, bereichernd und - wie schon oben angedeutet - tröstlich.
Und noch zwei letzte Zitate aus dem letzten Kapitel, welches die selbstannehmende, lebensbejahende und doch schmerzhafte Wahl und Motivation der Autorin, zu sprechen, verdeutlicht:
Die Antworten auf Ellas Fragen sind einfach und schwierig zugleich. Sie sind einfach, weil es Erklärungen gibt, Herleitungen, Einordnungen. Sie sind schwierig, weil die Antworten schmerzen, weil der Schmerz unsichtbar ist. An dieser Stelle droht meine Sprache zu versagen, da das Unsichtbare zwar potentiell sagbar ist, es jedoch für immer verborgen bleibt, sofern ich schweige. Noch perfider verhält es sich mit dem Sichtbaren - es umgibt mich, mitunter schon immer, jedoch ist es nicht automatisch sagbar. Damit es sagbar wird, braucht es jemanden, der die Wand öffnet, der dem Sichtbaren erlaubt, sich zu zeigen.
Wir sollten unser Leben vom Ende her denken, das Ende der Zukunft antizipieren, um das Zeitbewusstsein eines Kindes zu erlangen, das die Fähigkeit hat, sich dem Hier und Jetzt voll und ganz hinzugeben. Nach Kierkegaard ist es der Augenblick, welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufhebt, der uns befreien kann von der Last des Gedankens an den Tod, an die unumstößliche Wahrheit, dass wir eines Tages gewesen sein werden. Bewegen sich unsere Ängste nicht auch in einem Raum, der aus der Vergangenheit gebildet ist und sehr mächtig in die Zukunft ragt? Demnach kann es helfen, das Gefühl der Erleichterung zu antizipieren, das immer dann eintritt, nachdem wir uns den eigenen Ängsten gestellt haben.
Ab 02.02.2025:
» Jenseits der Wand auf Books on Demand
2024-09 | Vortrag & Lesung | Iserlohn
Angehörige im Schatten der Sucht
Am 02.12.2024 haben Frau Tessin von der Drobs Iserlohn und Frau Lichterfeld von der Angehörigenselbsthilfe zu einer Veranstaltung zum Angehörigenthema eingeladen. Wir wollten als Vortragende damit experimentieren, Vortrag und Lesung zu kombinieren. Aus dem Abstract zur Veranstaltung:
Die Millionen still leidenden Angehörigen von Suchtkranken fallen zwischen die Hilfenetze von Suchthilfe, Prävention, Psychotherapie und Gesundheitspolitik. Es fehlen bedarfsgerechte Angebote und die Systeme kooperieren ungenügend miteinander. So wiederholen die Betroffenen die familiäre Erfahrung, nicht gesehen, zurückgewiesen und alleingelassen zu werden.
Wir wollen uns in Vortrag und Lesung den Angehörigen solidarisch zuwenden und ihre Leiden und Probleme, aber auch ihre Ressourcen und Leistungen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Jens Flassbeck wird fachlich zum Thema informieren und Annabelle Schickentanz wird die Fachinhalte durch Kapitel aus Ihrem autofiktionalen und noch unveröffentlichten Roman "Jenseits der Wand" emotional mit Leben füllen.
Die Veranstaltung richtete sich gleichermaßen an die Professionen der aufgezählten Hilfesysteme wie auch an Betroffene. Im Anschluss haben wir Raum für Ressonanz gegeben. Es ist immer wieder interessant, wie unterschiedlich die Nachgespräche ausfallen. Vor kurzem in München war das Publikum, welches überwiegend aus Betroffenen bestand, sehr lebendig beteiligt. In Iserlohn war das Feedback eher verhalten, die meisten ZuhörerInnen waren "satt" und wünschten, das Erfahrene sacken lassen. Schweigen ist auch eine gute Antwort. Ich bin mir sicher, dass auf dem Rückweg - mit dem notwendigen Abstand - Antworten entstanden sind.
