Nachstehend finden Sie Rezensionen zu Büchern vor allem zum Thema der (erwachsenen) Kinder aus Suchtfamilien und auch zur Angehörigenproblematik der Sucht. Ich rezensiere hier ausschließlich Werke, Bücher, Filme etc., die ich persönlich empfehlen kann. Einige Bücher und Filme haben traumatische Inhalte und könnten für Sie nicht geeignet sein, falls Sie aus Ihrer eigenen Geschichte noch sensibel sind. Dies habe ich in den Besprechungen kenntlich gemacht.
Hoppe, C. (2024) Säuferkind. Mein Leben als Co-Abhängige und wie ich trotzdem glücklich wurde. Berlin: Ullstein.
Die letzten drei Jahre habe ich alle (autobiografischen) Romane zum Angehörigenthema gelesen, die mir empfohlen wurden und die ich finden konnte, insgesamt 20 Bücher. Jetzt reicht es! Auf meinem Nachttisch liegen schon zwei Bücher mit anderer Thematik. Darauf freue ich mich. Doch noch eine letzte Rezension zu einem Buch, dessen Wert darin liegt, dass es ganz unspektakulär und unprätentiös daherkommt. Cornelia Hoppe schildert ihre Geschichte als Säuferkind. Nachstehend die Inhaltsangabe von der Verlagsseite:
St. Pauli, 70er Jahre: Cornelia Hoppe wächst mit alkoholkranken Eltern in bitterer Armut auf. Ihr Spielplatz sind triste Trinkerkneipen mit zwielichtigen Gestalten. Einerseits schämt sich Cornelia schon als kleines Kind für ihre Eltern, andererseits sorgt und kümmert sie sich um sie – als typisch Co-Abhängige.
In der Ehe mit einem erfolgreichen Banker scheint sie dann schließlich das Glück gefunden zu haben. Leider merkt Cornelia aber irgendwann, dass auch ihr Mann trinkt und der Teufelskreis von vorne beginnt: Sie leidet still, schämt sich, kümmert sich, hält trotz allem zu ihm. Irgendwann erkennt sie, dass auch ihre Kinder drohen, co-abhängig zu werden. Trotz wirtschaftlicher Abhängigkeit schafft es Cornelia schließlich, ihren Mann zu verlassen – und damit sich und ihre Kinder zu retten.
Säuferkind ist ein ehrlicher, schonungsloser Bericht, der gleichzeitig Mut macht und zeigt, dass es möglich ist, sich aus den Fesseln der Co-Abhängigkeit zu befreien.
Wie auch das Buch von Klaffke-Römer, Mein Herz an stillen Tagen, könnte Hoppes Geschichte als Lehrbuch zu dem Themenkomplex Kinder aus Suchtfamilien und Co-Abhängigkeit genutzt werden. Ihre Autobiografie ist die einzige, die ich kenne, in der das Phänomen geschildert wird, wie die Kindheit in einer Suchtfamilie später in einer Ehe mit einem suchtkranken Mann mündet. Doch anders als Klaffke-Römer und andere schildert Hoppe ihre Geschichte ganz unaufgeregt. Sie nimmt die Perspektive einer Person ein, die erstaunt zurückblickt, was ihr alles widerfahren ist. So beherrscht Hoppe die Kunst, auch hochgradig beschämende Situationen nüchtern zu erzählen, ohne dass die Erzählung in "der Scham vor der Scham" versinkt.
Die Reflexionen in dem Buch sind eher sparsam und klar, die Sprache ist einfach und der Erzählfaden stringent, ohne große Dramaturgie. Diese erzählerische Bescheidenheit wirkt stimmig, authentisch und sympathisch. Als Leser bin ich beim Lesen nur milde affiziert worden, man fühlt mit der Protagonistin mit, ohne in ihrer leidvollen Betroffenheit zu versinken. Dadurch sind die Geschehnisse gut nachzuvollziehen, ohne eine schlaflose Nacht danach zu bewirken. Lassen wir Cornelia Hoppe das letzte Wort (S. 194-195):
Es ist, als warte man auf ein Wunder. Man wünscht sich so sehr, dass es eintritt. Ich habe dann gedacht, so Mutti, heute ist alles schön, jetzt gehst du bitte nicht in die Kneipe. Die Folge war Enttäuschung.
Dass ich wiederum nicht die Ursache dafür bin, dass meine Eltern getrunken haben, das wusste ich schon. Und diese Erkenntnis ist gar nicht mal so wenig. Ich hatte keine Schuld auf mich geladen, war kein Kind, das seinen Eltern Kummer machte.
Die besondere Tragik einer Co-Abhängigkeit zeigt sich ja vor allem dadurch, dass man sich die Verantwortung für die Süchtigen selbst auflädt. Gleichzeitig wünscht man sich, dass das eigene Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Respekt und Liebe von den eigenen Eltern erfüllt wird. Die sind aber so sehr in ihrer eigenen Sucht gefangen, dass sie die seelischen Verletzungen, die ihre Kinder davontragen, nicht wahrnehmen.
» Säuferkind auf Ullstein
Wahl, C. (2023). 22 Bahnen. Köln: DuMont.
Zur Geschichte aus der Zusammenfassung auf der Website des Verlags:
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
Nach ca. einem Drittel des Buches wollte ich nicht mehr weiter lesen. Es war mir alles zu schön, um wahr zu sein. Schon der Titel passt nicht. Die Betroffenen, die ich kennen gelernt habe und die sich mit Schwimmen emotional betäubt haben, sind 60 oder 80 Bahnen geschwommen. Wenn man jung und sportlich ist, reichen 22 Bahnen dafür nicht. Auch sind die Protagonisten der Geschichte zu intelligent, zu mutig und zu lebenserfahren. Tilda z.B. redet mit der Lebenserfahrung einer 70-Jährigen, Ida wirkt auf mich wie 35. Trotz der widrigen Umstände machen sie stets alles richtig und sagen das Richtige. Das ist mir zu glatt und es fehlt mir der Tiefgang, wie ihn andere Romane zum Thema haben.
Dann hat mich das Buch doch noch gefesselt. Warum? Tilda und Ina repräsentieren Resilienz. Sie sind Modelle dafür, wie man den widrigen Verhältnissen einer Suchtfamilie trotzen kann, was man sagen kann, wenn die suchtkranke Mutter lügt und manipuliert, und wie man sich trotz allem treu bleiben, Unabhängigkeit wahren und den eigenen Weg gehen kann. Und die Liebesgeschichte zwischen Tilda und Viktor ist eine Blaupause dafür, wie zwischenmenschliche Annäherung möglich sind, ohne die eigene Unabhängigkeit aufzugeben.
"22 Bahnen" ist ein eher leichtes, trotziges und heiteres Buch. Auch wenn die Erzählung ein wenig kitschig daherkommt, schafft es Caroline Wahl, eine tröstende Geschichte über die Unbilden des Daseins zu erzählen. Für mich als Psychotherapeut liegt der besondere Wert des Werkes in seinem ermutigenden Appell: "Trau Dich und mach - wie Tilda - dein Ding!" Deswegen habe ich es schon in der Therapie genutzt und es jüngeren Betroffenen empfohlen. Ich möchte mit einem Zitat aus dem Buch von S. 105 und 106 schließen, welches den Sinn narrativer Traumatherapie auf den Punkt bringt:
Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigt mich und macht mich unverwundbar.
» 22 Bahnen auf DuMont
Stuart, D. (2021). Shuggie Bain. Berlin: Hanser.
Das englische Original ist 2020 bei Picador/London erschienen.
Shuggie Bain ist ein Roman über das Aufwachsen von drei Kindern mit einer alkoholkranken Mutter. Es ist gleichwohl das Portrait einer Alkoholikerin, eine Coming-of-Age-Geschichte ihres jüngsten Sohns Shuggie als auch eine Klassen- und Arbeiterstudie in den 80ern und Anfang der 90er in Glasgow auf dem gesellschaftlichen Hintergrund des Thatcherismus. Die klassische Industrie stirbt und Depression, Arbeitslosigkeit und Armut macht sich im Arbeitermilieu breit. Die Mutter Agnes verliert sich immer mehr in Tagträumen von einem besseren Leben und im Suff.
