Helfen zu müssen, ist der süchtige Zwang der Co-Abhängigkeit.

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Andere Medien

Die hier aufgeführten Romane, Spielfilme, Reportagen, Dokumentationen und Lieder werden unter dem Aspekt empfohlen, dass suchtbetroffene Angehörige und Kinder im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. In Selbsthilfe, Beratung und Therapie dienen Medien dem Zweck, dass sich Klienten im Spiegel des Mediums wiedererkennen, kreative Potenziale angeregt und die Betroffenen ermutigt werden, aus starren Mustern auszubrechen, sich auszuprobieren und das Leben neu zu entdecken.

In der Rubrik Weitere Empfehlungen wird auf kreative Werke hingewiesen, die zwar nicht angehörigenzentriert, dennoch besonders geeignet sind, co-abhängige Sicht- und Verhaltensweisen zu hinterfragen und abzumildern.

Stuart, D. (2021). Shuggie Bain. Berlin: Hanser.
Das englische Original ist 2020 bei Picador/London erschienen.

Shuggie Bain ist ein Roman über das Aufwachsen von drei Kindern mit einer alkoholkranken Mutter. Es ist gleichwohl das Portrait einer Alkoholikerin, eine Coming-of-Age-Geschichte ihres jüngsten Sohns Shuggie als auch eine Klassen- und Arbeiterstudie in den 80ern und Anfang der 90er in Glasgow auf dem gesellschaftlichen Hintergrund des Thatcherismus. Die klassische Industrie stirbt und Depression, Arbeitslosigkeit und Armut macht sich im Arbeitermilieu breit. Die Mutter Agnes verliert sich immer mehr in Tagträumen von einem besseren Leben und im Suff. Der Vater Shug, Taxifahrer, verspricht ein besseres Leben, geht notorisch fremd und verlässt schließlich die Familie. Die Kinder kümmern sich erfolglos um die Mutter. Eins nach dem anderen sucht das Weite, um das eigene Leben zu retten. Shuggie hält als Jüngster und Lieblingssohn am längsten an der Hoffnung fest, die Mutter retten zu können. Doch er hat eigene Probleme als Heranwachsender, der von allen vermittelt bekommt, nicht normal zu sein, weil er als Junge Fußball nicht mag und lieber mit Puppen spielt.

Der junge Autor Douglas Stuart hat mit seinem Debütroman den renommierten Booker Prize gewonnen. Es ist in einer wunderbaren Mischung aus Gossen-Vokabular sowie bild- und symbolträchtigem Sprachstil formuliert, der die trostlosen sozialen, familiären und persönlichen Zusammenhänge hautnah erfahrbar macht und den Figuren gleichzeitig Stolz und Würde lässt. In der detailreichen Brutalität und Hässlichkeit der Schilderungen versteckt sich etwas respektvoll Sanftes und Menschliches. So realistisch abstoßend die Geschehnisse sind, ist man als Leser von den Schicksalsschlägen und der inneren Not der Protagonisten auch mitfühlend ergriffen. Es ist deswegen kein Buch, welches man in einem Rutsch lesen kann. Nach jedem Kapitel braucht es eine Pause, um Abstand zu nehmen, zu verarbeiten und einen neuen Zugang zum Weiterlesen zu finden. Die Erfahrungen von Leek, Catherine und Shuggie in Stuarts Werk ähneln, trotz des anderen geschichtlichen Kontextes, verblüffend den Erzählungen meiner Klienten in der Therapie. Dieses intime Detailwissen ist nicht verwunderlich, weil der Autor im Roman autobiografische Erlebnisse mit seiner alkoholkranken Mutter verarbeitet. Das Buch ist nichts für Zartbesaitete. Auch Betroffenen, die ihr Trauma noch nicht bewältigt haben, kann ich es nicht empfehlen. Ansonsten ist das Buch eine kleine Kostbarkeit, weil es Einblicke in menschliche Abgründe bietet, welche kein Ratgeber oder Fachbuch liefern kann und ich bislang nur in dem Film "Ein Teil von uns" finden konnte.

» Buch und Autor

Ohde, D. (2020). Streulicht. Berlin: Suhrkamp.

