Helfen zu müssen, ist der süchtige Zwang der Co-Abhängigkeit.

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Medien

Die hier aufgeführten Romane, Spielfilme, Reportagen, Dokumentationen und Lieder werden unter dem Aspekt empfohlen, dass suchtbetroffene Angehörige und Kinder im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. In Selbsthilfe, Beratung und Therapie dienen Medien dem Zweck, dass sich Klienten im Spiegel des Mediums wiedererkennen, kreative Potenziale angeregt und die Betroffenen ermutigt werden, aus starren Mustern auszubrechen, sich auszuprobieren und das Leben neu zu entdecken.

In der Rubrik Weitere Empfehlungen wird auf kreative Werke hingewiesen, die zwar nicht angehörigenbezogen, dennoch besonders geeignet sind, co-abhängige Sicht- und Verhaltensweisen zu hinterfragen und abzumildern.

Nachstehend finden Sie Rezensionen zu Büchern vor allem zum Thema der (erwachsenen) Kinder aus Suchtfamilien und auch zur Angehörigenproblematik der Sucht. Ich rezensiere hier ausschließlich Werke, Bücher, Filme etc., die ich persönlich empfehlen kann. Einige Bücher und Filme haben traumatische Inhalte und könnten für Sie nicht geeignet sein, falls Sie aus Ihrer eigenen Geschichte noch sensibel sind. Dies habe ich in den Besprechungen kenntlich gemacht.

Hoppe, C. (2024) Säuferkind. Mein Leben als Co-Abhängige und wie ich trotzdem glücklich wurde. Berlin: Ullstein.

Die letzten drei Jahre habe ich alle (autobiografischen) Romane zum Angehörigenthema gelesen, die mir empfohlen wurden und die ich finden konnte, insgesamt 20 Bücher. Jetzt reicht es! Auf meinem Nachttisch liegen schon zwei Bücher mit anderer Thematik. Darauf freue ich mich. Doch noch eine letzte Rezension zu einem Buch, dessen Wert darin liegt, dass es ganz unspektakulär und unprätentiös daherkommt. Cornelia Hoppe schildert ihre Geschichte als Säuferkind. Nachstehend die Inhaltsangabe von der Verlagsseite:

St. Pauli, 70er Jahre: Cornelia Hoppe wächst mit alkoholkranken Eltern in bitterer Armut auf. Ihr Spielplatz sind triste Trinkerkneipen mit zwielichtigen Gestalten. Einerseits schämt sich Cornelia schon als kleines Kind für ihre Eltern, andererseits sorgt und kümmert sie sich um sie – als typisch Co-Abhängige.

In der Ehe mit einem erfolgreichen Banker scheint sie dann schließlich das Glück gefunden zu haben. Leider merkt Cornelia aber irgendwann, dass auch ihr Mann trinkt und der Teufelskreis von vorne beginnt: Sie leidet still, schämt sich, kümmert sich, hält trotz allem zu ihm. Irgendwann erkennt sie, dass auch ihre Kinder drohen, co-abhängig zu werden. Trotz wirtschaftlicher Abhängigkeit schafft es Cornelia schließlich, ihren Mann zu verlassen – und damit sich und ihre Kinder zu retten.

Säuferkind ist ein ehrlicher, schonungsloser Bericht, der gleichzeitig Mut macht und zeigt, dass es möglich ist, sich aus den Fesseln der Co-Abhängigkeit zu befreien.

Wie auch das Buch von Klaffke-Römer, Mein Herz an stillen Tagen, könnte Hoppes Geschichte als Lehrbuch zu dem Themenkomplex Kinder aus Suchtfamilien und Co-Abhängigkeit genutzt werden. Ihre Autobiografie ist die einzige, die ich kenne, in der das Phänomen geschildert wird, wie die Kindheit in einer Suchtfamilie später in einer Ehe mit einem suchtkranken Mann mündet. Doch anders als Klaffke-Römer und andere schildert Hoppe ihre Geschichte ganz unaufgeregt. Sie nimmt die Perspektive einer Person ein, die erstaunt zurückblickt, was ihr alles widerfahren ist. So beherrscht Hoppe die Kunst, auch hochgradig beschämende Situationen nüchtern zu erzählen, ohne dass die Erzählung in "der Scham vor der Scham" versinkt. Ein Zitat dazu (S.194 - 195):

Die Reflexionen in dem Buch sind eher sparsam und klar, die Sprache ist einfach und der Erzählfaden stringent, ohne große Dramaturgie. Diese erzählerische Bescheidenheit wirkt stimmig, authentisch und sympathisch. Als Leser bin ich beim Lesen - mit Ausnahme des letzten Teils - nur milde affiziert worden, man fühlt mit der Protagonistin mit, ohne in ihrer leidvollen Betroffenheit zu versinken. Dadurch sind die Geschehnisse gut nachzuvollziehen, ohne eine schlaflose Nacht danach zu bewirken.

Es ist, als warte man auf ein Wunder. Man wünscht sich so sehr, dass es eintritt. Ich habe dann gedacht, so Mutti, heute ist alles schön, jetzt gehst du bitte nicht in die Kneipe. Die Folge war Enttäuschung.

Dass ich wiederum nicht die Ursache dafür bin, dass meine Eltern getrunken haben, das wusste ich schon. Und diese Erkenntnis ist gar nicht mal so wenig. Ich hatte keine Schuld auf mich geladen, war kein Kind, das seinen Eltern Kummer machte.

Die besondere Tragik einer Co-Abhängigkeit zeigt sich ja vor allem dadurch, dass man sich die Verantwortung für die Süchtigen selbst auflädt. Gleichzeitig wünscht man sich, dass das eigene Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Respekt und Liebe von den eigenen Eltern erfüllt wird. Die sind aber so sehr in ihrer eigenen Sucht gefangen, dass sie die seelischen Verletzungen, die ihre Kinder davontragen, nicht wahrnehmen.

Der letzte Teil (S. 203 ff.) hat mich doch noch emotional angefasst. Hoppe berichtet, wie sie mit einem Alkoholiker eine Beziehung beginnt, ihn heiratet und eine Familie gründet. Sehenden Auges rennt sie wieder in das Unglück, welches sie als junge Frau abgeschüttelt hat. Alles, was er tut - saufen, schimpfen, abwerten, beschämen, drohen, Gewalt etc. - kennt sie aus der Kindheit. Sie sieht alles, doch erkennt es nicht. Sie gerät immer tiefer in die co-abhängige Falle, obgleich Freundinnen sie warnen. Sie hört ihnen nicht zu.

Als Psychotherapeut (in der Position der Freundinnen) erfahre ich diese Ohnmacht mit Betroffenen jede Woche. Sie ist schwer auszuhalten. Ungezählte Klientinnen, Töchter aus Suchtfamilien, haben mir erst nach ein, zwei oder drei Jahren Therapie kleinlaut offenbart, dass ihr Partner auch suchtkrank ist. Noch mehr Klientinnen berichten in der Therapie hoffnungsfroh davon, einen neuen Mann kennen gelernt zu haben, bei dem "alles anders" sei, und hören nicht zu, wenn ich ihnen behutsam meine Zweifel mitteile, dass sie das Offensichtliche ausblenden. Dass Cornelia Hoppe dieses schwierige, schamhafte und schmerzvolle Phänomen schonungslos schildert, das ist der besondere Wert ihres Werkes. Noch ein abschließendes Zitat dazu (S. 226 - 227):

Wenn ich die Glaubenssätze meiner Kindheit suche, finde ich nichts, was mir in meiner Ehe hätte helfen können... Die Glaubenssätze, auf die ich zugreifen konnte, waren die einer Co-Abhängigen. Sie waren dazu geeignet, meine erneute Co-Abhängigkeit zu zementieren, und nicht, mir daraus zu helfen.

» Säuferkind auf Ullstein

Wahl, C. (2023). 22 Bahnen. Köln: DuMont.

Zur Geschichte aus der Zusammenfassung auf der Website des Verlags:

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.

Nach ca. einem Drittel des Buches wollte ich nicht mehr weiter lesen. Es war mir alles zu schön, um wahr zu sein. Schon der Titel passt nicht. Die Betroffenen, die ich kennen gelernt habe und die sich mit Schwimmen emotional betäubt haben, sind 60 oder 80 Bahnen geschwommen. Wenn man jung und sportlich ist, reichen 22 Bahnen dafür nicht. Auch sind die Protagonisten der Geschichte zu intelligent, zu mutig und zu lebenserfahren. Tilda z.B. redet mit der Lebenserfahrung einer 70-Jährigen, Ida wirkt auf mich wie 35. Trotz der widrigen Umstände machen sie stets alles richtig und sagen das Richtige. Das ist mir zu glatt und es fehlt mir der Tiefgang, wie ihn andere Romane zum Thema haben.