Der Vater Shug, Taxifahrer, verspricht ein besseres Leben, geht notorisch fremd und verlässt schließlich die Familie. Die Kinder kümmern sich erfolglos um die Mutter. Eins nach dem anderen sucht das Weite, um das eigene Leben zu retten. Shuggie hält als Jüngster und Lieblingssohn am längsten an der Hoffnung fest, die Mutter retten zu können. Doch er hat eigene Probleme als Heranwachsender, der von allen vermittelt bekommt, nicht normal zu sein, weil er als Junge Fußball nicht mag und lieber mit Puppen spielt.
Der junge Autor Douglas Stuart hat mit seinem Debütroman den renommierten Booker Prize gewonnen. Es ist in einer wunderbaren Mischung aus Gossen-Vokabular sowie bild- und symbolträchtigem Sprachstil formuliert, der die trostlosen sozialen, familiären und persönlichen Zusammenhänge hautnah erfahrbar macht und den Figuren gleichzeitig Stolz und Würde lässt. In der detailreichen Brutalität und Hässlichkeit der Schilderungen versteckt sich etwas respektvoll Sanftes und Menschliches. So realistisch abstoßend die Geschehnisse sind, ist man als Leser von den Schicksalsschlägen und der inneren Not der Protagonisten auch mitfühlend ergriffen. Es ist deswegen kein Buch, welches man in einem Rutsch lesen kann. Nach jedem Kapitel braucht es eine Pause, um Abstand zu nehmen, zu verarbeiten und einen neuen Zugang zum Weiterlesen zu finden.
Die Erfahrungen von Leek, Catherine und Shuggie in Stuarts Werk ähneln, trotz des anderen geschichtlichen Kontextes, verblüffend den Erzählungen meiner Klienten in der Therapie. Dieses intime Detailwissen ist nicht verwunderlich, weil der Autor im Roman autobiografische Erlebnisse mit seiner alkoholkranken Mutter verarbeitet. Das Buch ist nichts für Zartbesaitete. Auch Betroffenen, die ihr Trauma noch nicht bewältigt haben, kann ich es nicht empfehlen. Ansonsten ist das Buch eine kleine Kostbarkeit, weil es Einblicke in menschliche Abgründe bietet, welche kein Ratgeber oder Fachbuch liefern kann und ich bislang nur in dem Film "Ein Teil von uns" finden konnte.
» Buch und Autor
Klaffke-Römer, E. (2021). Mein Herz an stillen Tagen. Berlin: biografieVerlag.
Ich bin begeistert von dem ausdrucksstarken, atmosphärisch dichten Schreibstil der Autorin und den hautnahen, ungeschönten und berührenden Innenansichten aus dem Aufwachsen in einer klassischen Suchtfamilie der 70er Jahre, dass ich es hier mit einer besonderen Leseempfehlung aufführen möchte. Die traumatische Geschichte ist so typisch, dass sie als "Lehrbuch" genutzt werden kann. Doch die Inalte sind heftig; lesen Sie das Buch bitte nicht, falls Sie betroffen und noch verwundet sind. Eine Rezension spare ich mir, weil der Klappentext des Werkes alles sagt, was zu sagen ist:
"Die Angst war da, ob wir es wollten oder nicht. Die Liebe hingegen nahm kaum Gestalt an. Ständig schien sie zu zersplittern und die Vielzahl ihrer vermeintlichen Gegenteile umzuschlagen. Wie hätten wir von Liebe sprechen können, wenn alles andere uns derart zum Schweigen brachte? Wenn selbst mein eigenes Atmen in den höchst angespannten Situationen zu einem ohrenbetäubenden Geräusch werden konnte? Denn das Atmen war ein Gradmesser für die Angst. Das kaum hörbare flache Atmen, das schnelle tmen, das panische Atmen, rasendes Herz! - und das erleichterte Ausatmen, wenn es gut gegangen war"
Mit atemberaubenden Sätzen bringt die Autorin uns die tiefen Empfindungen eines Kindes nahe, das mit einem trinkenden und gewalttätigen Vater aufwächst. Sie schildert ihre Suche nach einem Weg aus der Sprachlosigkeit. Doch mit der Sprache kommen auch die Empfindungen zurück.
"Tausend Gründe hatte es gegeben für das Scheitern meiner Familie. Nur für ein Gelingen gab es keinen einzigen."
Es ist die Geschichte einer bedrückenden, ausweglosen Kindheit. Erst als Erwachsene entdeckt die Protagonistin, dass die Tür zum Leben nach innen aufgeht. Diesen Ausweg möchte ich Ihnen hier nicht vorenthalten, weil er das Ziel und die Methode der Selbsthilfe und Psychotherapie der Co-Abhängigkeit auf den Punkt bringt:
Ganz frei machen muss ich mich von dem Wunsch und der Sehnsucht, den Frieden, das Glück oder einfach nur das Friedliche und Ruhige im anderen zu suchen, es gar vom anderen abhängig zu machen. Ich mir selbst muss ich es finden, an meinen ganz eigenen stillen Tagen auf mein Herz und meine Worte hören.
» Verlagsseite
Hecht, J. (2021). In diesen Sommern. München: C.H.Beck.
Die Literaturwissenschaftlerin Janina Hecht hat ihren Debütroman über eine scheinbar normale, kleinbürgerliche Kindheit in einer durchschnittlichen deutschen Familie geschrieben, doch das familiäre Miteinander und die Atmosphäre wird zunehmend durch die Alkohol- und Verhaltensexzesse des Vaters belastet. Das Abstract zum Buch:
Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. Erst unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen Sommersonne. Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwellt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie - alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. Ebenso unaufdringlich wie fesselnd erzählt Janina Hecht von schönen und schrecklichen Tagen, von Ausbruch und Befreiung und vom Versuch, sich im Erinnern dem eigenen Leben zu stellen. In diesem Sommer ist die bewegende Geschichte einer Familie auf der unentwegt gefährdeten Such nach einem stillen Glück.
Das gut zu lesende und kurzweilige Werk von Hecht mutet skizzenhaft an. Die Ich-Erzählerin versucht sich, zu erinnern, doch die Erinnerungen sind zunächst vage, anekdotisch und fragmentiert, geordnet allein durch die Chronologie der Ereignisse. Im Verlauf des Buches und mit dem Älterwerden von Teresa gewinnen sie an Zusammenhang und Sinn. Die Schilderungen der Episoden sind zwar aus der Perspektive von Teresa, doch der Leser erfährt nur andeutungsweise über ihr Innenleben. Diese Zurückhaltung bietet viel Spielraum für den Leser, innezuhalten und sich einzufühlen. Statt einer Rezension möchte ich drei Stellen aus dem Buch zitieren, um einen Eindruck zu geben:
Wenn ich an diese Jahre denke, frage ich mich, ob es eine Kontinuität der Ereignisse gibt, eine Entwicklung, auf die ich mich verlassen kann. Ich versuche die Situationen zu ordnen, sie zusammenzuhalten, in ihnen etwas zu finden, was über die konkreten Momente hinausweist. (S. 25)
Diese Momente, in denen mir seine Spur verloren geht. Als wäre er auf einmal nicht mehr dabei gewesen. Dann steht er im Zentrum von allem und nichts kann ohne Bezug zu ihm sein.
Manchmal bin ich wütend darüber, dass ich nie wieder mit ihm sprechen kann. Aber diese Wut hat keine Richtung. Ich kann sie nicht herunterschlucken und sie verschwindet nur sehr langsam.
» Buch auf Website C.H.Beck
Ohde, D. (2020). Streulicht. Berlin: Suhrkamp.