Eine namenlose Ich-Erzählerin schildert ihre Kindheit und Jugend. Die Eltern sind türkische Einwanderer. Der Vater arbeitet, säuft - wie auch der Großvater - und ist kaufsüchtig, die Mutter opfert sich für andere auf und beide Eltern meiden misstrauisch und ängstlich jeglichen sozialen Kontakt. Lehrer und andere Erwachsene sehen das Kind nicht oder werten es ab. Auch andere Kinder lehnen das Kind als Ausländerin ab und die beiden einzigen Freunde, die es hat, sind zu sehr mit ihrem behüteten und normierten Leben beschäftigt, um es zu verstehen. Niemand wendet sich dem Kind zu oder traut ihm etwas zu. Es bleibt gesichtslos, ist stumm vor Angst und Scham, passt sich an, um nicht aufzufallen, und leidet still.

Als Psychologe könnte ich das Buch von Deniz Ohde analysieren und kategorisieren. Ich könnte etwas Kluges über komplexe Traumatisierung, Dissoziation und Selbstwertstörung schreiben. Doch genau gegen dieses Unrecht, etikettiert und in Schubladen gesteckt zu werden, verwehrt sich die Erzählerin zu Recht. Ihre Schilderungen geben einen ungeschminkten, abgrundtiefen Einblick in das Innenleben eines Menschen, der nicht gesehen und nicht gehört und dem kein Raum gegeben wird, selber herauszufinden, wer er ist, was er denkt und fühlt und wie er sich im Leben verwirklichen will. Die Texte sind ein befreiender Aufschrei und eine sich selbst entfaltende Anklage eines mundtot gemachten Menschen. Das Buch will nicht kommentiert werden, es will gehört werden.

» Zum Buch bei Suhrkamp

Zeh, J. (2018). Neujahr. München: Luchterhand.

Henning ist ein normaler Familienvater, eine Verkörperung von Anpassung und Durchschnitt. Doch innerlich gerät er immer mehr unter Druck, ohne zu verstehen, was mit ihm geschieht. Er leidet unter Panikattacken. Er versucht "das Tier", wie er die Angst nennt, abzuwehren, indem er sich kein Recht auf psychische Probleme zugesteht und die äußere Fassade zwanghaft aufrechterhält. Tatsächlich aber beherrscht ihn das Tier zunehmend. Als Folge beginnt Henning, sich von seiner Umwelt zu entfremden. Seine Dissoziation spitzt sich immer weiter zu, bis er auf einem Familienurlaub über die Feiertage allein eine sportliche Radtour unternimmt. Früher, vor der Familiengründung, fuhr er Rennrad. Als er auf der Tour einen Berg bezwingt bzw. - angesichts seines untrainierten Zustands - der Berg ihn bezwingt, holen ihn die Erinnerungen an ein schreckliches Kindheitstrauma ein, welches sich in einem Ferienhaus auf diesem Berg zugetragen hat, als er vier Jahre alt war. Er findet das Haus und die verdrängten Geschehnisse von damals holen ihn ein.

Der Roman schildert schonungslos, wie ein erwachsener Mann von seinem kindlichen Suchttrauma eingeholt wird. Der Vater von Henning ist suchtkrank, trennt sich früh und kümmert sich nicht weiter um die Kinder. Die alleinerziehende Mutter agiert co-abhängig: Sie kehrt die Erinnerung an früher unter den Teppich, indem sie Dinge kleinredet, den Kindern Lügengeschichten erzählt und sich über den Vater der Kinder verbittert ausschweigt. Überdies opfert sie sich schuldhaft in der Versorgung und Erziehung der Kinder auf, ohne ein eigenes Leben zu haben. Sie funktioniert depressiv als leere Hülle. Als typisches "Helferkind" ist Henning ein Abbild seiner Mutter. Er kümmert sich ebenso von Schuld motiviert um seine zwei Jahre jüngere Schwester, die ihr Leben auch jenseits der 30 nicht in den Griff bekommt, und er versucht sein Posttrauma durch Gefühlsunterdrückung in den Griff zu bekommen. Die Autorin Juli Zeh versteht sich meisterlich darin, die hinter perfekter, normierter Fassade versteckte Abgründigkeit der kleinbürgerlichen Spießigkeit zu sezieren, ohne sie zu werten.

Sheff, D. (2008). Beautiful boy. A father´s journey through his son´s addiction. Boston: Houghton Mifflin.