Ich bin zwar erschöpft, doch mit guter Laune nach Hause zurückgekehrt. Gefreut hat mich unter anderem, dass KollegInnen gekommen waren, denn viele Betroffene gehen zu ambulanten PsychotherapeutInnen, um nach Hilfe zu suchen. Auch die Jugendhilfe war vertreten und hat die richtigen Fragen gestellt, z.B. wie die stillen Kinder in Suchtfamilien zu erkennen und erreichen sind (Dazu habe ich nachstehend eine Broschüre verlinkt). Unser Experiment, zu informieren und emotionalisieren, ist in meinen Augen gelungen. Als sonst eher Einzelkämpfer habe ich es genossen, gemeinsam auf der Bühne zu stehen.
Am meisten hat Frau Schickentanz und mich berührt, mit welcher herzlichen Zuwendung die Drobs Iserlohn das Angehörigenthema verfolgt. Das wünsche ich mir bundesweit.
» Broschüre Erkennen, erreichen, ermöglichen herunterladen
2024-11 | Radio | Selbsthilfe
Selbsthilfe hat Stimme
Einer Gruppenmoderatorin der Freundeskreise hat mich darauf hingewiesen: Sie und eine weitere Angehörige haben dem Radio Gütersloh ein Interview zur Thematik der Angehörigen und Selbsthilfe gegeben. Übrigens werde auch ich in dem Feature erwähnt. Aus der Ankündigung:
Selbsthilfegruppe für Angehörige von suchtkranken Menschen
Am 13. November 2024 ging es in unserer Sondersendung "Selbsthilfe hat Stimme" um ein Thema, das oft unter den Tisch fällt, aber unglaublich wichtig ist: Sucht trifft nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Familien. Angehörige leiden häufig unter großen emotionalen, psychischen und finanziellen Belastungen.
Wenn der Partner, ein Elternteil oder ein Kind abhängig ist – sei es von Alkohol, Medikamenten oder Drogen – trifft das auch die Angehörigen hart. Für sie ist es wichtig, Wege zu finden, wie sie mit der Situation umgehen können, ohne daran zu zerbrechen. Genau darum geht es in unserer Sondersendung am 13.11.2024. Wir stellen die Selbsthilfegruppe für Angehörige von Menschen mit Suchterkrankungen in Gütersloh vor. Eva und Ulrike (Namen von der Redaktion geändert) erzählen ihre Geschichte – wie sie Hilfe fanden, schwierige Momente gemeistert haben, was die Treffen ausmacht und wie ihr selbst teilnehmen könnt.
Empfehlenswert, hören Sie selbst herein!
» Beitrag hören
2024-11 | Musik
Wenn er nicht trinkt
Eine Betroffene hat mich auf eine Neuveröffentlichung von Sarah Lesch hingewiesen. Auf der Platte "Gute Nachrichten" ist auch das Lied "Wenn er nicht trinkt". Lesch singt es aus der Perspektive einer Frau, welche mit einem Trinker liert ist. Der gleichermaßen ironische wie auch traurige Unterton, mit dem sie von dem gemeinsamen Lebensalltag erzählt, spricht mich sehr an. Die Frau steckt zwar noch in der Situation und man weiß nicht, ob sie sich befreien wird, doch sie hat schon verstanden, dass er nicht aufhören wird und sie dem ohnmächtig ausgeliefert ist.
Ich mag es gern, wenn er morgens schon auf ist
und mir liebevoll Kaffee ans Bett bringt,
weil er sowieso schon an der Theke war,
weil er nicht schlafen kann,
wenn er nicht trinkt.
...
Bei der Gelegenheit darf ich Sie auf die Seite Medien hinweisen. Dort finden Sie weitere Musik zum Angehörigenthema, aber auch Romane, Filme, Fotokunst etc. Alle Lieder und Platten dort habe ich gehört, alle Filme gesehen und alle Bücher gelesen, bevor ich sie auf die Liste aufgenommen habe. Diese kleine Bibliothek ist in den letzten vier bis fünf Jahren peu à peu entstanden. Das Auswahlkriterium für die Aufnahme auf die Seite ist, ob der Beitrag angehörigenzentriert ist. Falls Sie kreative Werke zum Thema kennen, die noch fehlen, schicken Sie mir gerne ein E-Mail.