Eine namenlose Ich-Erzählerin schildert ihre Kindheit und Jugend. Die Eltern sind türkische Einwanderer. Der Vater arbeitet, säuft - wie auch der Großvater - und ist kaufsüchtig, die Mutter opfert sich für andere auf und beide Eltern meiden misstrauisch und ängstlich jeglichen sozialen Kontakt. Lehrer und andere Erwachsene sehen das Kind nicht oder werten es ab. Auch andere Kinder lehnen das Kind als Ausländerin ab und die beiden einzigen Freunde, die es hat, sind zu sehr mit ihrem behüteten und normierten Leben beschäftigt, um es zu verstehen. Niemand wendet sich dem Kind zu oder traut ihm etwas zu. Es bleibt gesichtslos, ist stumm vor Angst und Scham, passt sich an, um nicht aufzufallen, und leidet still.
Als Psychologe könnte ich das Buch von Deniz Ohde analysieren und kategorisieren. Ich könnte etwas Kluges über komplexe Traumatisierung, Dissoziation und Selbstwertstörung schreiben. Doch genau gegen dieses Unrecht, etikettiert und in Schubladen gesteckt zu werden, verwehrt sich die Erzählerin zu Recht. Ihre Schilderungen geben einen ungeschminkten, abgrundtiefen Einblick in das Innenleben eines Menschen, der nicht gesehen und nicht gehört und dem kein Raum gegeben wird, selber herauszufinden, wer er ist, was er denkt und fühlt und wie er sich im Leben verwirklichen will. Die Texte sind ein befreiender Aufschrei und eine sich selbst entfaltende Anklage eines mundtot gemachten Menschen. Das Buch will nicht kommentiert werden, es will gehört werden.
Das Buch von Ohde ist mein Favorit unter allen hier vorgestellten Büchern. Doch es ist aus meiner Sicht als Psychotherapeut nicht geeignet für Betroffene, die aktuell an einer posttraumatischen Belastungsreaktion leiden.
» Zum Buch bei Suhrkamp
Baron, C. (2020). Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein.
»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«
Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.
Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.
Diese Inhaltsangabe auf der Verlagsseite macht nicht nur Werbung für das Buch, sie entspricht meiner Leseerfahrung. Das Buch ist in meinen Augen die deutsche, neuzeitliche Entsprechung zu dem irischen Klassiker Die Asche meiner Mutter von McCourt und dem amerikanischen Bestseller Ein Haus aus Glas von Walls. Beide Werke und auch die Filme dazu werden weiter unten vorgestellt. Baron wünsche ich, dass seine schmerzhafte Geschichte ebenfalls verfilmt wird. Lassen wir dem Autor das letzte Wort:
Ein Mann seiner Klasse ist ein durch und durch ambivalentes Werk. Die Diplom-Pädagogin und Fachbuchautorin Ursula Lambrou hat in Familienkrankheit Alkoholismus (1990) darüber geschrieben, dass viele betroffene Kinder in einem unerträglichen familiären Loyalitätskonflikt aufwachsen, den sie oftmals "lösen", in dem sie mit einer Seite paktieren und die andere ablehnen. Baron hält die Balance. Er pendelt zwischen Schwarz und Weiß geduldig erzählend hin und her, bis sein Roman Grautöne und Farben entwickelt.
Der Protagonist, der Junge Christian, ist zerrissen zwischen der Liebe und Bewunderung für den Vater einerseits und Angst, Hass und Ekel andererseits. Christian laviert zwischen den vielschichtigen, verfeindeten Familienfronten: Mutter gegen Vater, Vater gegen Tante, Tante gegen Tante, Mutter gegen Großvater. Diese Fronten sind durch süchtige, co-abhängige Gegensätze gekennzeichnet.
Schließlich muss Christian mit dem Erwachsenwerden zunehmend ein persönliches Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Klassen finden, dem "assozialen" Arbeitermilieu, aus dem er stammt, und dem "bürgerlichen" Bildungsmilieu, in das er aufgrund von Abitur und Studium hineinwächst. Ein hintergründiger, selbstreflexiver Humor hilf Christian, weder gleichgültig zu werden, noch Partei zu ergreifen und nach und nach eigene, unabhängige Sichtweisen zu entwickeln. Sympathisch ist das Buch darin, dass es ein offenes, unfertiges Ende hat. Christian ist am Schluss nicht geläutert, er kommt nicht zu einer allumfassenden Erkenntnis und es gibt kein Happy End. Das ist gut so. Lassen wir dem Autor das letzte Wort:
Mit all meinem Zorn und all meinem Glück, mit all meinem Schmerz und all meiner Überraschung, mit all meinem Scham und all meinem Stolz, mit all meiner Angst und all meiner Liebe, mit all meinem Hass und all meiner Hoffnung, mit all meinen Zweifeln werde ich kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.
» Verlagsseite
Bedor, C. (2020). Diastimmen. Norderstedt: Books on Demand.
Thomas Lehr, der Protagonist der Geschichte und Schriftsteller, macht sich ungefähr 25 Jahre danach mit Schreibmaschine, Fotoapparaten und Schreibtischstuhl und ganz viel Augenzwinkern auf Spurensuche seiner suchtbelasteten Familiengeschichte. Eine Kostprobe dazu:
"Ich will während meines Urlaubs nicht zu Hause bleiben!", hatte Lehrs Frau erst neulich gesagt. "Ich will draußen etwas erleben!" Er erlebte drinnen etwas. In sich selbst. Da ging regelrecht die Post ab. Thomas Lehr brauchte das Draußen nicht. Er war gedanklich permanent unterwegs. Hauptsächlich in seiner Vergangenheit. Und in der Vergangenheit derjenigen Menschen, die damals um ihn waren. Man lebte ja nicht nur in seiner eigenen Vergangenheit. Andere Vergangenheiten wurden miterlebt. So griff Lehr mit dem Schreiben in die anderer ein. Ob sie es wollten oder nicht.
Es hat mir viel Vergnügen bereitet, den Protagonisten bei seinen Ausflügen im tiefsten, katholischen Sauerland auf der Suche nach seiner Geschichte und Identität zu begleiten. Der schon 52-jährige Lehr ist von seiner belasteten Kindheit in einer Familie, die nach außen den verlogenen heilen Schein der Bürgerlichkeit hochhielt, immer noch tief verunsichert. Seine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle in Bezug auf sein vergangenes wie auch gegenwärtiges Leben sind entsprechend zögerlich und vage.
Dies findet Ausdruck darin, wie er durch die Wälder und Orte der Kindheit stolpert und irrt, z.B. auf der Suche nach einer Sprungschanze am Rimberg oder einem "schönen Ort" im Wald, den die Familie auf Ausflügen in den 60ern besucht hatte. Lehr findet zumeist nicht, was er sucht, dafür sieht er viele andere Dinge. Seine emotionale Unklarheit kontrastiert mit den genauen Beschreibungen z.B. von Familienereignissen, den Wäldern des Hochsauerlandes oder den technischen Details von Autos, die in der Familie kaputt gefahren wurden.
Das erinnert an die Bücher der Nobelpreisträgerin für Literatur, Annie Ernaux, die sich in einer Art Selbstfindungsprozess autobiografisch und soziologisch mit ihrer persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Entfremdung auseinandersetzt. Wie Ernaux untersucht der Protagonist nicht das Besondere, sondern das Profane, Alltägliche seiner kleinbürgerlichen Herkunft und Existenz. Und wie sie sucht er den Zugang zu sich im Außen seiner Erinnerungen - metaphorisch nennt er diese Dias - und obgleich er dort nicht fündig wird, geschieht dennoch eine innerliche Entwicklung und Klärung:
Wie es mir jetzt geht? Emotional fehlt mir die Brücke von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Zur augenblicklichen Gegenwart. Scheinbar löst sich was. In mir. Scheinbar werden Gefühlselemente zurechtgerückt. Weiterhin bleiben Dinge unklar. Krankmachende Gefühle. Die kenne ich seit meiner Kindheit.