Dann hat mich das Buch doch noch gefesselt. Warum? Tilda und Ina repräsentieren Resilienz. Sie sind Modelle dafür, wie man den widrigen Verhältnissen einer Suchtfamilie trotzen kann, was man sagen kann, wenn die suchtkranke Mutter lügt und manipuliert, und wie man sich trotz allem treu bleiben, Unabhängigkeit wahren und den eigenen Weg gehen kann. Und die Liebesgeschichte zwischen Tilda und Viktor ist eine Blaupause dafür, wie zwischenmenschliche Annäherung möglich sind, ohne die eigene Unabhängigkeit aufzugeben.

"22 Bahnen" ist ein eher leichtes, trotziges und heiteres Buch. Auch wenn die Erzählung ein wenig kitschig daherkommt, schafft es Caroline Wahl, eine tröstende Geschichte über die Unbilden des Daseins zu erzählen. Für mich als Psychotherapeut liegt der besondere Wert des Werkes in seinem ermutigenden Appell: "Trau Dich und mach - wie Tilda - dein Ding!" Deswegen habe ich es schon in der Therapie genutzt und es jüngeren Betroffenen empfohlen. Ich möchte mit einem Zitat aus dem Buch von S. 105 und 106 schließen, welches den Sinn narrativer Traumatherapie auf den Punkt bringt:

Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigt mich und macht mich unverwundbar.

» 22 Bahnen auf DuMont

Stuart, D. (2021). Shuggie Bain. Berlin: Hanser.
Das englische Original ist 2020 bei Picador/London erschienen.

Shuggie Bain ist ein Roman über das Aufwachsen von drei Kindern mit einer alkoholkranken Mutter. Es ist gleichwohl das Portrait einer Alkoholikerin, eine Coming-of-Age-Geschichte ihres jüngsten Sohns Shuggie als auch eine Klassen- und Arbeiterstudie in den 80ern und Anfang der 90er in Glasgow auf dem gesellschaftlichen Hintergrund des Thatcherismus. Die klassische Industrie stirbt und Depression, Arbeitslosigkeit und Armut macht sich im Arbeitermilieu breit. Die Mutter Agnes verliert sich immer mehr in Tagträumen von einem besseren Leben und im Suff.

Der Vater Shug, Taxifahrer, verspricht ein besseres Leben, geht notorisch fremd und verlässt schließlich die Familie. Die Kinder kümmern sich erfolglos um die Mutter. Eins nach dem anderen sucht das Weite, um das eigene Leben zu retten. Shuggie hält als Jüngster und Lieblingssohn am längsten an der Hoffnung fest, die Mutter retten zu können. Doch er hat eigene Probleme als Heranwachsender, der von allen vermittelt bekommt, nicht normal zu sein, weil er als Junge Fußball nicht mag und lieber mit Puppen spielt.

Der junge Autor Douglas Stuart hat mit seinem Debütroman den renommierten Booker Prize gewonnen. Es ist in einer wunderbaren Mischung aus Gossen-Vokabular sowie bild- und symbolträchtigem Sprachstil formuliert, der die trostlosen sozialen, familiären und persönlichen Zusammenhänge hautnah erfahrbar macht und den Figuren gleichzeitig Stolz und Würde lässt. In der detailreichen Brutalität und Hässlichkeit der Schilderungen versteckt sich etwas respektvoll Sanftes und Menschliches. So realistisch abstoßend die Geschehnisse sind, ist man als Leser von den Schicksalsschlägen und der inneren Not der Protagonisten auch mitfühlend ergriffen. Es ist deswegen kein Buch, welches man in einem Rutsch lesen kann. Nach jedem Kapitel braucht es eine Pause, um Abstand zu nehmen, zu verarbeiten und einen neuen Zugang zum Weiterlesen zu finden.

Die Erfahrungen von Leek, Catherine und Shuggie in Stuarts Werk ähneln, trotz des anderen geschichtlichen Kontextes, verblüffend den Erzählungen meiner Klienten in der Therapie. Dieses intime Detailwissen ist nicht verwunderlich, weil der Autor im Roman autobiografische Erlebnisse mit seiner alkoholkranken Mutter verarbeitet. Das Buch ist nichts für Zartbesaitete. Auch Betroffenen, die ihr Trauma noch nicht bewältigt haben, kann ich es nicht empfehlen. Ansonsten ist das Buch eine kleine Kostbarkeit, weil es Einblicke in menschliche Abgründe bietet, welche kein Ratgeber oder Fachbuch liefern kann und ich bislang nur in dem Film "Ein Teil von uns" finden konnte.

» Buch und Autor

Klaffke-Römer, E. (2021). Mein Herz an stillen Tagen. Berlin: biografieVerlag.

Ich bin begeistert von dem ausdrucksstarken, atmosphärisch dichten Schreibstil der Autorin und den hautnahen, ungeschönten und berührenden Innenansichten aus dem Aufwachsen in einer klassischen Suchtfamilie der 70er Jahre, dass ich es hier mit einer besonderen Leseempfehlung aufführen möchte. Die traumatische Geschichte ist so typisch, dass sie als "Lehrbuch" genutzt werden kann. Doch die Inalte sind heftig; lesen Sie das Buch bitte nicht, falls Sie betroffen und noch verwundet sind. Eine Rezension spare ich mir, weil der Klappentext des Werkes alles sagt, was zu sagen ist:

"Die Angst war da, ob wir es wollten oder nicht. Die Liebe hingegen nahm kaum Gestalt an. Ständig schien sie zu zersplittern und die Vielzahl ihrer vermeintlichen Gegenteile umzuschlagen. Wie hätten wir von Liebe sprechen können, wenn alles andere uns derart zum Schweigen brachte? Wenn selbst mein eigenes Atmen in den höchst angespannten Situationen zu einem ohrenbetäubenden Geräusch werden konnte? Denn das Atmen war ein Gradmesser für die Angst. Das kaum hörbare flache Atmen, das schnelle tmen, das panische Atmen, rasendes Herz! - und das erleichterte Ausatmen, wenn es gut gegangen war"

Mit atemberaubenden Sätzen bringt die Autorin uns die tiefen Empfindungen eines Kindes nahe, das mit einem trinkenden und gewalttätigen Vater aufwächst. Sie schildert ihre Suche nach einem Weg aus der Sprachlosigkeit. Doch mit der Sprache kommen auch die Empfindungen zurück.

"Tausend Gründe hatte es gegeben für das Scheitern meiner Familie. Nur für ein Gelingen gab es keinen einzigen."

Es ist die Geschichte einer bedrückenden, ausweglosen Kindheit. Erst als Erwachsene entdeckt die Protagonistin, dass die Tür zum Leben nach innen aufgeht. Diesen Ausweg möchte ich Ihnen hier nicht vorenthalten, weil er das Ziel und die Methode der Selbsthilfe und Psychotherapie der Co-Abhängigkeit auf den Punkt bringt:

Ganz frei machen muss ich mich von dem Wunsch und der Sehnsucht, den Frieden, das Glück oder einfach nur das Friedliche und Ruhige im anderen zu suchen, es gar vom anderen abhängig zu machen. Ich mir selbst muss ich es finden, an meinen ganz eigenen stillen Tagen auf mein Herz und meine Worte hören.

» Verlagsseite

Hecht, J. (2021). In diesen Sommern. München: C.H.Beck.

Die Literaturwissenschaftlerin Janina Hecht hat ihren Debütroman über eine scheinbar normale, kleinbürgerliche Kindheit in einer durchschnittlichen deutschen Familie geschrieben, doch das familiäre Miteinander und die Atmosphäre wird zunehmend durch die Alkohol- und Verhaltensexzesse des Vaters belastet. Das Abstract zum Buch:

Behutsam tastet sich Teresa an ihre Kindheit und Jugend heran, ihr Blick in die Vergangenheit ist vorsichtig geworden. Erst unsichere Versuche auf dem Fahrrad an der Seite des Vaters, lange Urlaubstage im Pool mit dem Bruder, Blumenkästen bepflanzen mit der Mutter in der heißen Sommersonne. Doch die unbeschwerten Momente werden immer wieder eingetrübt von Augenblicken der Zerrüttung, von Gefühlen der Hilflosigkeit und Angst. Da schwellt etwas Unausgesprochenes in dieser Familie - alle scheinen machtlos den Launen des Vaters ausgeliefert zu sein, Situationen beginnen gefährlich zu entgleisen. Ebenso unaufdringlich wie fesselnd erzählt Janina Hecht von schönen und schrecklichen Tagen, von Ausbruch und Befreiung und vom Versuch, sich im Erinnern dem eigenen Leben zu stellen. In diesem Sommer ist die bewegende Geschichte einer Familie auf der unentwegt gefährdeten Such nach einem stillen Glück.