David Sheff schildert autobiografisch seine Erfahrungen als Vater, der sich in der Hilfe für seinen drogenabhängigen Sohn immer weiter verliert. Zum Buch gibt es auch einen Film mit demselben Titel (2018), der in der Rubrik Spielfilme weiter unter rezensiert wird. Auf Wikipedia werden die Erfahrungen von Sheff als liebender und überversorgender Vater zusammenfassend wie folgt beschrieben (Stand: 01.04.2023):

Throughout the memoir Sheff attends numerous Al-Anon Meetings and therapy sessions. In these different sessions he is continually told of the three Cs: you did not cause it, you cannot control it, and you cannot cure it. Sheff has a difficult time accepting these statements throughout the memoir. At the end, however, he says that he has come to accept two of the Cs, that he cannot control it, and he cannot cure it. He realizes that he has done everything he can do to try to help Nic, and knows that it is up to Nic to figure things out if he is to fully recover.

» Wikipedia

Ende, M. (1973). Momo. Stuttgart: Thienemann.
Twain, M. (1884). Huckleberry Finns Abenteuer. Zürich: Diogenes.

Warum werden die beiden Klassiker von Michael Ende und Mark Twain hier aufgeführt? Huckleberry Finn ist der Sohn eines Alkoholikers und Raufbolds. Huckleberry muss sich nicht nur dem Zugriff seines gewalttätigen Vaters erwehren, auch die (co-abhängig) bevormundende Fürsorge der Gesellschaft bedroht seine Freiheit und Selbstverwirklichung. Bei Momo repräsentieren die grauen Herren die Sucht. Sie rauchen Zigaretten, die sie aus den Blütenblättern der Lebenszeit der Menschen gewinnen und sie manipulieren geschickt die Menschen, sich der Moral und dem Diktat der Beschleunigung zu unterwerfen. Die angstgetriebene Hetze der Menschen, Zeit zu sparen, kann als co-abhängig eingestuft werden.

Momo und Huckleberry repräsentieren beide einen leidenschaftlichen Gegenentwurf zu einer entfremdeten Welt: Sie sind spontan, authentisch, kreativ, mutig und eigensinnig, können gut zuhören und beobachten, lachen und weinen, spielen gerne, lieben den Müßiggang und genießen ihr Dasein in vollen Zügen. In ihrer Resilienz sind sie Vorbilder darin, für die eigene Unabhängigkeit und die anderer Menschen einzustehen.

Kaurismäki, A. (Reg., 2023). Fallende Blätter [Film]. Finnland.

Es ist ein typischer, eigenwilliger Film des finnischen Regisseurs. Jede Szene ist wie ein Gemälde. Die Dramaturgie der Bilder wird u.a. durch den Kontrast gespeist, zwar in der heutigen Zeit zu spielen, doch mit Accessoires der 60er und 70er Jahre ausgestattet zu sein. Und es wird wenig gesprochen. Vor vielen Jahren hatte ich eine Finnin als Klientin. Sie saß kaum, als sie mir lakonisch mitteilte, wie sehr es sie nerve, dass Deutsche so viel sprechen und sich für alles rechtfertigen müssen. Wir haben dann in der Therapie oft geschwiegen, was mir gefallen hat.

In diesem Sinne will ich kein überflüssiges Wort über den Film verlieren. Nur so viel: In der Tragikkomödie geht es um eine Liebesgeschichte zwischen zwei proletarischen Verlieren. Die nicht mehr junge Frau ist ein erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie. Der Vater starb durch Alkohol, die Mutter vor Kummer. Der ebenfalls nicht mehr junge Mann ist ein Trinker, der nichts mehr vom Leben erwartet.

Der Film ist eine humorvolle, pragmatische Anleitung, wie Klarheit und Nüchternheit hilft, Unabhängigkeit zu wahren und Liebe zu ermöglichen. Beide Protagonisten sind zwar wortkarg, doch keinesfalls sprachlos. Der ruhige Erzählstrom von Kaurismäki erlaubt es dem Zuschauer, sich bevormundungsfrei eigene Gedanken über das Gesehene zu machen und den eigenen Stimmungen nachzugehen. - Eine kleine Geschichte und großes europäisches Kino!

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» Filmtrailer

van Groeningen, F. (Reg., 2018). Beautiful Boy [Film]. United States: Amazon Studios.