Wie viele Kinder aus Suchtfamilien hat Lehr Vernachlässigung und Gewalt erfahren und leidet als Folge an diffusen Ängsten, Identitäts- und Selbstwertproblemen. Der Autor, Christian Bedor, hat mit Thomas Lehr einen Antihelden gezeichnet, der eine sympathische Art hat, sich nicht zu ernst zu nehmen und mit seinen Unsicherheiten, Schwächen und Irrtümern tolerant, humorvoll und liebevoll umzugehen. Diese Resilienz, mit der ich mich als Leser gut identifizieren kann, ist der besondere Wert des Werkes von Bedor.
Kinder aus Suchtfamilien können gnadenlos kritisch mit sich sein. Wer also die herzerwärmende Resilienz von Lehr in sich entdecken möchte, dem ist das Buch wärmstens zu empfehlen. Übrigens kann man es trotz der sensiblen Inhalte abends gemütlich im Bett lesen und danach zufrieden einschlafen.
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Kjos Fonn, M. (2019). Kinderwhore. Hamburg: CulturBooks.
Aus dem Abstract: Charlottes Mutter lässt ihre Tochter oft allein, und wenn sie mal da ist, schläft sie die meiste Zeit, betäubt von starken Medikamenten. Als Charlotte in der Pubertät ist, bekommt sie einen Vater, der die Nächte lieber bei ihr als bei ihrer Mutter verbringt. Was dabei geschieht, kann sie unmöglich begreifen. Sie beginnt, die Pillen ihrer Mutter zu schlucken und ist glücklich, als sie entdeckt, dass es Wege gibt, die eigenen Gefühle auszuschalten. So schafft sie eine Trennung zwischen Körper und Geist, die es ihr erlaubt, unterschiedliche sexuelle Rollen zu spielen. Sie glaubt, die Kontrolle zu haben, über sich und andere, doch das erweist sich als bitterer Trugschluss.
Der furchtbarste Tag in meinem Berufsleben als ambulanter Psychotherapeut war der, als mir gleich drei Klientinnen ihre sexuellen Missbrauchserfahrungen offenbart haben. Ich bin wie betäubt nach Hause gegangen, mit dem Bewusstsein, dass ich das Leiden der Betroffenen nicht annähernd nachvollziehen kann.
Sexuelle Übergriffe kommen bei Angehörigen von Suchtkranken in verschiedener Form vor, beinahe ausschließlich sind Mädchen bzw. Frauen betroffen. Die Mädchen werden vom suchtkranken Vater missbraucht, die co-abhängige Mutter schaut weg. Oder eine der Familie nahestehende Person - Stiefvater, Onkel, Freund der Familie - nutzt die konflikhafte und tabuisierte Situation aus und missbraucht das Kind. Oder die Jugendlichen geraten auf der Suche nach Liebe an ältere Männer, die dies sexuell ausnutzen, so auch in der Geschichte von Kjos Fonn. Oder Frauen werden vom besoffenen Ehemann vergewaltigt. Der sexuelle Missbrauch findet stets auf der Grundlage des erfahrenen emotionalen Missbrauchs statt. Dort, wo die persönliche Unabhängigkeit und Integrität verletzt wird, ist auch kein Raum für sexuelle Selbstbestimmung.
Viele Klientinnen haben erst gar nicht versucht, mit jemandem zu sprechen, weil niemand da war und sie kein Vertrauen in andere hatten. Andere haben es durchaus versucht, aber niemand hat ihnen geglaubt. Dies ist für viele genauso schlimm wie die Übergriffigkeit selbst.
Das Buch von Maria Kjos Fonn erzählt die schrecklichen und verlogenen Zusammenhänge von emotionalem und sexuellem Missbrauch, es gibt Einblicke in das tief schwarze Seelenleben einer Betroffenen und es schildert den Kampf von Charlotte darum, den selbstzerstörerischen, posttraumatischen Teufelskreis hinter sich zu lassen und ein eigenes Leben zu erobern. Das tut die Autorin so ungeschminkt, detailliert und schonungslos, dass mir die Worte fehlen, das Werk und dessen Bedeutung angemessen zu würdigen.
Ein Hinweis noch: Falls Sie selbst von sexuellen Übergriffen betroffen sind, könnte das Buch Sie überfordern.
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Zeh, J. (2018). Neujahr. München: Luchterhand.
Henning ist ein normaler Familienvater, eine Verkörperung von Anpassung und Durchschnitt. Doch innerlich gerät er immer mehr unter Druck, ohne zu verstehen, was mit ihm geschieht. Er leidet unter Panikattacken. Er versucht "das Tier", wie er die Angst nennt, abzuwehren, indem er sich kein Recht auf psychische Probleme zugesteht und die äußere Fassade zwanghaft aufrechterhält. Tatsächlich aber beherrscht ihn das Tier zunehmend. Als Folge beginnt Henning, sich von seiner Umwelt zu entfremden.
Seine Dissoziation spitzt sich immer weiter zu, bis er auf einem Familienurlaub über die Feiertage allein eine sportliche Radtour unternimmt. Früher, vor der Familiengründung, fuhr er Rennrad. Als er auf der Tour einen Berg bezwingt bzw. - angesichts seines untrainierten Zustands - der Berg ihn bezwingt, holen ihn die Erinnerungen an ein schreckliches Kindheitstrauma ein, welches sich in einem Ferienhaus auf diesem Berg zugetragen hat, als er vier Jahre alt war. Er findet das Haus und die verdrängten Geschehnisse von damals holen ihn ein.
Der Roman schildert schonungslos, wie ein erwachsener Mann von seinem kindlichen Suchttrauma eingeholt wird. Der Vater von Henning ist suchtkrank, trennt sich früh und kümmert sich nicht weiter um die Kinder. Die alleinerziehende Mutter agiert co-abhängig: Sie kehrt die Erinnerung an früher unter den Teppich, indem sie Dinge kleinredet, den Kindern Lügengeschichten erzählt und sich über den Vater der Kinder verbittert ausschweigt. Überdies opfert sie sich schuldhaft in der Versorgung und Erziehung der Kinder auf, ohne ein eigenes Leben zu haben. Sie funktioniert depressiv als leere Hülle.
Als typisches "Helferkind" ist Henning ein Abbild seiner Mutter. Er kümmert sich ebenso von Schuld motiviert um seine zwei Jahre jüngere Schwester, die ihr Leben auch jenseits der 30 nicht in den Griff bekommt, und er versucht sein Posttrauma durch Gefühlsunterdrückung in den Griff zu bekommen. Die Autorin Juli Zeh versteht sich meisterlich darin, die hinter perfekter, normierter Fassade versteckte Abgründigkeit der kleinbürgerlichen Spießigkeit zu sezieren, ohne sie zu werten.
Schottner, D. (2017). Dunkelblau: Wie ich meinen Vater an den Alkohol verlor. München: Piper.
Der Wert des Buches ist, dass der Protagonist eine in meinen Augen co-abhängige Erzähl-Perspektive einnimmt. Der Blick ist vor allem auf das Siechtum des Vaters ausgerichtet. Es war der Grund, warum ich das Buch nicht ausgelesen habe. Es war mir unerträglich, die Geschichte bis zum bitteren Ende zu lesen. Ich bin diese Trinker-Biografien nach zwei Jahrzehnten der Suchttherapie überdrüssig, sie ähneln sich alle. Und auch das co-abhängige Zuschauen ist ein erstarrtes Ritual in einer (scheinbar ausweglosen) Sackgasse.
Doch das darf ich wiederholen: Das Leiden des Sohnes findet vor allem in der sprachlosen Vermeidung des eigenen Erlebens, also zwischen den Zeilen statt. Ein Kollege, der Schottner auf einer Lesung erlebt hat und mit dem ich mich über das Buch ausgetauscht habe, äußerte, dass genau dies das Beeindruckende des Werkes sei.
» Verlagsseite
Doty, J.R. (2019). Das Alphabet des Herzens. Die wahre Geschichte über einen, der sein Herz verlor und sich selbst fand. München: Knaur.