Das gut zu lesende und kurzweilige Werk von Hecht mutet skizzenhaft an. Die Ich-Erzählerin versucht sich, zu erinnern, doch die Erinnerungen sind zunächst vage, anekdotisch und fragmentiert, geordnet allein durch die Chronologie der Ereignisse. Im Verlauf des Buches und mit dem Älterwerden von Teresa gewinnen sie an Zusammenhang und Sinn. Die Schilderungen der Episoden sind zwar aus der Perspektive von Teresa, doch der Leser erfährt nur andeutungsweise über ihr Innenleben. Diese Zurückhaltung bietet viel Spielraum für den Leser, innezuhalten und sich einzufühlen. Statt einer Rezension möchte ich drei Stellen aus dem Buch zitieren, um einen Eindruck zu geben:

Wenn ich an diese Jahre denke, frage ich mich, ob es eine Kontinuität der Ereignisse gibt, eine Entwicklung, auf die ich mich verlassen kann. Ich versuche die Situationen zu ordnen, sie zusammenzuhalten, in ihnen etwas zu finden, was über die konkreten Momente hinausweist. (S. 25)

Diese Momente, in denen mir seine Spur verloren geht. Als wäre er auf einmal nicht mehr dabei gewesen. Dann steht er im Zentrum von allem und nichts kann ohne Bezug zu ihm sein.

Manchmal bin ich wütend darüber, dass ich nie wieder mit ihm sprechen kann. Aber diese Wut hat keine Richtung. Ich kann sie nicht herunterschlucken und sie verschwindet nur sehr langsam.

» Buch auf Website C.H.Beck

Ohde, D. (2020). Streulicht. Berlin: Suhrkamp.

Eine namenlose Ich-Erzählerin schildert ihre Kindheit und Jugend. Die Eltern sind türkische Einwanderer. Der Vater arbeitet, säuft - wie auch der Großvater - und ist kaufsüchtig, die Mutter opfert sich für andere auf und beide Eltern meiden misstrauisch und ängstlich jeglichen sozialen Kontakt. Lehrer und andere Erwachsene sehen das Kind nicht oder werten es ab. Auch andere Kinder lehnen das Kind als Ausländerin ab und die beiden einzigen Freunde, die es hat, sind zu sehr mit ihrem behüteten und normierten Leben beschäftigt, um es zu verstehen. Niemand wendet sich dem Kind zu oder traut ihm etwas zu. Es bleibt gesichtslos, ist stumm vor Angst und Scham, passt sich an, um nicht aufzufallen, und leidet still.

Als Psychologe könnte ich das Buch von Deniz Ohde analysieren und kategorisieren. Ich könnte etwas Kluges über komplexe Traumatisierung, Dissoziation und Selbstwertstörung schreiben. Doch genau gegen dieses Unrecht, etikettiert und in Schubladen gesteckt zu werden, verwehrt sich die Erzählerin zu Recht. Ihre Schilderungen geben einen ungeschminkten, abgrundtiefen Einblick in das Innenleben eines Menschen, der nicht gesehen und nicht gehört und dem kein Raum gegeben wird, selber herauszufinden, wer er ist, was er denkt und fühlt und wie er sich im Leben verwirklichen will. Die Texte sind ein befreiender Aufschrei und eine sich selbst entfaltende Anklage eines mundtot gemachten Menschen. Das Buch will nicht kommentiert werden, es will gehört werden.

Das Buch von Ohde ist mein Favorit unter allen hier vorgestellten Büchern. Doch es ist aus meiner Sicht als Psychotherapeut nicht geeignet für Betroffene, die aktuell an einer posttraumatischen Belastungsreaktion leiden.

» Zum Buch bei Suhrkamp

Baron, C. (2020). Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein.

»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«

Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.

Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.

Diese Inhaltsangabe auf der Verlagsseite macht nicht nur Werbung für das Buch, sie entspricht meiner Leseerfahrung. Das Buch ist in meinen Augen die deutsche, neuzeitliche Entsprechung zu dem irischen Klassiker Die Asche meiner Mutter von McCourt und dem amerikanischen Bestseller Ein Haus aus Glas von Walls. Beide Werke und auch die Filme dazu werden weiter unten vorgestellt. Baron wünsche ich, dass seine schmerzhafte Geschichte ebenfalls verfilmt wird. Lassen wir dem Autor das letzte Wort:

Ein Mann seiner Klasse ist ein durch und durch ambivalentes Werk. Die Diplom-Pädagogin und Fachbuchautorin Ursula Lambrou hat in Familienkrankheit Alkoholismus (1990) darüber geschrieben, dass viele betroffene Kinder in einem unerträglichen familiären Loyalitätskonflikt aufwachsen, den sie oftmals "lösen", in dem sie mit einer Seite paktieren und die andere ablehnen. Baron hält die Balance. Er pendelt zwischen Schwarz und Weiß geduldig erzählend hin und her, bis sein Roman Grautöne und Farben entwickelt.

Der Protagonist, der Junge Christian, ist zerrissen zwischen der Liebe und Bewunderung für den Vater einerseits und Angst, Hass und Ekel andererseits. Christian laviert zwischen den vielschichtigen, verfeindeten Familienfronten: Mutter gegen Vater, Vater gegen Tante, Tante gegen Tante, Mutter gegen Großvater. Diese Fronten sind durch süchtige, co-abhängige Gegensätze gekennzeichnet.

Schließlich muss Christian mit dem Erwachsenwerden zunehmend ein persönliches Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Klassen finden, dem "assozialen" Arbeitermilieu, aus dem er stammt, und dem "bürgerlichen" Bildungsmilieu, in das er aufgrund von Abitur und Studium hineinwächst. Ein hintergründiger, selbstreflexiver Humor hilf Christian, weder gleichgültig zu werden, noch Partei zu ergreifen und nach und nach eigene, unabhängige Sichtweisen zu entwickeln. Sympathisch ist das Buch darin, dass es ein offenes, unfertiges Ende hat. Christian ist am Schluss nicht geläutert, er kommt nicht zu einer allumfassenden Erkenntnis und es gibt kein Happy End. Das ist gut so. Lassen wir dem Autor das letzte Wort:

Mit all meinem Zorn und all meinem Glück, mit all meinem Schmerz und all meiner Überraschung, mit all meinem Scham und all meinem Stolz, mit all meiner Angst und all meiner Liebe, mit all meinem Hass und all meiner Hoffnung, mit all meinen Zweifeln werde ich kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.

» Verlagsseite

Bedor, C. (2020). Diastimmen. Norderstedt: Books on Demand.

Thomas Lehr, der Protagonist der Geschichte und Schriftsteller, macht sich ungefähr 25 Jahre danach mit Schreibmaschine, Fotoapparaten und Schreibtischstuhl und ganz viel Augenzwinkern auf Spurensuche seiner suchtbelasteten Familiengeschichte. Eine Kostprobe dazu:

"Ich will während meines Urlaubs nicht zu Hause bleiben!", hatte Lehrs Frau erst neulich gesagt. "Ich will draußen etwas erleben!" Er erlebte drinnen etwas. In sich selbst. Da ging regelrecht die Post ab. Thomas Lehr brauchte das Draußen nicht. Er war gedanklich permanent unterwegs. Hauptsächlich in seiner Vergangenheit. Und in der Vergangenheit derjenigen Menschen, die damals um ihn waren. Man lebte ja nicht nur in seiner eigenen Vergangenheit. Andere Vergangenheiten wurden miterlebt. So griff Lehr mit dem Schreiben in die anderer ein. Ob sie es wollten oder nicht.

Es hat mir viel Vergnügen bereitet, den Protagonisten bei seinen Ausflügen im tiefsten, katholischen Sauerland auf der Suche nach seiner Geschichte und Identität zu begleiten. Der schon 52-jährige Lehr ist von seiner belasteten Kindheit in einer Familie, die nach außen den verlogenen heilen Schein der Bürgerlichkeit hochhielt, immer noch tief verunsichert. Seine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle in Bezug auf sein vergangenes wie auch gegenwärtiges Leben sind entsprechend zögerlich und vage.

Dies findet Ausdruck darin, wie er durch die Wälder und Orte der Kindheit stolpert und irrt, z.B. auf der Suche nach einer Sprungschanze am Rimberg oder einem "schönen Ort" im Wald, den die Familie auf Ausflügen in den 60ern besucht hatte. Lehr findet zumeist nicht, was er sucht, dafür sieht er viele andere Dinge. Seine emotionale Unklarheit kontrastiert mit den genauen Beschreibungen z.B. von Familienereignissen, den Wäldern des Hochsauerlandes oder den technischen Details von Autos, die in der Familie kaputt gefahren wurden.