Der Film beruht auf einer wahren Geschichte eines Vaters und seines drogenabhängigen Sohnes an der Westküste der USA (San Francisco, Los Angeles). Das Besondere ist, dass das Drehbuch auf den Erzählungen beider basiert, welche jeweils in Romanen niedergeschrieben wurden: "Beautiful Boy: A Father´s Journey Through His Son´s Addiction" von David Sheff und "Tweak: Growing Up on Methampetamines" von Nic Sheff.

Der Film wechselt ständig zwischen den Perspektiven von David und Nic. Die Filmszenen sind in Bezug auf den Sohn chronologisch geordnet, springen in Bezug auf den Vater indes in der Zeit hin und her. Die Rückblenden erzeugen einen noch tieferen emotionalen Einblick in das Erleben des Vaters. Der Zuschauer gerät so immer tiefer in den Strudel der eskalierenden, zerstörerischen Drogensucht von Nic und dem ebenso zerstörerischen Unterfangen des Vaters, den Sohn zu retten.

Die atmosphärische Dichte des Films wird durch den eher zurückhaltenden Einsatz von Sprache und durch die Inanspruchnahme von bis ins Detail ausgestalteten Kulissen, Musik, Landschaftsaufnahmen, Bildern und Symbolik verstärkt. Z.B. kommt der gleichnamige Song von John Lennon "Beautiful Boy" im Film vor. Das Lied handelt von einem Vater, der seinen Sohn nach einem Alptraum tröstet: "Close your eyes - Have no fear - The monster′s gone - He's on the run and your daddy′s here".

Zurück zum Filmplot: David wacht schließlich aus der Endlosschleife seines wahr gewordenen Alptraums auf. Als er von seinen verzweifelten Bemühungen loslassen kann und sich vom Sohn abgrenzt, erfährt die Geschichte eine dramatische Wendung.

» Trailer

Goiginger, A. (Reg., 2017). Die beste aller Welten [Film]. Mödling bei Wien: Ritzl-Film.

Der Film ist autobiografisch, der Autor und Regisseur erzählt von seiner schwierigen Kindheit, wie er als Siebenjähriger in der Drogenszene Salzburgs aufwächst. Die Mutter Helga ist zerrissen zwischen ihrem Vorsatz, für ihren Sohn gut zu sorgen, und dem Zwang, ihre innere Leere mit Drogenkonsum zu stillen. Im Mittelpunkt steht indes Adrian, wundervoll gespielt von Jeremy Miliker, wie er sowohl Liebe, Freiheit und Lebensfreude erfährt, als auch die mit dem Drogenleben verbundenen Schwierigkeiten erlebt und diese mit Ängsten und Alpträumen bezahlt.

Die Geschichte gewinnt ihre Spannung aus der Ambivalenz zwischen dem bis ins Detail schonungslos dargestellten Drogenleben und der zarten Idealisierung der mütterlichen Liebe. Eben gerade deswegen bleibt der Film stets auf dem festen Boden der Realität, gleitet nie ins Sentimentale ab und hinterlässt eine versöhnliche und hoffnungsvolle Stimmung. Adrian geht trotz und wegen dieser Kindheit mutig und kreativ seinen Weg - in der für ihn besten aller Welten.

cover sanfter mann sucht frau

Curval, J.L. (Reg., 2016). Sanfter Mann sucht Frau [Film]. Frankreich: ARTE.

Ein sehr französischer, stiller und unprätentiöser Film darüber, wie Annette, eine 30-jährige Frau, die mit ihrem Sohn Eric in einer Kleinstadt im Norden Frankreichs wohnt und als Kassiererin arbeitet, eine abhängige Beziehung zu einem gewalttätigen Trinker und ein leeres Leben hinter sich lässt. Der Titel verwirrt indes. Er müsste vice versa lauten: Sanfte Frau sucht Mann, denn Annette ist die Protagonistin, die das Heft des Handelns in die Hand nimmt. Der Film kommt vollständig ohne große Aktion aus und bleibt sich bis zum Ende darin treu, die Begegnungen und Beziehungen der Hauptfigur und ihren emotionalen Prozess der Befreiung mit viel Zartgefühl zu begleiten.

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Weegmann, R. (Reg., 2016). Ein Teil von uns [Film]. Deutschland: Constantin Television.