» Lied hören
» Medien
2024-11 | Autobiografie | Rezension
Hoppe, C. (2024) Säuferkind. Mein Leben als Co-Abhängige und wie ich trotzdem glücklich wurde. Berlin: Ullstein.
Die letzten drei Jahre habe ich alle (autobiografischen) Romane zum Angehörigenthema gelesen, die mir empfohlen wurden und die ich finden konnte, insgesamt 20 Bücher. Jetzt reicht es! Auf meinem Nachttisch liegen schon zwei Bücher mit anderer Thematik. Darauf freue ich mich. Doch noch eine letzte Rezension zu einem Buch, dessen Wert darin liegt, dass es ganz unspektakulär und unprätentiös daherkommt. Cornelia Hoppe schildert ihre Geschichte als Säuferkind. Nachstehend die Inhaltsangabe von der Verlagsseite:
St. Pauli, 70er Jahre: Cornelia Hoppe wächst mit alkoholkranken Eltern in bitterer Armut auf. Ihr Spielplatz sind triste Trinkerkneipen mit zwielichtigen Gestalten. Einerseits schämt sich Cornelia schon als kleines Kind für ihre Eltern, andererseits sorgt und kümmert sie sich um sie – als typisch Co-Abhängige.
In der Ehe mit einem erfolgreichen Banker scheint sie dann schließlich das Glück gefunden zu haben. Leider merkt Cornelia aber irgendwann, dass auch ihr Mann trinkt und der Teufelskreis von vorne beginnt: Sie leidet still, schämt sich, kümmert sich, hält trotz allem zu ihm. Irgendwann erkennt sie, dass auch ihre Kinder drohen, co-abhängig zu werden. Trotz wirtschaftlicher Abhängigkeit schafft es Cornelia schließlich, ihren Mann zu verlassen – und damit sich und ihre Kinder zu retten.
Säuferkind ist ein ehrlicher, schonungsloser Bericht, der gleichzeitig Mut macht und zeigt, dass es möglich ist, sich aus den Fesseln der Co-Abhängigkeit zu befreien.
Wie auch das Buch von Klaffke-Römer, Mein Herz an stillen Tagen, könnte Hoppes Geschichte als Lehrbuch zu dem Themenkomplex Kinder aus Suchtfamilien und Co-Abhängigkeit genutzt werden. Ihre Autobiografie ist die einzige, die ich kenne, in der das Phänomen geschildert wird, wie die Kindheit in einer Suchtfamilie später in einer Ehe mit einem suchtkranken Mann mündet. Doch anders als Klaffke-Römer und andere schildert Hoppe ihre Geschichte ganz unaufgeregt. Sie nimmt die Perspektive einer Person ein, die erstaunt zurückblickt, was ihr alles widerfahren ist. So beherrscht Hoppe die Kunst, auch hochgradig beschämende Situationen nüchtern zu erzählen, ohne dass die Erzählung in "der Scham vor der Scham" versinkt. Ein Zitat dazu (S.194 - 195):
Die Reflexionen in dem Buch sind eher sparsam und klar, die Sprache ist einfach und der Erzählfaden stringent, ohne große Dramaturgie. Diese erzählerische Bescheidenheit wirkt stimmig, authentisch und sympathisch. Als Leser bin ich beim Lesen - mit Ausnahme des letzten Teils - nur milde affiziert worden, man fühlt mit der Protagonistin mit, ohne in ihrer leidvollen Betroffenheit zu versinken. Dadurch sind die Geschehnisse gut nachzuvollziehen, ohne eine schlaflose Nacht danach zu bewirken.
Es ist, als warte man auf ein Wunder. Man wünscht sich so sehr, dass es eintritt. Ich habe dann gedacht, so Mutti, heute ist alles schön, jetzt gehst du bitte nicht in die Kneipe. Die Folge war Enttäuschung.
Dass ich wiederum nicht die Ursache dafür bin, dass meine Eltern getrunken haben, das wusste ich schon. Und diese Erkenntnis ist gar nicht mal so wenig. Ich hatte keine Schuld auf mich geladen, war kein Kind, das seinen Eltern Kummer machte.