Das erinnert an die Bücher der Nobelpreisträgerin für Literatur, Annie Ernaux, die sich in einer Art Selbstfindungsprozess autobiografisch und soziologisch mit ihrer persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Entfremdung auseinandersetzt. Wie Ernaux untersucht der Protagonist nicht das Besondere, sondern das Profane, Alltägliche seiner kleinbürgerlichen Herkunft und Existenz. Und wie sie sucht er den Zugang zu sich im Außen seiner Erinnerungen - metaphorisch nennt er diese Dias - und obgleich er dort nicht fündig wird, geschieht dennoch eine innerliche Entwicklung und Klärung:

Wie es mir jetzt geht? Emotional fehlt mir die Brücke von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Zur augenblicklichen Gegenwart. Scheinbar löst sich was. In mir. Scheinbar werden Gefühlselemente zurechtgerückt. Weiterhin bleiben Dinge unklar. Krankmachende Gefühle. Die kenne ich seit meiner Kindheit.

Wie viele Kinder aus Suchtfamilien hat Lehr Vernachlässigung und Gewalt erfahren und leidet als Folge an diffusen Ängsten, Identitäts- und Selbstwertproblemen. Der Autor, Christian Bedor, hat mit Thomas Lehr einen Antihelden gezeichnet, der eine sympathische Art hat, sich nicht zu ernst zu nehmen und mit seinen Unsicherheiten, Schwächen und Irrtümern tolerant, humorvoll und liebevoll umzugehen. Diese Resilienz, mit der ich mich als Leser gut identifizieren kann, ist der besondere Wert des Werkes von Bedor.

Kinder aus Suchtfamilien können gnadenlos kritisch mit sich sein. Wer also die herzerwärmende Resilienz von Lehr in sich entdecken möchte, dem ist das Buch wärmstens zu empfehlen. Übrigens kann man es trotz der sensiblen Inhalte abends gemütlich im Bett lesen und danach zufrieden einschlafen.

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Kjos Fonn, M. (2019). Kinderwhore. Hamburg: CulturBooks.

Aus dem Abstract: Charlottes Mutter lässt ihre Tochter oft allein, und wenn sie mal da ist, schläft sie die meiste Zeit, betäubt von starken Medikamenten. Als Charlotte in der Pubertät ist, bekommt sie einen Vater, der die Nächte lieber bei ihr als bei ihrer Mutter verbringt. Was dabei geschieht, kann sie unmöglich begreifen. Sie beginnt, die Pillen ihrer Mutter zu schlucken und ist glücklich, als sie entdeckt, dass es Wege gibt, die eigenen Gefühle auszuschalten. So schafft sie eine Trennung zwischen Körper und Geist, die es ihr erlaubt, unterschiedliche sexuelle Rollen zu spielen. Sie glaubt, die Kontrolle zu haben, über sich und andere, doch das erweist sich als bitterer Trugschluss.

Der furchtbarste Tag in meinem Berufsleben als ambulanter Psychotherapeut war der, als mir gleich drei Klientinnen ihre sexuellen Missbrauchserfahrungen offenbart haben. Ich bin wie betäubt nach Hause gegangen, mit dem Bewusstsein, dass ich das Leiden der Betroffenen nicht annähernd nachvollziehen kann.

Sexuelle Übergriffe kommen bei Angehörigen von Suchtkranken in verschiedener Form vor, beinahe ausschließlich sind Mädchen bzw. Frauen betroffen. Die Mädchen werden vom suchtkranken Vater missbraucht, die co-abhängige Mutter schaut weg. Oder eine der Familie nahestehende Person - Stiefvater, Onkel, Freund der Familie - nutzt die konflikhafte und tabuisierte Situation aus und missbraucht das Kind. Oder die Jugendlichen geraten auf der Suche nach Liebe an ältere Männer, die dies sexuell ausnutzen, so auch in der Geschichte von Kjos Fonn. Oder Frauen werden vom besoffenen Ehemann vergewaltigt. Der sexuelle Missbrauch findet stets auf der Grundlage des erfahrenen emotionalen Missbrauchs statt. Dort, wo die persönliche Unabhängigkeit und Integrität verletzt wird, ist auch kein Raum für sexuelle Selbstbestimmung.

Viele Klientinnen haben erst gar nicht versucht, mit jemandem zu sprechen, weil niemand da war und sie kein Vertrauen in andere hatten. Andere haben es durchaus versucht, aber niemand hat ihnen geglaubt. Dies ist für viele genauso schlimm wie die Übergriffigkeit selbst.

Das Buch von Maria Kjos Fonn erzählt die schrecklichen und verlogenen Zusammenhänge von emotionalem und sexuellem Missbrauch, es gibt Einblicke in das tief schwarze Seelenleben einer Betroffenen und es schildert den Kampf von Charlotte darum, den selbstzerstörerischen, posttraumatischen Teufelskreis hinter sich zu lassen und ein eigenes Leben zu erobern. Das tut die Autorin so ungeschminkt, detailliert und schonungslos, dass mir die Worte fehlen, das Werk und dessen Bedeutung angemessen zu würdigen.

Ein Hinweis noch: Falls Sie selbst von sexuellen Übergriffen betroffen sind, könnte das Buch Sie überfordern.

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Zeh, J. (2018). Neujahr. München: Luchterhand.

Henning ist ein normaler Familienvater, eine Verkörperung von Anpassung und Durchschnitt. Doch innerlich gerät er immer mehr unter Druck, ohne zu verstehen, was mit ihm geschieht. Er leidet unter Panikattacken. Er versucht "das Tier", wie er die Angst nennt, abzuwehren, indem er sich kein Recht auf psychische Probleme zugesteht und die äußere Fassade zwanghaft aufrechterhält. Tatsächlich aber beherrscht ihn das Tier zunehmend. Als Folge beginnt Henning, sich von seiner Umwelt zu entfremden.

Seine Dissoziation spitzt sich immer weiter zu, bis er auf einem Familienurlaub über die Feiertage allein eine sportliche Radtour unternimmt. Früher, vor der Familiengründung, fuhr er Rennrad. Als er auf der Tour einen Berg bezwingt bzw. - angesichts seines untrainierten Zustands - der Berg ihn bezwingt, holen ihn die Erinnerungen an ein schreckliches Kindheitstrauma ein, welches sich in einem Ferienhaus auf diesem Berg zugetragen hat, als er vier Jahre alt war. Er findet das Haus und die verdrängten Geschehnisse von damals holen ihn ein.

Der Roman schildert schonungslos, wie ein erwachsener Mann von seinem kindlichen Suchttrauma eingeholt wird. Der Vater von Henning ist suchtkrank, trennt sich früh und kümmert sich nicht weiter um die Kinder. Die alleinerziehende Mutter agiert co-abhängig: Sie kehrt die Erinnerung an früher unter den Teppich, indem sie Dinge kleinredet, den Kindern Lügengeschichten erzählt und sich über den Vater der Kinder verbittert ausschweigt. Überdies opfert sie sich schuldhaft in der Versorgung und Erziehung der Kinder auf, ohne ein eigenes Leben zu haben. Sie funktioniert depressiv als leere Hülle.

Als typisches "Helferkind" ist Henning ein Abbild seiner Mutter. Er kümmert sich ebenso von Schuld motiviert um seine zwei Jahre jüngere Schwester, die ihr Leben auch jenseits der 30 nicht in den Griff bekommt, und er versucht sein Posttrauma durch Gefühlsunterdrückung in den Griff zu bekommen. Die Autorin Juli Zeh versteht sich meisterlich darin, die hinter perfekter, normierter Fassade versteckte Abgründigkeit der kleinbürgerlichen Spießigkeit zu sezieren, ohne sie zu werten.

Schottner, D. (2017). Dunkelblau: Wie ich meinen Vater an den Alkohol verlor. München: Piper.

Der Wert des Buches ist, dass der Protagonist eine in meinen Augen co-abhängige Erzähl-Perspektive einnimmt. Der Blick ist vor allem auf das Siechtum des Vaters ausgerichtet. Es war der Grund, warum ich das Buch nicht ausgelesen habe. Es war mir unerträglich, die Geschichte bis zum bitteren Ende zu lesen. Ich bin diese Trinker-Biografien nach zwei Jahrzehnten der Suchttherapie überdrüssig, sie ähneln sich alle. Und auch das co-abhängige Zuschauen ist ein erstarrtes Ritual in einer (scheinbar ausweglosen) Sackgasse.

Doch das darf ich wiederholen: Das Leiden des Sohnes findet vor allem in der sprachlosen Vermeidung des eigenen Erlebens, also zwischen den Zeilen statt. Ein Kollege, der Schottner auf einer Lesung erlebt hat und mit dem ich mich über das Buch ausgetauscht habe, äußerte, dass genau dies das Beeindruckende des Werkes sei.