Der Film handelt vom leidvollen Leben einer erwachsenen Tochter einer alkoholkranken Mutter. Brigitte Hobmeier spielt die Hauptfigur Nadja facettenreich, ungeschminkt und vielschichtig. Der Film bringt dem Zuschauer die emotionalen Abgründe einer Suchtfamilie stets aus dem Blickwinkel von Nadja und in mitleidloser Solidarität mit ihr nahe. Brigitte Hobmeier formulierte in einem Interview zur Rolle folgendes (2016): "Sie will meilenweit wegrennen und kommt keinen Millimeter voran. Ihr Selbstschutz wird zur Mauer, hinter der sie vor Einsamkeit fast krepiert."

Der Film ist realistisch bis zur Schmerzgrenze. Die Bilder gehen unter die Haut und sind nichts für Zartbesaitete oder Betroffene, die von der eigenen Geschichte noch zu sehr verwundet sind. Der Film bietet für Nadja keine Hoffnung oder Erlösung, doch überrascht das Ende in seiner ernüchternden Offenheit und Akzeptanz.

» Eindrücke vom Film
» Interview

Medienprojekt Wuppertal (2015). Zoey - Ein Spielfilm über die Lebenswelt von Kindern einer suchtbelasteten Familie [Film]. Wuppertal.

Der Film leuchtet trotz seiner Kürze und Projekthaftigkeit feinfühlig alle emotionalen Nuancen des Schicksals von Jugendlichen aus Suchtfamilien aus. Das Ende deutet an, wie Betroffene das leidvolle Schicksal überwinden können, ohne dass der Film ins Kitschige abrutscht oder falsche Hoffnungen weckt. Der Film ist besonders für die präventive Arbeit mit Jugendlichen geeignet.

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Kaurismäki, A. (1990). Das Mädchen aus der Streichholzfabrik [Film]. Finnland/Schweden.

Ein typischer Film des Regisseurs Aki Kaurismäkis: lakonisch, hoffnungslos, bildmächtig und sozial kritisch. Iris arbeitet am Fließband und finanziert mit ihrem kargen Lohn Mutter und Stiefvater ein bequemes, konsumorientiertes - Nikotin, Wodka, Essen, Fernsehen - Leben. Sie erledigt den Haushalt, geht einkaufen, kocht und schläft auf dem Sofa. Sie ist genügsam, gleichmütig, ein Mauerblümchen, welches niemand sieht. Die einzigen Zuwendungen, die sie von den Eltern erhält, sind kaltes Schweigen und böse Blicke. Als sie schwanger wird, lehnt der Mann sie und das ungeborene Leben brüsk ab. Jetzt endlich wird Iris wütend, schreitet zur Tat und tötet.

Selbstverständlich ist das fiktive Handeln der Antiheldin Iris in der wirklichen Welt keine Lösung. Doch die Geschichte symbolisiert auf der übertragenen Ebene, dass Menschen manchmal alles aus ihrem Leben rigoros herauswerfen müssen, was sie kaputt macht, um die Schieflage ihres verletzten Selbstwerts geradezurücken und Freiheit und Würde wiederherzustellen.

podcast wdr 5

Janssen. L.M. (2023). Co-Abhängigkeit. Mitgefangen in der Sucht des anderen [Radio]. Köln: WDR 5.

Die Journalistin Laura Mareen Janssen hat für WDR 5 einen Podcast zum Thema Co-Abhängigkeit erstellt. In dem Feature kommen die beiden selbstbetroffenen Expertinnen Chandika Loh und Jil Rieger und auch ich als Psychotherapeut zu Wort. Frau Janssen hat die Inhalte der drei Interviews dramaturgisch so kunstvoll miteinander verwoben, dass ein informatives, umfassendes und gut zugängliches Bild zum Thema entsteht, welches gleichermaßen Betroffene, Fachleute als auch am Thema Interessierte anspricht. Rundum gelungen und hörenswert, wie ich finde! Aus der Anmoderation des Radiobeitrags:

Co-abhängige Menschen sind in der Regel Kinder, Partner:innen oder Freunde von Suchtkranken. Viele von ihnen leiden sehr unter dem Miterleben der Sucht und nicht selten führt das zu gesundheitlichen Schäden, berichtet Laura Mareen Janssen.
Einen Menschen lieben, der suchtkrank ist. Chandika Loh und Jil Rieger haben das beide erlebt. Bei Jil war es die erste große Liebe mit Anfang 20. Chandika heiratet ihren Partner und bekommt 2 Kinder. Das war 1985. 37 Jahre liegen zwischen den Erfahrungen der beiden. Und doch gibt es da diese dunklen Momente im Zusammenleben mit ihren Partnern, die beide kennen: die emotionalen und auch körperlichen Übergriffe, die mit jedem Konsum normaler werden. Und auch das Hoffen, dass alles besser wird, wenn man das Suchtproblem des anderen in den Griff bekommt.