Die besondere Tragik einer Co-Abhängigkeit zeigt sich ja vor allem dadurch, dass man sich die Verantwortung für die Süchtigen selbst auflädt. Gleichzeitig wünscht man sich, dass das eigene Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Respekt und Liebe von den eigenen Eltern erfüllt wird. Die sind aber so sehr in ihrer eigenen Sucht gefangen, dass sie die seelischen Verletzungen, die ihre Kinder davontragen, nicht wahrnehmen.
Der letzte Teil (S. 203 ff.) hat mich doch noch emotional angefasst. Hoppe berichtet, wie sie mit einem Alkoholiker eine Beziehung beginnt, ihn heiratet und eine Familie gründet. Sehenden Auges rennt sie wieder in das Unglück, welches sie als junge Frau abgeschüttelt hat. Alles, was er tut - saufen, schimpfen, abwerten, beschämen, drohen, Gewalt etc. - kennt sie aus der Kindheit. Sie sieht alles, doch erkennt es nicht. Sie gerät immer tiefer in die co-abhängige Falle, obgleich Freundinnen sie warnen. Sie hört ihnen nicht zu.
Als Psychotherapeut (in der Position der Freundinnen) erfahre ich diese Ohnmacht mit Betroffenen jede Woche. Sie ist schwer auszuhalten. Ungezählte Klientinnen, Töchter aus Suchtfamilien, haben mir erst nach ein, zwei oder drei Jahren Therapie kleinlaut offenbart, dass ihr Partner auch suchtkrank ist. Noch mehr Klientinnen berichten in der Therapie hoffnungsfroh davon, einen neuen Mann kennen gelernt zu haben, bei dem "alles anders" sei, und hören nicht zu, wenn ich ihnen behutsam meine Zweifel mitteile, dass sie das Offensichtliche ausblenden. Dass Cornelia Hoppe dieses schwierige, schamhafte und schmerzvolle Phänomen schonungslos schildert, das ist der besondere Wert ihres Werkes. Noch ein abschließendes Zitat dazu (S. 226 - 227):
Wenn ich die Glaubenssätze meiner Kindheit suche, finde ich nichts, was mir in meiner Ehe hätte helfen können... Die Glaubenssätze, auf die ich zugreifen konnte, waren die einer Co-Abhängigen. Sie waren dazu geeignet, meine erneute Co-Abhängigkeit zu zementieren, und nicht, mir daraus zu helfen.
» Säuferkind auf Ullstein
2024-11 | Versform
Worte trösten
Die Mutter eines suchtbedingt verstorbenen Sohnes hat mir geschrieben, dass sie jedes Jahr zum internationalen Gedenktag für verstorbene drogengebrauchende Menschen am 21. Juli ein Gedicht schreibt. Zwei davon habe ich auf der Seite Versform mit ihrem Einverständnis aufgenommen. Nachstehend einige Strophen aus dem Gedicht: "Du bist gegangen". Die Worte vergegenwärtigen eindrucksvoll, dass selbst nach dem Tod und in der Trauer die dysfunktionale, suchtzentrierte Familiendynamik fortbesteht. Das vollständige Werk und viele andere finden Sie auf der Seite Versform unter der Rubrik Ansichten.
...
Du bist gegangen.
Es fehlt ein Teil;
nichts ist mehr heil.
Zählte für dich denn nur noch der Stoff
und deshalb tagtäglich zu Hause der Zoff,
Ärger, Geschrei, nur Streit und Zank!
Kaum auszuhalten, es machte uns krank.
Aber deinen Tod zu ertragen, das ist schwer,
ich habe keinen Bruder mehr.
Ihr – ihr trauert - als gab es ihn nur allein,
das tut mir weh, so kann es nicht sein!
Alles dreht sich nur um ihn, immer und immer;
Dieses zu spüren macht es noch schlimmer.
Selbst gegenwärtig - nach seinem Tod,
seht ihr mich nicht, nicht meine Not!
Trauer – Neid auf ihn, durchzieht mein Herz,
wer – frag ich mich – lindert meinen Schmerz?
Hallo Ihr -
ich bin noch hier!
...