Das Original erschien 2016 unter dem Titel Into the Magic Shop bei Avery, Penguin Publishing Group.
Das Buch von Doty ist schwer zu kategorisieren. Es ist sowohl ein autobiografischer Roman über eine Kindheit in einer Suchtfamilie als auch ein Betroffenenbuch, ein Mutmachbuch und ein Ratgeber über die Resilienz, Unglück in Glück zu verwandeln. Auf der Seite Literatur habe ich es in der Rubrik Betroffenenliteratur berücksichtigt.
Dotys Kindheit mit einem suchtkranken Vater und einer depressiven, suizidalen Mutter ist durch Vernachlässigung, Verwahrlosung, Streit und Gewalt geprägt. Im Buch erzählt er davon, wie er sein familiäres Schicksal überwindet und ein weltberühmter Neurochirurg wird. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht eine kurze Episode mit 12 Jahren, als er zufällig in einem Laden für Magie auf die geheimnisvolle Großmutter Ruth trifft. Er beschreibt, wie er die Sommerferien mit ihr im Magierladen ihres Sohnes verbringt und sie ihn vier Lehren des Lebens lehrt:
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Körper entspannen, Stress- und Krisenmodus herunterfahren (Sympathikus) und entspannte Haltung einnehmen (Parasympathikus)
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Gedankenkontrolle, distanzieren von den Stimmen im Kopf
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Herz öffnen und Schmerz akzeptieren und verstehen, Mitgefühl und Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber
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Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühle, Lebensziele setzen und verfolgen
Doty sieht Ruth zwar nie wieder, doch verwirklicht er im Folgenden erfolgreich seine Träume gemäß ihrer Magie. Im zweiten und dritten Teil des Buches schildert er, wie er Arzt und Neurochirurg wird und die dritte Magie, also die Fähigkeit, das Herz zu öffnen, zunächst immer mehr verliert und sie dann neu entdeckt. Aus Ruths Magie des Herzens wird Dotys Alphabet des Herzens. - Mehr sei hier nicht verraten, um Sie nicht zu spoilern.
Doty hat eine typische, herzergreifende Geschichte des amerikanischen Traums publiziert, die insoweit nicht kitschig ist, weil er ehrlich und unprätentiös die Irrungen und Wirrungen seines Lebensweges beschreibt. Mich hat das Buch auch ergriffen, weil Ruths Magie im Prinzip mit dem Behandlungskonzept von mir und Barth ("Die langen Schatten der Sucht", 2020) übereinstimmt. Es geht darum, sich sich selbst, dem Leben und anderen gegenüber zu öffnen. Nur das Alphabet des Herzens am Ende erlebe ich als amerikanisch kitschig, doch irgendwie schön kitschig. Lassen wir Doty abschließend zu Wort kommen (S. 253):
Es kann schmerzhaft sein, wenn man mit offenem Herzen durchs Leben geht, aber noch mehr schmerzt es, wenn das Herz verschlossen ist.
Halbheer, M. (2015). Platzspitzbaby: Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Lachen: Wörterseh.
Aus dem Abstract der Verlagsseite:
Michelle ist knapp zehn, als sich ihre Eltern scheiden lassen und sie in die Obhut ihrer heroin- und kokainabhängigen Mutter kommt. Die folgenden Jahre werden für das Mädchen derart bedrohlich, dass es nur knapp überlebt. Das Elend dringt, auch über den besorgten Vater, immer wieder nach draußen. Aber Behörden, Ärzte, Polizeibeamte und zufällig involvierte Erwachsene bleiben untätig. Als Michelle endlich über das Unfassbare spricht, ist sie bereits ein Teenager. Sie wird umplatziert. Doch der Neuanfang bei den Pflegeeltern gerät, im dort streng religiösen Umfeld, zu einer weiteren Katastrophe. Als Michelle mit sechzehn ihr Leben selbst in die Hand nimmt, weiß sie noch immer nicht, was Normalität bedeutet.
Dieser Roman ist ist ein außergewöhnlich mutiges und intelligentes Buch. Es schildert offen und vielschichtig eine schreckliche menschliche Tragödie mitten in der modernen und reichen Schweiz. Halbheer erzählt ihre resiliente Geschichte, wie sie als Kind die Hölle überlebt und dem Schicksal der transgenerationalen Weitergabe aus eigener Kraft entkommt. Offen berichtet sie von ihren psychosozialen Schwierigkeiten, als junge Frau Fuß in einem geordneten Leben zu fassen. Und es darf angenommen werden, dass diese Heilungs- und Selbstfindungsgeschichte bis heute andauert (S. 187):
Im Unglück, das weiß ich heute, liegt auch das Vermögen, missliche Umstände zu ertragen, zu bewältigen und irgendwann hinter sich zu lassen.
Last but not least ist das Buch es eine Anklage gegen eine Gesellschaft, die ihr wertvollstes Gut, die Kinder, verrät, und ihre Institutionen, welche den schutzlosen Kindern die notwendige Hilfe versagen, die ihnen nach dem Kinderschutz und der Kinderrechtskonvention zustehen, nur um die suchtkranken Eltern vor den Konsequenzen ihres verantwortungslosen und übergriffigen Handelns zu schützen. Dazu möchte ich selber nichts sagen, sondern einfach Michelle Halbheer sprechen lassen (S.14, S. 222):
Das Wohl der Süchtigen wird über dasjenige ihrer Kinder gestellt, und ob die drogenabhängigen Mütter und Väter ihre Verantwortung als Eltern wahrnehmen, wird durch das professionelle Hilfesystem noch immer nicht infrage gestellt.
Auch wenn ich leugnete und relativierte, was in meinem Alltag geschah, besuchte ich doch die Schule, war umgeben von Menschen, die mein Leiden in der einen oder anderen Art und Weise mitbekamen. War es Gleichgültigkeit, Hilflosigkeit oder weil es an klaren Richtlinien fehlte, die ein schnelles Handeln und Eingreifen ermöglicht hätten, dass niemand reagierte? ... Auch heute erhält nur ein geringer Prozentsatz der betroffenen Jungen und Mädchen in irgendeiner Form Hilfe. Und dies, obwohl es in unserem Land Dutzende Anlaufstellen gibt, die intervenieren könnten, darunter Jugendämter, die Jugendgesundheitsstellen, die medizinisch-pädagogischen Amtsstellen, die Vormundschaftsbehörden, die Kinderpsychiatrie, Sozialdienste, Kinderspitäler, Opferhilfe-Beratungsstellen, Polizei, Kindernotruf, schulärztliche und schulpsychiatrische Dienste, auf Kinderschutz spezialisierte Gruppen und Kommissionen sowie die kantonalen Delegierten zur Vorbeugung von Kindermisshandlungen.
Ich könnte nun unzählige ähnliche Geschichten von KlientInnen aus meinem Praxisalltag erzählen, denen es ähnlich wie Michelle ergangen ist, die Misshandlungen und Missbrauch erfahren haben und wo auch alle - professionelle Stellen wie auch Familien, Freunde, Nachbarn etc. - weggeschaut haben. Und deswegen spricht mir das Buch aus dem Herzen.
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Steinrauch, F. (2012). Der kluge Säufer. Roman von Liebe und Sucht. Tübingen: Konkursverlag.
Dieses literarische Debüt erzählt eine schmerzhafte Liebesgeschichte zwischen zwei unkonventionellen, freiheitsliebenden und sinnlichen Menschen. Die Frau, aus deren Perspektive geschrieben wird, ist erst achtzehn, als sie dem "Mann ihres Lebens" begegnet. Ihre Brüder sehen Ennos Hände und denken: Mit dem stimmt etwas nicht, doch wissen auch sie nicht, was. Das erste Jahr über gelingt es Enno zu verbergen, dass er alkoholkrank ist. Bald droht die Liebe ganz der Sorge und dem Mitleid zu weichen. Dagegen kämpft die Ich-Erzählerin an. Als Enno verunglückt, verschafft ihm das eine Pause. Monatelang trinkt er keinen Alkohol. Doch dann...