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Doty, J.R. (2019). Das Alphabet des Herzens. Die wahre Geschichte über einen, der sein Herz verlor und sich selbst fand. München: Knaur.
Das Original erschien 2016 unter dem Titel Into the Magic Shop bei Avery, Penguin Publishing Group.

Das Buch von Doty ist schwer zu kategorisieren. Es ist sowohl ein autobiografischer Roman über eine Kindheit in einer Suchtfamilie als auch ein Betroffenenbuch, ein Mutmachbuch und ein Ratgeber über die Resilienz, Unglück in Glück zu verwandeln. Auf der Seite Literatur habe ich es in der Rubrik Betroffenenliteratur berücksichtigt.

Dotys Kindheit mit einem suchtkranken Vater und einer depressiven, suizidalen Mutter ist durch Vernachlässigung, Verwahrlosung, Streit und Gewalt geprägt. Im Buch erzählt er davon, wie er sein familiäres Schicksal überwindet und ein weltberühmter Neurochirurg wird. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht eine kurze Episode mit 12 Jahren, als er zufällig in einem Laden für Magie auf die geheimnisvolle Großmutter Ruth trifft. Er beschreibt, wie er die Sommerferien mit ihr im Magierladen ihres Sohnes verbringt und sie ihn vier Lehren des Lebens lehrt:

  • Körper entspannen, Stress- und Krisenmodus herunterfahren (Sympathikus) und entspannte Haltung einnehmen (Parasympathikus)

  • Gedankenkontrolle, distanzieren von den Stimmen im Kopf

  • Herz öffnen und Schmerz akzeptieren und verstehen, Mitgefühl und Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber

  • Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühle, Lebensziele setzen und verfolgen

Doty sieht Ruth zwar nie wieder, doch verwirklicht er im Folgenden erfolgreich seine Träume gemäß ihrer Magie. Im zweiten und dritten Teil des Buches schildert er, wie er Arzt und Neurochirurg wird und die dritte Magie, also die Fähigkeit, das Herz zu öffnen, zunächst immer mehr verliert und sie dann neu entdeckt. Aus Ruths Magie des Herzens wird Dotys Alphabet des Herzens. - Mehr sei hier nicht verraten, um Sie nicht zu spoilern.

Doty hat eine typische, herzergreifende Geschichte des amerikanischen Traums publiziert, die insoweit nicht kitschig ist, weil er ehrlich und unprätentiös die Irrungen und Wirrungen seines Lebensweges beschreibt. Mich hat das Buch auch ergriffen, weil Ruths Magie im Prinzip mit dem Behandlungskonzept von mir und Barth ("Die langen Schatten der Sucht", 2020) übereinstimmt. Es geht darum, sich sich selbst, dem Leben und anderen gegenüber zu öffnen. Nur das Alphabet des Herzens am Ende erlebe ich als amerikanisch kitschig, doch irgendwie schön kitschig. Lassen wir Doty abschließend zu Wort kommen (S. 253):

Es kann schmerzhaft sein, wenn man mit offenem Herzen durchs Leben geht, aber noch mehr schmerzt es, wenn das Herz verschlossen ist.

Halbheer, M. (2015). Platzspitzbaby: Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Lachen: Wörterseh.

Aus dem Abstract der Verlagsseite:

Michelle ist knapp zehn, als sich ihre Eltern scheiden lassen und sie in die Obhut ihrer heroin- und kokainabhängigen Mutter kommt. Die folgenden Jahre werden für das Mädchen derart bedrohlich, dass es nur knapp überlebt. Das Elend dringt, auch über den besorgten Vater, immer wieder nach draußen. Aber Behörden, Ärzte, Polizeibeamte und zufällig involvierte Erwachsene bleiben untätig. Als Michelle endlich über das Unfassbare spricht, ist sie bereits ein Teenager. Sie wird umplatziert. Doch der Neuanfang bei den Pflegeeltern gerät, im dort streng religiösen Umfeld, zu einer weiteren Katastrophe. Als Michelle mit sechzehn ihr Leben selbst in die Hand nimmt, weiß sie noch immer nicht, was Normalität bedeutet.

Dieser Roman ist ist ein außergewöhnlich mutiges und intelligentes Buch. Es schildert offen und vielschichtig eine schreckliche menschliche Tragödie mitten in der modernen und reichen Schweiz. Halbheer erzählt ihre resiliente Geschichte, wie sie als Kind die Hölle überlebt und dem Schicksal der transgenerationalen Weitergabe aus eigener Kraft entkommt. Offen berichtet sie von ihren psychosozialen Schwierigkeiten, als junge Frau Fuß in einem geordneten Leben zu fassen. Und es darf angenommen werden, dass diese Heilungs- und Selbstfindungsgeschichte bis heute andauert (S. 187):

Im Unglück, das weiß ich heute, liegt auch das Vermögen, missliche Umstände zu ertragen, zu bewältigen und irgendwann hinter sich zu lassen.

Last but not least ist das Buch es eine Anklage gegen eine Gesellschaft, die ihr wertvollstes Gut, die Kinder, verrät, und ihre Institutionen, welche den schutzlosen Kindern die notwendige Hilfe versagen, die ihnen nach dem Kinderschutz und der Kinderrechtskonvention zustehen, nur um die suchtkranken Eltern vor den Konsequenzen ihres verantwortungslosen und übergriffigen Handelns zu schützen. Dazu möchte ich selber nichts sagen, sondern einfach Michelle Halbheer sprechen lassen (S.14, S. 222):

Das Wohl der Süchtigen wird über dasjenige ihrer Kinder gestellt, und ob die drogenabhängigen Mütter und Väter ihre Verantwortung als Eltern wahrnehmen, wird durch das professionelle Hilfesystem noch immer nicht infrage gestellt.

Auch wenn ich leugnete und relativierte, was in meinem Alltag geschah, besuchte ich doch die Schule, war umgeben von Menschen, die mein Leiden in der einen oder anderen Art und Weise mitbekamen. War es Gleichgültigkeit, Hilflosigkeit oder weil es an klaren Richtlinien fehlte, die ein schnelles Handeln und Eingreifen ermöglicht hätten, dass niemand reagierte? ... Auch heute erhält nur ein geringer Prozentsatz der betroffenen Jungen und Mädchen in irgendeiner Form Hilfe. Und dies, obwohl es in unserem Land Dutzende Anlaufstellen gibt, die intervenieren könnten, darunter Jugendämter, die Jugendgesundheitsstellen, die medizinisch-pädagogischen Amtsstellen, die Vormundschaftsbehörden, die Kinderpsychiatrie, Sozialdienste, Kinderspitäler, Opferhilfe-Beratungsstellen, Polizei, Kindernotruf, schulärztliche und schulpsychiatrische Dienste, auf Kinderschutz spezialisierte Gruppen und Kommissionen sowie die kantonalen Delegierten zur Vorbeugung von Kindermisshandlungen.

Ich könnte nun unzählige ähnliche Geschichten von KlientInnen aus meinem Praxisalltag erzählen, denen es ähnlich wie Michelle ergangen ist, die Misshandlungen und Missbrauch erfahren haben und wo auch alle - professionelle Stellen wie auch Familien, Freunde, Nachbarn etc. - weggeschaut haben. Und deswegen spricht mir das Buch aus dem Herzen.

» Verlagsseite

Steinrauch, F. (2012). Der kluge Säufer. Roman von Liebe und Sucht. Tübingen: Konkursverlag.

Dieses literarische Debüt erzählt eine schmerzhafte Liebesgeschichte zwischen zwei unkonventionellen, freiheitsliebenden und sinnlichen Menschen. Die Frau, aus deren Perspektive geschrieben wird, ist erst achtzehn, als sie dem "Mann ihres Lebens" begegnet. Ihre Brüder sehen Ennos Hände und denken: Mit dem stimmt etwas nicht, doch wissen auch sie nicht, was. Das erste Jahr über gelingt es Enno zu verbergen, dass er alkoholkrank ist. Bald droht die Liebe ganz der Sorge und dem Mitleid zu weichen. Dagegen kämpft die Ich-Erzählerin an. Als Enno verunglückt, verschafft ihm das eine Pause. Monatelang trinkt er keinen Alkohol. Doch dann...

Auf Co-ABHANGIG.de nehme ich ausschließlich angehörigenzentrierte Inhalte auf; das ist die Absicht, die Methode und der Sinn dieser Website. Wie auch schon beim Buch Dunkelblau (s.o.) verstoße ich mit der Berücksichtigung des Buches von Franziska Steinrauch - der Name ist ein Pseudonym, unter dem die Autorin Sonja Ruf veröffentlicht - eigentlich gegen die Maxime. Zwar ist der Roman aus der Perspektive von Franziska geschrieben, doch es geht fast ausschließlich um den alkoholkranken Ehemann Enno. Anders auch, als das zitierte Abstract es nahelegt, ist es eher eine konventionelle Trinkergeschichte, wie jemand persönliche und partnerschaftliche Freiheit und Sinnlichkeit im Suff ertränkt.