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deutschlandfunk

Rebmann, S. (2021). Flucht vor alkoholkranken Eltern. "Und dann öffnete sich die Welt für mich" [Radio]. Köln: Deutschlandfunk.

Utz Dräger vom Deutschlandfunk im Gespräch mit Plus Eins Autorin Sophie Rebmann, die die Geschichte von Emilia erzählt: "Emilia wächst mit einem alkoholkranken, gewalttätigen Vater auf. Als auch die Mutter zu trinken beginnt, ist sie auf sich allein gestellt. Emilia will ihr Elternhaus hinter sich lassen, aber kann sich nur schwer lösen. Doch irgendwann gelingt es... Bei Plus Eins erzählt Sophie Rebmann, wie Emilia es schafft, sich in einem langwierigen Prozess endlich vom Schatten der Eltern zu befreien. Es ist eine Geschichte über die Flucht aus den Fesseln der Kindheit und den starken Überlebenswillen einer Frau." (Plus Eins, 22.10.2021)

Es wird mit viel Sensibilität und liebevollen Verständnis die "normale", schreckliche Geschichte eines Kindes aus einer Suchtfamilie erzählt, wie sie Millionen Kinder aktuell in Deutschland erfahren. Unbedingt hörenswert, doch nichts für schwache Nerven!

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deutschlandfunk

YouTube-Kanal von NACOA

Lunchtime-Interviews mit dem Zeitzeichen-Redakteur Stephan Kosch und der Reporterin und Autorin Christina Rubarth: Jede Woche ein neues Gespräch über das Aufwachsen in suchtbelasteten Familien. Beispiele aus den Interviews: "Hilfe bei Verdacht auf Gewalt gegen Kinder - Interview mit der »Medizinischen Kinderschutzhotline«, "»Mit der Axt hinter uns hergerannt« - Interview mit Christina, Tochter eines alkoholkranken Vaters.", Die Mutter hinter der Tür - Interview mit der Sozialarbeiterin und Buchautorin Mira Galle.

» YouTube-Kanal NACOA

filmplakat trinkerkinder

Brunner, U. (Reg., 2020). Trinkerkinder. Die langen Schatten alkoholkranker Eltern [Film]. Schweiz.

Eine Dokumentation über das Schicksal von (erwachsenen) Kindern aus Suchtfamilien. Ausgehend von der persönlichen Geschichte der Autorin Ursula Brunner und anhand verschiedener betroffener Personen wird in dem Schweizer Film das Schicksal und die Not der Trinkerkinder und ihre Schwierigkeiten und Möglichkeiten, sich zu befreien, veranschaulicht. Erwachsene und noch jugendliche Betroffene kommen in dem 49-minütigen Beitrag selbst ausgiebig zu Wort, erzählen von ihren tragischen Erfahrungen und den Auswirkungen auf ihr Leben.

Die Kamera bewegt sich im Lebensalltag der Betroffenen und hält doch Abstand. So sind die Ausführungen zwar zugewandt, bleiben aber nüchtern. Diese Sachlichkeit des Films erinnert mich an den dissoziativ gefühlsfernen Selbstschutz der Betroffenen, ihre gleichförmig unaufgeregte Stimme und ihre unbewegte Mimik und Gestik, wenn sie in der Therapie über die Schrecknisse der Kindheit erzählen. Dadurch wird die Dokumentation ihrem unprätentiösen Anspruch, über das Thema zu informieren, durchaus gerecht.

deutschlandfunk

Ruparth, C. (2020). Das Leiden der Angehörigen. Wie Alkoholsucht Familien zerstört [Radio]. Köln: Deutschlandfunk.