Auf Co-ABHANGIG.de nehme ich ausschließlich angehörigenzentrierte Inhalte auf; das ist die Absicht, die Methode und der Sinn dieser Website. Wie auch schon beim Buch Dunkelblau (s.o.) verstoße ich mit der Berücksichtigung des Buches von Franziska Steinrauch - der Name ist ein Pseudonym, unter dem die Autorin Sonja Ruf veröffentlicht - eigentlich gegen die Maxime. Zwar ist der Roman aus der Perspektive von Franziska geschrieben, doch es geht fast ausschließlich um den alkoholkranken Ehemann Enno. Anders auch, als das zitierte Abstract es nahelegt, ist es eher eine konventionelle Trinkergeschichte, wie jemand persönliche und partnerschaftliche Freiheit und Sinnlichkeit im Suff ertränkt.
Der Verfall von Enno wird ungeschönt beschrieben, doch seine selbstsüchtige Zerstörungswut und seine destruktiven Motive werden einseitig verstanden und erklärt. Die Beweggründe, warum Franziska ihre Liebe über 20 Jahre mit Füßen treten lässt, bleiben im Dunkeln. Warum verlässt sie z.B. einen Liebhaber enttäuscht, mit dem sie sich eine feste Beziehung wünscht, weil sie in einem Detail unterschiedliche sexuelle Vorstellungen haben, bleibt aber bei Enno, obgleich er sie in allen Belangen enttäuscht? Selbst als er Abstinenz erzielt, dreht sich alles weiter um sein überwundenes Leiden und seine wiedergewonnene Lebendigkeit. Die Verzweiflung und das Leben von Franziska werden allenfalls angedeutet.
Anders als z.B. in der Erzählung von Sheff Beautiful boy, kriegt die Geschichte nicht die Kurve, Franziska in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Die Frau bleibt blass. Dies löst ein ambivalentes Empfinden in mir aus, ich finde es gleichermaßen konsequent als auch schade. Schade ist es, weil es wirklich irgendwie auch eine Liebesgeschichte ist und die Fragestellung spannend wäre, wie sich Franziska trotz der frustrierenden Partnerschaft ihre Liebesfähigkeit und Lebenszugewandtheit erhält.
Warum habe ich das Buch hier dennoch aufgenommen? Erstens gibt es Romane über eine Kindheit in einer Suchtfamilie häufiger, Romane über eine süchtig, co-abhängige Partnerschaft eher weniger. Zweitens legt das Buch zwischen den Zeilen und bis zur letzten Zeile Zeugnis darüber ab, was Co-Abhängigkeit ist: Das Kreisen um den Suchtkranken, selbst wenn dieser die Sucht an den Nagel hängt und ins Leben zurückkehrt. Die Überwindung der Sucht beendet nicht die Co-Abhängigkeit, ein häufiger Irrtum von verstrickten Angehörigen.
Drittens möchte ich einen persönlichen Wunsch äußern, der mit jeder Seite gewachsen ist, zum Ende des Werkes in der wiederholten Enttäuschung beinah schmerzhaft wurde, und mich damit direkt an die Autorin wenden: Frau Steinrauch, bitte, schreiben Sie einen zweiten Roman über die Geschichte von Franziska, über ihre Verzweiflung, Ängste, Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen, ihren co-abhängigen "Affen", ihre Liebschaften, biografischen Prägungen, welche ihre Abhängigkeit, aber auch Liebe begründen, und Ihre Karriere als Schriftstellerin, über Ihre kleinen und großen Erfolge und Misserfolge als Ehefrau, als Liebhaberin, als Schriftstellerin und vor allem als (Mit-)Mensch. Bitte, trauen Sie sich, für Franziska!
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Koch, C. (2010) Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern. Hamburg: Acabus.
Aus dem Abstract zum Buch:
„Wessen Moral?“ ist ein autobiografischer Roman über eine junge Frau, die retrospektiv das Verhältnis zu ihrer suchtkranken Mutter beleuchtet und zu verstehen versucht. Zunächst noch mit den Augen eines Kindes beobachtet die Autorin wie ihre Mutter Stück für Stück an Stärke und Lebenswillen verliert. Mehr und mehr lässt sich die Mutter von ihren eigenen Süchten leiten, bis sie schließlich an ihnen zerbricht. Cécile Koch versuchte lange, sich ihre verstörende Welt mit kindlicher Fantasie zurechtzurücken. Als Außenseiterin in der Nachbarschaft und Schule erfindet sie sich Freunde und erschafft sich eine eigene Realität. Mit vierzehn Jahren reist sie sechs Wochen mit einem kleinen Wanderzirkus mit und bezahlt dafür mit dem einzigen, was sie hat - mit sich selbst. Nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr bricht ihr der Boden unter den Füßen weg...
Mit einfachen, nüchternen Worten betrachtet die Autorin rückblickend ihr Leben ohne geborgene Kindheit und ihren Versuch, aus eigener Kraft erwachsen zu werden. Nicht die nachträgliche Betroffenheit steht im Vordergrund ihrer Schilderungen. Vielmehr geht es um den Mut und auch die Probleme, das eigene Leben anzunehmen und selbstbestimmt zu führen. Der Titel „Wessen Moral?“ steht stellvertretend für alle Fragen nach den Gründen und der Gerechtigkeit der Welt, welche Cécile Koch beschäftigen.
Als ich ungefähr in der Mitte des Buches von Cécile Koch angelangt war, habe ich mich an eine Fortbildung vor einigen Jahren erinnert. Eine Kollegin hatte mir zum Ende kritisch zurückgemeldet, dass sie meine Ausführungen übertrieben drastisch fände. Diese Bewertung hat mich damals gekränkt. Ich hatte die ganz schlimmen Sachen ausgelassen, um die KollegInnen nicht zu sehr zu verstören. Wenn ich vor Betroffenen referiere, dann spreche ich auch die schrecklichen Sachen an. Die Betroffenen fühlen sich dadurch, so melden sie es mir zurück, in ihren Leiden und Schmerzen gesehen. Sie fühlen sich gewürdigt, wenn jemand versucht, das Unsagbare zu sagen.
In Veranstaltungen für KollegInnen erfahre ich immer wieder, dass viele das Thema nicht wirklich durchdringen können, entweder weil sie wohlbehütet aufgewachsen sind und die gesellschaftlichen Abgründe nur theoretisch aus Büchern und Filmen kennen oder weil sie ihr eigenes traumatisches Thema noch abwehren. Und ich erkenne die wenigen, welche selbst betroffen sind und denen dies bewusst ist. Sie sind still, schweigen und verstehen. Sie nicken fast unsichtbar an den richtigen Stellen und in ihren Augen kann ich traurige Freude darüber erkennen, dass ich versuche, ihre Not in Worte zu kleiden.
Wessen Moral? ist nicht die allerschlimmste Autobiografie, Asche meiner Mutter, Platzspitzbaby oder Kinderwhore sind nach meinem Dafürhalten noch drastischer, so schlimm, dass sie auch für mich nicht mehr nachvollziehbar sind. Das macht die ganz schlimmen Bücher irgendwie abstrakt und lesbar. Doch solche Vergleiche sind pietätlos: schlimm, schlimmer, am schlimmsten, am allerschlimmsten. Die Leiden der jungen Cécile sind sehr schlimm, gerade noch nachvollziehbar, was es eher schlimmer macht.
Ihr Ekel, ihre Scham, ihre Wut, ihre Verzweiflung, sie gehen unter die Haut und lösten körperliche Dissonanzen in mir aus. Der Dreck ihrer Kindheit war fühlbar. Die Scham und der Selbsthass von Cécile verkrampften sich wie eine Faust in meinem Bauchraum, dass ich Pausen machen musste, um zu atmen und mich zu lockern. Und vor allem das Mitgefühl mit der Protagonistin haben mich wiederholt geflutet. Ich musste dann das Buch weglegen, musste mich bewegen, mir einen bewussten Sinnesreiz zuführen, um mich zurück in meine eher friedliche Realität zu holen. Im Nachhinein denke ich, dass die besagte Kollegin zu der abwehrenden Gruppe an KollegInnen gehört. Ich würde ihr gerne das Buch von Koch schenken. Es berührt tiefgehend.