Der Verfall von Enno wird ungeschönt beschrieben, doch seine selbstsüchtige Zerstörungswut und seine destruktiven Motive werden einseitig verstanden und erklärt. Die Beweggründe, warum Franziska ihre Liebe über 20 Jahre mit Füßen treten lässt, bleiben im Dunkeln. Warum verlässt sie z.B. einen Liebhaber enttäuscht, mit dem sie sich eine feste Beziehung wünscht, weil sie in einem Detail unterschiedliche sexuelle Vorstellungen haben, bleibt aber bei Enno, obgleich er sie in allen Belangen enttäuscht? Selbst als er Abstinenz erzielt, dreht sich alles weiter um sein überwundenes Leiden und seine wiedergewonnene Lebendigkeit. Die Verzweiflung und das Leben von Franziska werden allenfalls angedeutet.

Anders als z.B. in der Erzählung von Sheff Beautiful boy, kriegt die Geschichte nicht die Kurve, Franziska in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Die Frau bleibt blass. Dies löst ein ambivalentes Empfinden in mir aus, ich finde es gleichermaßen konsequent als auch schade. Schade ist es, weil es wirklich irgendwie auch eine Liebesgeschichte ist und die Fragestellung spannend wäre, wie sich Franziska trotz der frustrierenden Partnerschaft ihre Liebesfähigkeit und Lebenszugewandtheit erhält.

Warum habe ich das Buch hier dennoch aufgenommen? Erstens gibt es Romane über eine Kindheit in einer Suchtfamilie häufiger, Romane über eine süchtig, co-abhängige Partnerschaft eher weniger. Zweitens legt das Buch zwischen den Zeilen und bis zur letzten Zeile Zeugnis darüber ab, was Co-Abhängigkeit ist: Das Kreisen um den Suchtkranken, selbst wenn dieser die Sucht an den Nagel hängt und ins Leben zurückkehrt. Die Überwindung der Sucht beendet nicht die Co-Abhängigkeit, ein häufiger Irrtum von verstrickten Angehörigen.

Drittens möchte ich einen persönlichen Wunsch äußern, der mit jeder Seite gewachsen ist, zum Ende des Werkes in der wiederholten Enttäuschung beinah schmerzhaft wurde, und mich damit direkt an die Autorin wenden: Frau Steinrauch, bitte, schreiben Sie einen zweiten Roman über die Geschichte von Franziska, über ihre Verzweiflung, Ängste, Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen, ihren co-abhängigen "Affen", ihre Liebschaften, biografischen Prägungen, welche ihre Abhängigkeit, aber auch Liebe begründen, und Ihre Karriere als Schriftstellerin, über Ihre kleinen und großen Erfolge und Misserfolge als Ehefrau, als Liebhaberin, als Schriftstellerin und vor allem als (Mit-)Mensch. Bitte, trauen Sie sich, für Franziska!

» Leseprobe

Koch, C. (2010) Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern. Hamburg: Acabus.

Aus dem Abstract zum Buch:

„Wessen Moral?“ ist ein autobiografischer Roman über eine junge Frau, die retrospektiv das Verhältnis zu ihrer suchtkranken Mutter beleuchtet und zu verstehen versucht. Zunächst noch mit den Augen eines Kindes beobachtet die Autorin wie ihre Mutter Stück für Stück an Stärke und Lebenswillen verliert. Mehr und mehr lässt sich die Mutter von ihren eigenen Süchten leiten, bis sie schließlich an ihnen zerbricht. Cécile Koch versuchte lange, sich ihre verstörende Welt mit kindlicher Fantasie zurechtzurücken. Als Außenseiterin in der Nachbarschaft und Schule erfindet sie sich Freunde und erschafft sich eine eigene Realität. Mit vierzehn Jahren reist sie sechs Wochen mit einem kleinen Wanderzirkus mit und bezahlt dafür mit dem einzigen, was sie hat - mit sich selbst. Nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr bricht ihr der Boden unter den Füßen weg...

Mit einfachen, nüchternen Worten betrachtet die Autorin rückblickend ihr Leben ohne geborgene Kindheit und ihren Versuch, aus eigener Kraft erwachsen zu werden. Nicht die nachträgliche Betroffenheit steht im Vordergrund ihrer Schilderungen. Vielmehr geht es um den Mut und auch die Probleme, das eigene Leben anzunehmen und selbstbestimmt zu führen. Der Titel „Wessen Moral?“ steht stellvertretend für alle Fragen nach den Gründen und der Gerechtigkeit der Welt, welche Cécile Koch beschäftigen.

Als ich ungefähr in der Mitte des Buches von Cécile Koch angelangt war, habe ich mich an eine Fortbildung vor einigen Jahren erinnert. Eine Kollegin hatte mir zum Ende kritisch zurückgemeldet, dass sie meine Ausführungen übertrieben drastisch fände. Diese Bewertung hat mich damals gekränkt. Ich hatte die ganz schlimmen Sachen ausgelassen, um die KollegInnen nicht zu sehr zu verstören. Wenn ich vor Betroffenen referiere, dann spreche ich auch die schrecklichen Sachen an. Die Betroffenen fühlen sich dadurch, so melden sie es mir zurück, in ihren Leiden und Schmerzen gesehen. Sie fühlen sich gewürdigt, wenn jemand versucht, das Unsagbare zu sagen.

In Veranstaltungen für KollegInnen erfahre ich immer wieder, dass viele das Thema nicht wirklich durchdringen können, entweder weil sie wohlbehütet aufgewachsen sind und die gesellschaftlichen Abgründe nur theoretisch aus Büchern und Filmen kennen oder weil sie ihr eigenes traumatisches Thema noch abwehren. Und ich erkenne die wenigen, welche selbst betroffen sind und denen dies bewusst ist. Sie sind still, schweigen und verstehen. Sie nicken fast unsichtbar an den richtigen Stellen und in ihren Augen kann ich traurige Freude darüber erkennen, dass ich versuche, ihre Not in Worte zu kleiden.

Wessen Moral? ist nicht die allerschlimmste Autobiografie, Asche meiner Mutter, Platzspitzbaby oder Kinderwhore sind nach meinem Dafürhalten noch drastischer, so schlimm, dass sie auch für mich nicht mehr nachvollziehbar sind. Das macht die ganz schlimmen Bücher irgendwie abstrakt und lesbar. Doch solche Vergleiche sind pietätlos: schlimm, schlimmer, am schlimmsten, am allerschlimmsten. Die Leiden der jungen Cécile sind sehr schlimm, gerade noch nachvollziehbar, was es eher schlimmer macht.

Ihr Ekel, ihre Scham, ihre Wut, ihre Verzweiflung, sie gehen unter die Haut und lösten körperliche Dissonanzen in mir aus. Der Dreck ihrer Kindheit war fühlbar. Die Scham und der Selbsthass von Cécile verkrampften sich wie eine Faust in meinem Bauchraum, dass ich Pausen machen musste, um zu atmen und mich zu lockern. Und vor allem das Mitgefühl mit der Protagonistin haben mich wiederholt geflutet. Ich musste dann das Buch weglegen, musste mich bewegen, mir einen bewussten Sinnesreiz zuführen, um mich zurück in meine eher friedliche Realität zu holen. Im Nachhinein denke ich, dass die besagte Kollegin zu der abwehrenden Gruppe an KollegInnen gehört. Ich würde ihr gerne das Buch von Koch schenken. Es berührt tiefgehend.

Es ist zwar schmerzhaft, doch befreiend und bereichernd, sich mit den eigenen biografischen Belastungen und Traumata auseinanderzusetzen. Darüber legt das Werk von Koch Zeugnis ab. Es ist ein mutiges und notwendiges Buch, weil es verdeutlicht, unter welchen armen und brutalen Bedingungen Kinder in unserem reichen, demokratischen Kulturkreis aufwachsen. Als besonders wertvoll habe ich wahrgenommen, dass Koch herausarbeitet, wie der emotionale Missbrauch den Nährboden für auch sexuellen Missbrauch schafft. Viele meiner KlientInnen haben wie Cécile in der Jugend erotische Ausbeutung durch ältere Männer erfahren und einige wurden durch den alkoholisierten Partner zum nicht einvernehmlichen Sex genötigt. Emotionaler und sexueller Missbrauch sind schrecklich, sie sind Spielarten derselben beschämenden, dissozialen Erniedrigung. Dazu abschließend ein Zitat aus dem Buch (S.215):

Aufgrund der Erfahrungen, die ich in meinem Elternhaus gesammelt hatte, hatte ich keine klare Vorstellung davon, was 'normal' ist. Ich sehnte mich so sehr nach Liebe und Aufmerksamkeit und war wir ein verhungerter Dackel gewillt alles zu tun, um anerkannt und geliebt zu werden. Ich hatte keine gesunde Ressource, die mir ein Signal gibt, dass hier eine nicht zu überschreitende Grenze überschrtten wird, sondern hatte andauernd das Gefühl noch mehr geben zu müssen, um endlich zu bekommen, wonach ich mich sehnte. Die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hat mich damals fast terrissen. Der Direktor des Zirkus hat dies bewusst zu seinen Gunsten genutzt und heute würde ich ganz klar sagen: es war Missbrauch.