Aus der Ankündigung: "Wenn es um Alkoholismus geht, werden Angehörige selten gehört. Meist steht die Sucht und damit der Süchtige im Mittelpunkt. Hier soll es andersherum sein: Die, deren Leiden oft übersehen wird, bekommen eine Stimme." Die Autorin Christina Rubarth hat mit dem Feature den Deutschen Sozialpreis 2021 in der Sparte Hörfunk gewonnen.

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Es gibt jede Menge Songs, die Suchtmittelkonsum sowohl verherrlichen als auch problematisieren, z.B. "Alkohol" von Herbert Grönemeyer. Lieder, in denen die Sorgen, Not und Sehnsucht der Angehörigen im Mittelpunkt stehen, sind rar. Deswegen sind die, die es gibt, besonders wertvoll.

Duo EigenArts (2020). Albatros. Dennoch [CD].
"Nicht reden, nicht fühlen, niemandem trauen. Es ist doch nichts... Mama und Papa, auf Alkohol formatiert. Es ist doch nichts... Kindergefühle, wie Müll kompostiert. Es ist doch nichts. - Albatros, nimm mich mit auf deinen Schwingen. Flieg mich hinauf aus grauen Mauern in warmen Sonnenschein."
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Jacques Palminger & 440 Hz Trio (2016). Es ist mein Leben. Jzz & Lyrc [CD]. Hamburg.
"Also, lebe dein Leben und lass mich los. Kümmere du dich um deine Angelegenheiten und lass meine in Ruhe... Deshalb hör auf, mich zu belästigen, hör auf, mich zu bedrängen, hör auf, mich anzuschreien, denn es ist, es ist mein Leben."

Voodoo Jürgens (2016). Alimente. Ansa Voar [CD]. Österreich: Lotterlabel.
"... des hod si für mi erledigt hapo, i wü von dem nix mehr hean. du kaunnst mi gern hobn und wem anan anrean. i hob a engels geduld und hob ma deine geschichtln lang gnua augheart. i hobs in guadn probiert... hod ollas nix brocht und sche langsam föd ma die kroft."

Marius Müller-Westernhagen (2002). Was Du... In den Wahnsinn [CD]. Europa: Warner Music.
"Ich hab auch keinen Vater mehr. Er soff sich in sein Grab. Als er noch lebte, liebte ich ihn. Das ist, glaub ich, normal. - Was du fühlst ist nicht immer, was du fühlst. Was immer du auch fühlst."

Reinhard Mey (1996). Kati und Sandy. Leuchtfeuer [CD]. Berlin: Hansa-Tonstudio.
"Sandys Vater hängt im Sofa, schon am Mittag breit. Und dann kommen seine fiesen, ekeligen Sprüche. Und Mutter hört die lustigen Musikanten in der Küche. Manchmal ist alles so sinnlos, hat alles keinen Zweck. Manchmal sehnen sich die beiden weit, weit weg."

Nachstehen eine kleine Auswahl meiner Favoriten aus Belletristik, Poesie, Musik und Film, die zwar nicht angehörigenzentriert sind, die ich dennoch gerne für co-abhängig Betroffene einsetze, um ihre starren Erlebens- und Verhaltensmuster herauszufordern und mehr Selbstmitgefühl, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung anzuregen.

Glaubensbekenntnis, Bodo Rulf
Dieses Gedicht setze ich gerne ein, um das negative Selbstbild, die Selbstzweifel, Selbstablehnung und Schuldgefühle von Angehörigen zu verstören und eine annehmende Alternative anzubieten. Meine Lieblingsstelle lautet: "Ich glaube daß es wichtig ist zu mir zu halten und mich anzunehmen auch und gerade dann, wenn ich mich absolut nicht leiden kann." Herr Rulf hat mir erlaubt, Ihnen das Gedicht zur Verfügung zur stellen. Herzlichen Dank dafür!
» Glaubensbekenntnis

Ernaux, A. (2020). Die Scham. Berlin: Suhrkamp. (Die französische Orginalausgabe erschien 1997 unter dem Titel La honte bei Editions Gallimard, Paris.)
Vom Klappentext: "Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux seziert es an sich selbst, indem sie weit zurückschwingt in eine eigentlich unfassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will." Ernaux analysiert wie die Scham über die Scham zu einem Gefängnis in uns selbst wird.