Es ist zwar schmerzhaft, doch befreiend und bereichernd, sich mit den eigenen biografischen Belastungen und Traumata auseinanderzusetzen. Darüber legt das Werk von Koch Zeugnis ab. Es ist ein mutiges und notwendiges Buch, weil es verdeutlicht, unter welchen armen und brutalen Bedingungen Kinder in unserem reichen, demokratischen Kulturkreis aufwachsen. Als besonders wertvoll habe ich wahrgenommen, dass Koch herausarbeitet, wie der emotionale Missbrauch den Nährboden für auch sexuellen Missbrauch schafft. Viele meiner KlientInnen haben wie Cécile in der Jugend erotische Ausbeutung durch ältere Männer erfahren und einige wurden durch den alkoholisierten Partner zum nicht einvernehmlichen Sex genötigt. Emotionaler und sexueller Missbrauch sind schrecklich, sie sind Spielarten derselben beschämenden, dissozialen Erniedrigung. Dazu abschließend ein Zitat aus dem Buch (S.215):
Aufgrund der Erfahrungen, die ich in meinem Elternhaus gesammelt hatte, hatte ich keine klare Vorstellung davon, was 'normal' ist. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe und Aufmerksamkeit und war wir ein verhungerter Dackel gewillt alles zu tun, um anerkannt und geliebt zu werden. Ich hatte keine gesunde Ressource, die mir ein Signal gibt, dass hier eine nicht zu überschreitende Grenze überschrtten wird, sondern hatte andauernd das Gefühl noch mehr geben zu müssen, um endlich zu bekommen, wonach ich mich sehnte. Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hat mich damals fast terrissen. Der Direktor des Zirkus hat dies bewusst zu seinen Gunsten genutzt und heute würde ich ganz klar sagen: es war Missbrauch.
Sheff, D. (2008). Beautiful boy. A father´s journey through his son´s addiction. Boston: Houghton Mifflin.
David Sheff schildert autobiografisch seine Erfahrungen als Vater, der sich in der Hilfe für seinen drogenabhängigen Sohn immer weiter verliert. Zum Buch gibt es auch einen Film mit demselben Titel (2018), der in der Rubrik Spielfilme weiter unter rezensiert ist. Auf Wikipedia werden die Erfahrungen von Sheff als liebender und überversorgender Vater zusammenfassend wie folgt beschrieben (Stand: 01.04.2023):
Throughout the memoir Sheff attends numerous Al-Anon Meetings and therapy sessions. In these different sessions he is continually told of the three Cs: you did not cause it, you cannot control it, and you cannot cure it. Sheff has a difficult time accepting these statements throughout the memoir. At the end, however, he says that he has come to accept two of the Cs, that he cannot control it, and he cannot cure it. He realizes that he has done everything he can do to try to help Nic, and knows that it is up to Nic to figure things out if he is to fully recover.
» Wikipedia
Walls, J. (2005). Schloss aus Glas. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Das Buch von Walls wurde auch verfilmt. In der folgenden Rezension konzentriere ich mich auf das Buch. Eine zusätzliche Einschätzung zum Film finden Sie auf dieser Seite in der Rubrik Spielfilme. Zum biografischen Hintergrund von Film und Buch auf Wikipedia:
Der Film basiert auf dem autobiografischen Roman Schloss aus Glas (Originaltitel The Glass Castle: A Memoir) von Jeannette Walls aus dem Jahr 2005, ... Walls beschreibt in Schloss aus Glas ihre schwere Kindheit und wie ihre Eltern mit vier Kindern durch die USA vagabundierten. In den ersten fünf Jahren ihrer Ehe hatten ihre Eltern 27 Adressen, da ihr Vater es an keinem Arbeitsplatz länger aushielt und kein Geld für die Miete hatte. Zudem fühlte sich der alkoholkranke und wahrscheinlich bipolare Rex vom FBI verfolgt. Rose Mary, ihre Mutter, war wahrscheinlich auch bipolar und hielt sich für eine Künstlerin.
Die Kinder mussten oft hungern, in zerschlissener Kleidung herumlaufen und wurden daher in den verschiedenen Schulen, die sie besuchten, von ihren Mitschülern gehänselt. Als die Familie in den Heimatort des Vaters Welch in den Appalachen zurückkehrte, lebten sie bei Verwandten in einem Haus mit drei Zimmern ohne Wasser, Strom und Heizung, wo es feucht und schmutzig war und von Ungeziefer, Schlangen und Ratten wimmelte. Da Jeannette dies nicht mehr aushielt, schlug sie sich im Alter von 17 Jahren bis nach New York durch, wo sie in der Bronx bei ihrer älteren Schwester Lori wohnte. Dort machte sie ihren Schulabschluss, lieh sich von allen möglichen Leuten Geld und arbeitete in einer Anwaltskanzlei, um sich das Studium auf dem New Yorker Barnard College zu finanzieren.
Die Geschichte von Schloss aus Glas gewinnt ihre Dramatik aus der vielschichtigen Ambivalenz einer Suchtfamilie. Die amerikanische Journalistin Jeanette Walls erzählt die Ereignisse ihrer Kindheit, ohne sittliche Maßstäbe anzulegen. Sie beschreibt - typisch Journalistin - aus einer eher äußeren Perspektive, ohne zu verurteilen oder zu idealisieren. Dem Leser hilft diese nüchterne Erzählweise, Abstand zu wahren und sich weder mit der Liebe, den Abenteuern und der Faszination des Vagabunden-Lebens der Walls noch mit den Entbehrungen, Erniedrigungen und Leiden der Kinder allzu sehr zu identifizieren.
Mal schlägt das Pendel in die eine Richtung aus: "Reiche Stadtmenschen hatten schicke Wohnungen, aber ihre Luft war so verschmutzt, dass sie die Sterne nicht einmal sehen konnten, und wir wären ja schön verrückt, wenn wir mit ihnen tauschen wollten", mal in die andere Richtung: "Und mit erhobener Stimme fügte ich hinzu: »Ich hatte Hunger.« Mom starrte mich erschrocken an. Ich hatte gegen eine unserer stillschweigenden Regeln verstoßen: Es wurde von uns erwartet, dass wir stets so taten, als wäre unser Leben ein einziges langes, unglaublich lustiges Abenteuer."
Walls schafft es bis zum Ende, diese Ambivalenz feinfühlig auszubalancieren. Dieser Herangehensweise ist geschuldet, dass sie selten eine Innenperspektive des kindlichen Erlebens einnimmt. Der Hunger, der Ekel und die Schmerzen der Protagonistin Jeanette werden zwar benannt, doch werden sie mit wenigen Ausnahmen nicht näher ausgeführt, anders als z.B. in dem autobiografischen Roman Shuggie Bain. Diese sachliche Erlebensverzerrung ist typisch für traumatisierte Kinder aus Suchtfamilien, es ist eine funktionale Überlebensstrategie. Walls bleibt als Lieblingstochter so gegenüber Vater und Mutter loyal, sie schützt sich und ihre Familie vor moralischer Vereinnahmung durch andere und ihre Geschichte ist dadurch zugänglicher, lesbarer als die von Shuggie Bain.
Bei letzterer Autobiografie zersetzen die Auswirkungen des Suchtmittelkonsums die Familienbande und Shuggie, wie auch die älteren Geschwister zuvor, befreit sich, indem er weggeht. Bei Schloss aus Glass wird der Familienzusammenhalt hingegen durch die suchtbedingten Katastrophen noch gestärkt und die Protagonistin findet zu sich, indem sie in den Schoß der Familie zurückkehrt und zu dieser und der gemeinsamen Geschichte steht.