Sheff, D. (2008). Beautiful boy. A father´s journey through his son´s addiction. Boston: Houghton Mifflin.

David Sheff schildert autobiografisch seine Erfahrungen als Vater, der sich in der Hilfe für seinen drogenabhängigen Sohn immer weiter verliert. Zum Buch gibt es auch einen Film mit demselben Titel (2018), der in der Rubrik Spielfilme weiter unter rezensiert ist. Auf Wikipedia werden die Erfahrungen von Sheff als liebender und überversorgender Vater zusammenfassend wie folgt beschrieben (Stand: 01.04.2023):

Throughout the memoir Sheff attends numerous Al-Anon Meetings and therapy sessions. In these different sessions he is continually told of the three Cs: you did not cause it, you cannot control it, and you cannot cure it. Sheff has a difficult time accepting these statements throughout the memoir. At the end, however, he says that he has come to accept two of the Cs, that he cannot control it, and he cannot cure it. He realizes that he has done everything he can do to try to help Nic, and knows that it is up to Nic to figure things out if he is to fully recover.

» Wikipedia

Walls, J. (2005). Schloss aus Glas. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Das Buch von Walls wurde auch verfilmt. In der folgenden Rezension konzentriere ich mich auf das Buch. Eine zusätzliche Einschätzung zum Film finden Sie auf dieser Seite in der Rubrik Spielfilme. Zum biografischen Hintergrund von Film und Buch auf Wikipedia:

Der Film basiert auf dem autobiografischen Roman Schloss aus Glas (Originaltitel The Glass Castle: A Memoir) von Jeannette Walls aus dem Jahr 2005, ... Walls beschreibt in Schloss aus Glas ihre schwere Kindheit und wie ihre Eltern mit vier Kindern durch die USA vagabundierten. In den ersten fünf Jahren ihrer Ehe hatten ihre Eltern 27 Adressen, da ihr Vater es an keinem Arbeitsplatz länger aushielt und kein Geld für die Miete hatte. Zudem fühlte sich der alkoholkranke und wahrscheinlich bipolare Rex vom FBI verfolgt. Rose Mary, ihre Mutter, war wahrscheinlich auch bipolar und hielt sich für eine Künstlerin.

Die Kinder mussten oft hungern, in zerschlissener Kleidung herumlaufen und wurden daher in den verschiedenen Schulen, die sie besuchten, von ihren Mitschülern gehänselt. Als die Familie in den Heimatort des Vaters Welch in den Appalachen zurückkehrte, lebten sie bei Verwandten in einem Haus mit drei Zimmern ohne Wasser, Strom und Heizung, wo es feucht und schmutzig war und von Ungeziefer, Schlangen und Ratten wimmelte. Da Jeannette dies nicht mehr aushielt, schlug sie sich im Alter von 17 Jahren bis nach New York durch, wo sie in der Bronx bei ihrer älteren Schwester Lori wohnte. Dort machte sie ihren Schulabschluss, lieh sich von allen möglichen Leuten Geld und arbeitete in einer Anwaltskanzlei, um sich das Studium auf dem New Yorker Barnard College zu finanzieren.

Die Geschichte von Schloss aus Glas gewinnt ihre Dramatik aus der vielschichtigen Ambivalenz einer Suchtfamilie. Die amerikanische Journalistin Jeanette Walls erzählt die Ereignisse ihrer Kindheit, ohne sittliche Maßstäbe anzulegen. Sie beschreibt - typisch Journalistin - aus einer eher äußeren Perspektive, ohne zu verurteilen oder zu idealisieren. Dem Leser hilft diese nüchterne Erzählweise, Abstand zu wahren und sich weder mit der Liebe, den Abenteuern und der Faszination des Vagabunden-Lebens der Walls noch mit den Entbehrungen, Erniedrigungen und Leiden der Kinder allzu sehr zu identifizieren.

Mal schlägt das Pendel in die eine Richtung aus: "Reiche Stadtmenschen hatten schicke Wohnungen, aber ihre Luft war so verschmutzt, dass sie die Sterne nicht einmal sehen konnten, und wir wären ja schön verrückt, wenn wir mit ihnen tauschen wollten", mal in die andere Richtung: "Und mit erhobener Stimme fügte ich hinzu: »Ich hatte Hunger.« Mom starrte mich erschrocken an. Ich hatte gegen eine unserer stillschweigenden Regeln verstoßen: Es wurde von uns erwartet, dass wir stets so taten, als wäre unser Leben ein einziges langes, unglaublich lustiges Abenteuer."

Walls schafft es bis zum Ende, diese Ambivalenz feinfühlig auszubalancieren. Dieser Herangehensweise ist geschuldet, dass sie selten eine Innenperspektive des kindlichen Erlebens einnimmt. Der Hunger, der Ekel und die Schmerzen der Protagonistin Jeanette werden zwar benannt, doch werden sie mit wenigen Ausnahmen nicht näher ausgeführt, anders als z.B. in dem autobiografischen Roman Shuggie Bain. Diese sachliche Erlebensverzerrung ist typisch für traumatisierte Kinder aus Suchtfamilien, es ist eine funktionale Überlebensstrategie. Walls bleibt als Lieblingstochter so gegenüber Vater und Mutter loyal, sie schützt sich und ihre Familie vor moralischer Vereinnahmung durch andere und ihre Geschichte ist dadurch zugänglicher, lesbarer als die von Shuggie Bain.

Bei letzterer Autobiografie zersetzen die Auswirkungen des Suchtmittelkonsums die Familienbande und Shuggie, wie auch die älteren Geschwister zuvor, befreit sich, indem er weggeht. Bei Schloss aus Glass wird der Familienzusammenhalt hingegen durch die suchtbedingten Katastrophen noch gestärkt und die Protagonistin findet zu sich, indem sie in den Schoß der Familie zurückkehrt und zu dieser und der gemeinsamen Geschichte steht.

Obendrein nimmt Walls durch ihre Nüchternheit den mannigfaltigen Traumata den Schrecken, überfordert die LeserInnen nicht emotional und macht das Thema der Suchtfamilie einem breiterem Publikum zugänglich. Schloss aus Glass konnte so ein Bestseller werden. Zwar haben der Vater und die Mutter auf fast schon sympathische Art und Weise darin versagt, ihre grandiosen beruflichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüche und Versprechungen zu verwirklichen, doch die Tochter macht es besser und gibt der familiären Geschichte eine unverhoffte, erfolgreiche Wendung. Sie versilbert, so kann man es metaphorisch sagen, das Scheitern des Vaters, Gold zu finden.

Im Film wirft die erwachsene Jeanette dem Vater am Ende vor: "Reden ist nicht gleich Handeln." Die Autorin Jeanette Walls scheint diesen tragischen Zwiespalt ihrer Eltern im und durch das Schreiben überwunden zu haben. Es ist eine resiliente Geschichte.

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McCourt, F. (1996). Die Asche meiner Mutter. Irische Erinnerungen. München: btb.

Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.

Frank McCourt ist ein amerikanischer Schriftsteller irischer Abstammung, wurde 1930 in New York geboren und starb dort 2009. In dem autobiografischen Roman Die Asche meiner Mutter, den er nach seiner Pensionierung als Lehrer schrieb, verarbeitete er die schlimmen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend, die er in bitterer Armut in Limerick in Irland verbrachte. Der Vater war alkoholkrank, war überwiegend arbeitslos, verlor Jobs alkoholbedingt schon wenigen Tagen und vertrank das wenige Geld, welches die Familie hatte.

Frank und die Geschwister wuchsen im Dreck, ohne Heizung und mit ständigem Hunger auf. Sie bettelten, prügelten sich, wurden geprügelt, sammelten Abfälle von der Straße und klauten, um nicht zu erfrieren oder zu verhungern. Drei der sieben Geschwister starben noch als Kleinkinder und auch Frank überlebte nur mit knapper Not eine Typhus-Erkrankung. Als Jugendlicher arbeitete Frank als Telegramm-Junge und sparte heimlich das notwendige Geld, um sich eine Schiffsfahrt zurück nach New York zu leisten.