Die Lösung, Annett Louisan
Ein leichter, provokativ humorvoller Schlager über den sekundären Krankheitsgewinn, also darüber, warum Menschen an Problemen festhalten und nicht an Lösungen interessiert sind.

Aufhebung, Erich Fried
Ein wunderbares Gedicht darüber, dass Trost im Unglück Glück bedeutet.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit, Ingrid Wuthe
Eine kleine Erzählung über die Angst und Flucht der Menschen vor der Trauer und die eigentliche Funktion dieses zarten Gefühls.
» Märchen

Pavane pour une infante défunte, Maurice Ravel
Ravel soll das Stück auch "Pavane für eine verstorbene Prinzessin" genannt haben. Das Stück regt Trauer an, z.B. um Trost über eine unglückliche Kindheit zu finden oder auch Abschied von prinzessinnenhaften Idealen zu nehmen.

Eine Geschichte von Gott, Herman van Veen
Eine wunderbare Anektode darüber, wo wir "Gott" finden: Auf einer Bank in der Sonne in uns selbst, und eine Parabel auf das, worauf es im Leben eigentlich ankommt: Atmen, Licht, Blumen, Wasser, Sonne, Gelassenheit, den Augenblick genießen...

Momo, Michael Ende (1973)
Ein sprachlich wunderschönes und philosophisches (Kinder-)Buch darüber, dass Hetze, Produktivität, Ordnung und Konsum uns unglücklich machen und wir Erfüllung in Beziehung, Lachen, Spielen, Kreativität und Menschsein finden. Die "grauen Herren" verkörpern die unmenschlichen Prinzipien der Sucht. Die Protagonistin, das Mädchen Momo, ist durch und durch "unprinzessinnenhaft" und Vorbild für alle, die sich in Anpassung, Arbeitseifer und Pflichterfüllung verloren haben und ihr Leben zurückgewinnen wollen.

Camus, A. (2023). Der Mensch in der Revolte (35. Aufl.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. (Die Originalausgabe erschien 1951 unter dem Titel "L´Homme révolté" bei Librairie Gallimard, Paris.)
Sucht und Co-Abhängigkeit können auch gemäß Camus als "Terror" oder "Tyrannei" verstanden werden. Das Buch des Nobelpreisträgers bietet eine Metaphysik der Verweigerung und Befreiung (S. 27): "Gleichzeitig mit dem Widerwillen gegen den Eindringling enthält jede Revolte eine völlige und unmittelbare Zustimmung des Menschen zu einem Teil seiner selbst."

Filme

Und täglich grüßt das Murmeltier mit Bill Murray (1993)
Was kann man tun, wenn man feststellt, dass das Leben eine endlose Wiederholung desselben Musters ist? Die Filmkomödie gibt vielschichtige Antworten.

Grüne Tomaten, Jon Avnet (1991)
Es gibt viele Filme darüber, wie sich Frauen aus gesellschaftlichen Korsetts befreien. Dieser Spielfilm ist besonders ansprechend, weil die Protagonistin, Evelyn Couch (gespielt von Kathy Bates), eine normale, spießige, beleibte Hausfrau in den Wechseljahren ist, die es allen versucht recht zu machen, aber selbst immer zu kurz kommt. Eine feinfühlig erzählte und modellhafte Geschichte darüber, wie unterdrückte Frauen mithilfe von Mut, Humor, Hammer und Pfanne ihre Freiheit (gegenüber einem normierenden, bevormundenden, gewalttätigen und selbstsüchtigen Patriachat) erkämpfen und verteidigen.

Fremder Feind (Alternativtitel: Krieg), Rick Ostermann (2017)
Das Filmdrama empfehle ich manchmal, wenn bei Angehörigen die Situation sehr zugespitzt ist und es darum geht, den Selbsterhalt und das eigene Leben vor dem zerstörerischen Sog der Sucht zu retten. Der Protagonist Arnold, facettenreich von Ulrich Matthes gespielt, verliert fast alles, was in seinem Leben wertvoll ist, auch weil er es aus pazifistischen Idealen ablehnt, sich zu wehren. Schicksalsergeben bis über jede Schmerzgrenze hinweg nimmt er alles hin. Erst als es um seine nackte Existenz gegen einen unsichtbaren Feind geht, beendet er sein gewohnheitsmäßiges Zaudern und beginnt, zu kämpfen.