Obendrein nimmt Walls durch ihre Nüchternheit den mannigfaltigen Traumata den Schrecken, überfordert die LeserInnen nicht emotional und macht das Thema der Suchtfamilie einem breiterem Publikum zugänglich. Schloss aus Glass konnte so ein Bestseller werden. Zwar haben der Vater und die Mutter auf fast schon sympathische Art und Weise darin versagt, ihre grandiosen beruflichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüche und Versprechungen zu verwirklichen, doch die Tochter macht es besser und gibt der familiären Geschichte eine unverhoffte, erfolgreiche Wendung. Sie versilbert, so kann man es metaphorisch sagen, das Scheitern des Vaters, Gold zu finden.
Im Film wirft die erwachsene Jeanette dem Vater am Ende vor: "Reden ist nicht gleich Handeln." Die Autorin Jeanette Walls scheint diesen tragischen Zwiespalt ihrer Eltern im und durch das Schreiben überwunden zu haben. Es ist eine resiliente Geschichte.
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McCourt, F. (1996). Die Asche meiner Mutter. Irische Erinnerungen. München: btb.
Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.
Frank McCourt ist ein amerikanischer Schriftsteller irischer Abstammung, wurde 1930 in New York geboren und starb dort 2009. In dem autobiografischen Roman Die Asche meiner Mutter, den er nach seiner Pensionierung als Lehrer schrieb, verarbeitete er die schlimmen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend, die er in bitterer Armut in Limerick in Irland verbrachte. Der Vater war alkoholkrank, war überwiegend arbeitslos, verlor Jobs alkoholbedingt schon wenigen Tagen und vertrank das wenige Geld, welches die Familie hatte.
Frank und die Geschwister wuchsen im Dreck, ohne Heizung und mit ständigem Hunger auf. Sie bettelten, prügelten sich, wurden geprügelt, sammelten Abfälle von der Straße und klauten, um nicht zu erfrieren oder zu verhungern. Drei der sieben Geschwister starben noch als Kleinkinder und auch Frank überlebte nur mit knapper Not eine Typhus-Erkrankung. Als Jugendlicher arbeitete Frank als Telegramm-Junge und sparte heimlich das notwendige Geld, um sich eine Schiffsfahrt zurück nach New York zu leisten.
Frank McCourt erzählt unprätentiös die Geschehnisse seiner Kindheit, ohne zu bewerten, zu moralisieren oder zu analysieren. Auch beschönigt und dramatisiert er nicht. Die Geschichte ist nichts für schwache Nerven, da er die schmutzigen, kaputten und bitteren Lebenszusammenhänge schonungslos bis ins Detail beschreibt. Eine Note am Rande: Zwar findet ein Teil der Geschichte, neunte bis 14. Lebensjah, auf dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs statt, doch ist dieser aufgrund des Überlebenskampfes der Familie nur eine Nebensächlichkeit.
Mir hat gut gefallen, dass McCourt in einem restringierten Code schreibt. Die Sprache passt sich authentisch dem Denken und der naiven Sichtweise des Kindes und Jugendlichen an. Das Buch baut seinen Spannungsbogen aus dem Kontrast zwischen äußerer Armut und dem Reichtum des Erlebens des kindlichen Ich-Erzählers auf. Ich bin viel zu behütet aufgewachsen, um dem Buch sprachlich gerecht werden zu können, deswegen lassen wir Frank abschließend zu Wort kommen:
Sie ist mit dem Baby im Bett. Malachy und Michael schlafen oben in Italien. Ich weiß, ich brauche Mam gar nichts zu sagen, denn bald, wenn die Kneipen schießen, wird er singend nach Hause kommen und uns einen Penny anbieten, wenn wir für Irland sterben, und von jetzt an wird es anders sein, denn es ist schon schlimm genug, wenn ein Mann das Stempelgeld oder den Lohn vertrinkt, aber ein Mann, der das Geld für ein neues Baby vertrinkt, der ist tiefer gesunken als tief, wie meine Mutter sagen würde.
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Schnitzler, A. (1924). Fräulein Else.
Das 1924 erschienene Buch des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler ist eine Monolog-Novelle. Das gesamte Drama wird aus der Perspektive von Else als innerer Dialog ausgebreitet. Aus der angehörigenzentrierten Sicht ist es eine typische Geschichte der emotionalen und sexuellen Ausbeutung von Kindern aus Suchtfamilien. Else ist die Tochter eines spielsüchtigen Wiener Rechtsanwalts, der Gelder veruntreut hat und dem deswegen eine Inhaftierung droht.
Immer diese Geschichten! Seit sieben Jahren! Nein - länger. Wer möchte mir das ansehen? Niemand sieht mir das an, auch dem Papa nicht. Und doch wissen es alle Leute. Rätselhaft, dass wir uns immer noch halten. Wie man alles gewöht.
Es ist allerdings die (co-abhängig agierende) Mutter, die die Tochter bittet, bei einem reichen Freund der Familie, dem Kunsthändler Dorsay, um eine größere Summe zu betteln. Dorsay verlangt von Else als Gegenleistung, sich vor ihm zu entblößen. Else gerät in eine ausweglose psychische Krise zwischen der Loyalität zu ihrer Familie einerseits, welche Selbstaufgabe und -aufopferung bedeutet, sowie ihrer persönlichen, sexuellen Integrität als junge Frau andererseits. Das Schamgefängnis, die sprachlose Verzweiflung der Betroffenen und das tragische Unverständnis der anderen wird inszeniert:
Warum hört ihr mich denn nicht? Wisst ihr denn nicht, dass ich sterbe? Aber ich spüre nichts. Nur müde bin ich. Paul! Ich bin müde. Hörst du mich denn nicht? Ich bin müde, Paul. Ich kann die Lippen nicht öffnen. Ich kann die Lippen nicht öffnen. Ich kann die Zunge nicht bewegen, aber ich bin noch nicht tot.
Die Novelle macht deutlich, dass Traumatisierungen von Kindern aus Suchtfamilien schon in anderen historischen Kontexten, hier das höhere bürgerliche Milieu Wiens des beginnenden 20. Jahrhunderts, stattgefunden haben. Schnitzler entlarvt die moralisch sittliche Verlogenheit einer patriarchalen Gesellschaft, die ihre Analogie in der Verlogenheit der süchtigen Familie von Else findet.
Ende, M. (1973). Momo. Stuttgart: Thienemann.
Twain, M. (1884). Huckleberry Finns Abenteuer. Zürich: Diogenes.
Warum werden die beiden Klassiker von Michael Ende und Mark Twain hier aufgeführt? Huckleberry Finn ist der Sohn eines Alkoholikers und Raufbolds. Huckleberry muss sich nicht nur dem Zugriff seines gewalttätigen Vaters erwehren, auch die bevormundende Fürsorge der Gesellschaft bedroht seine Freiheit und Selbstverwirklichung. Bei Momo repräsentieren die grauen Herren die Sucht. Sie rauchen Zigaretten, die sie aus den Blütenblättern der Lebenszeit der Menschen gewinnen und sie manipulieren die Menschen, sich der Moral und dem Diktat der Beschleunigung zu unterwerfen. Die angstgetriebene Hetze der Menschen kann als co-abhängig eingestuft werden.
Momo und Huckleberry repräsentieren beide einen leidenschaftlichen Gegenentwurf zu einer abhängig entfremdeten Welt. Sie sind durch und durch "unprinzessinnenhaft" und Vorbild für alle, die sich in Anpassung, Arbeitseifer und Pflichterfüllung verloren haben und ihr Leben zurückgewinnen wollen. Beide Protagonisten sind spontan, authentisch, kreativ, mutig und eigensinnig, können gut zuhören und beobachten, lachen und weinen, spielen gerne, lieben den Müßiggang und genießen ihr Dasein in vollen Zügen. In ihrer Resilienz sind sie Vorbilder darin, für die eigene Unabhängigkeit und die anderer Menschen einzustehen.