Frank McCourt erzählt unprätentiös die Geschehnisse seiner Kindheit, ohne zu bewerten, zu moralisieren oder zu analysieren. Auch beschönigt und dramatisiert er nicht. Die Geschichte ist nichts für schwache Nerven, da er die schmutzigen, kaputten und bitteren Lebenszusammenhänge schonungslos bis ins Detail beschreibt. Eine Note am Rande: Zwar findet ein Teil der Geschichte, neunte bis 14. Lebensjah, auf dem Hintergrund des zweiten Weltkriegs statt, doch ist dieser aufgrund des Überlebenskampfes der Familie nur eine Nebensächlichkeit.

Mir hat gut gefallen, dass McCourt in einem restringierten Code schreibt. Die Sprache passt sich authentisch dem Denken und der naiven Sichtweise des Kindes und Jugendlichen an. Das Buch baut seinen Spannungsbogen aus dem Kontrast zwischen äußerer Armut und dem Reichtum des Erlebens des kindlichen Ich-Erzählers auf. Ich bin viel zu behütet aufgewachsen, um dem Buch sprachlich gerecht werden zu können, deswegen lassen wir Frank abschließend zu Wort kommen:

Sie ist mit dem Baby im Bett. Malachy und Michael schlafen oben in Italien. Ich weiß, ich brauche Mam gar nichts zu sagen, denn bald, wenn die Kneipen schießen, wird er singend nach Hause kommen und uns einen Penny anbieten, wenn wir für Irland sterben, und von jetzt an wird es anders sein, denn es ist schon schlimm genug, wenn ein Mann das Stempelgeld oder den Lohn vertrinkt, aber ein Mann, der das Geld für ein neues Baby vertrinkt, der ist tiefer gesunken als tief, wie meine Mutter sagen würde.

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arthur schnitzler

Schnitzler, A. (1924). Fräulein Else.

Das 1924 erschienene Buch des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler ist eine Monolog-Novelle. Das gesamte Drama wird aus der Perspektive von Else als innerer Dialog ausgebreitet. Aus der angehörigenzentrierten Sicht ist es eine typische Geschichte der emotionalen und sexuellen Ausbeutung von Kindern aus Suchtfamilien. Else ist die Tochter eines spielsüchtigen Wiener Rechtsanwalts, der Gelder veruntreut hat und dem deswegen eine Inhaftierung droht.

Immer diese Geschichten! Seit sieben Jahren! Nein - länger. Wer möchte mir das ansehen? Niemand sieht mir das an, auch dem Papa nicht. Und doch wissen es alle Leute. Rätselhaft, dass wir uns immer noch halten. Wie man alles gewöht.

Es ist allerdings die (co-abhängig agierende) Mutter, die die Tochter bittet, bei einem reichen Freund der Familie, dem Kunsthändler Dorsay, um eine größere Summe zu betteln. Dorsay verlangt von Else als Gegenleistung, sich vor ihm zu entblößen. Else gerät in eine ausweglose psychische Krise zwischen der Loyalität zu ihrer Familie einerseits, welche Selbstaufgabe und -aufopferung bedeutet, sowie ihrer persönlichen, sexuellen Integrität als junge Frau andererseits. Das Schamgefängnis, die sprachlose Verzweiflung der Betroffenen und das tragische Unverständnis der anderen wird inszeniert:

Warum hört ihr mich denn nicht? Wisst ihr denn nicht, dass ich sterbe? Aber ich spüre nichts. Nur müde bin ich. Paul! Ich bin müde. Hörst du mich denn nicht? Ich bin müde, Paul. Ich kann die Lippen nicht öffnen. Ich kann die Lippen nicht öffnen. Ich kann die Zunge nicht bewegen, aber ich bin noch nicht tot.

Die Novelle macht deutlich, dass Traumatisierungen von Kindern aus Suchtfamilien schon in anderen historischen Kontexten, hier das höhere bürgerliche Milieu Wiens des beginnenden 20. Jahrhunderts, stattgefunden haben. Schnitzler entlarvt die moralisch sittliche Verlogenheit einer patriarchalen Gesellschaft, die ihre Analogie in der Verlogenheit der süchtigen Familie von Else findet.

Ende, M. (1973). Momo. Stuttgart: Thienemann.
Twain, M. (1884). Huckleberry Finns Abenteuer. Zürich: Diogenes.

Warum werden die beiden Klassiker von Michael Ende und Mark Twain hier aufgeführt? Huckleberry Finn ist der Sohn eines Alkoholikers und Raufbolds. Huckleberry muss sich nicht nur dem Zugriff seines gewalttätigen Vaters erwehren, auch die bevormundende Fürsorge der Gesellschaft bedroht seine Freiheit und Selbstverwirklichung. Bei Momo repräsentieren die grauen Herren die Sucht. Sie rauchen Zigaretten, die sie aus den Blütenblättern der Lebenszeit der Menschen gewinnen und sie manipulieren die Menschen, sich der Moral und dem Diktat der Beschleunigung zu unterwerfen. Die angstgetriebene Hetze der Menschen kann als co-abhängig eingestuft werden.

Momo und Huckleberry repräsentieren beide einen leidenschaftlichen Gegenentwurf zu einer abhängig entfremdeten Welt. Sie sind durch und durch "unprinzessinnenhaft" und Vorbild für alle, die sich in Anpassung, Arbeitseifer und Pflichterfüllung verloren haben und ihr Leben zurückgewinnen wollen. Beide Protagonisten sind spontan, authentisch, kreativ, mutig und eigensinnig, können gut zuhören und beobachten, lachen und weinen, spielen gerne, lieben den Müßiggang und genießen ihr Dasein in vollen Zügen. In ihrer Resilienz sind sie Vorbilder darin, für die eigene Unabhängigkeit und die anderer Menschen einzustehen.

Kaurismäki, A. (Reg., 2023). Fallende Blätter [Film]. Finnland.

Es ist ein typischer, eigenwilliger Film des finnischen Regisseurs. Jede Szene ist wie ein Gemälde. Die Dramaturgie der Bilder wird u.a. durch den Kontrast gespeist, dass die Geschichte zwar in die heutige Zeit eingebettet ist, doch mit Requesiten der 60er und 70er Jahre ausgestattet ist. Und es wird wenig gesprochen. Vor vielen Jahren hatte ich eine Finnin in Therapie. Sie saß kaum, als sie mir lakonisch mitteilte, wie sehr es sie nerve, dass Deutsche so viel sprechen und sich für alles rechtfertigen müssen. Wir haben oft geschwiegen, was mir gefallen hat.

In diesem Sinne will ich kein überflüssiges Wort über Fallende Blätter verlieren. Nur so viel: Es geht um eine tragikkomische Liebesgeschichte zwischen zwei proletarischen Verlieren. Die nicht mehr junge Frau ist Kind aus einer Suchtfamilie. Der Vater starb durch Alkohol, die Mutter vor Kummer. Der ebenso nicht mehr junge Mann ist ein Trinker, der nichts mehr vom Leben erwartet.

Der Film ist eine pragmatische, nicht humorlose Blaupause, wie Klarheit und Nüchternheit hilft, Unabhängigkeit zu wahren und Liebe zu ermöglichen. Beide Protagonisten sind zwar wortkarg, doch keinesfalls sprachlos. Der ruhige Erzählstrom von Kaurismäki erlaubt es dem Zuschauer, sich bevormundungsfrei eigene Gedanken über das Gesehene zu machen und den eigenen Stimmungen nachzugehen. - Eine kleine Geschichte und großes europäisches Kino!

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Monnard, P. (Reg., 2020). Platzspitzbaby. München: EuroVideo Medien.

Der Film ist inspiriert durch das gleichnamigen Autobiografie von Michelle Halbheer (s.o.), die den Filmdreh unterstützte. Der Film ist allen Kindern gewidmet, die vergessen wurden. Zur Geschichte vom Cover der DVD:

Frühling 1995: Nach der Auflösung der offenen Drogenszene in Zürich ziehen die elfjährige Mia und ihre Mutter Sandrine in ein verschlafenes Städtchen im Zürcher Oberland. Die anfängliche Idylle endet schnell, als alte Freunde auftauchen und Sandrine rückfällig wird. Mia flüchtet sich in eine Traumwelt und schmiedet fantastische Pläne für ein Inselleben mit der Mutter, fernab der Drogen. In einer neuen Freundesclique findet Mia eine Art Ersatzfamilie und immer mehr auch die Kraft, sich gegen die alles beherrschende Mutter aufzulehnen.

Platzspitzbaby war 2020 der erfolgreichste Kinofilm in der Schweiz. Der Detail- und Ereignisreichtum des Buches wird im Film durch die Reduktion auf wenige entscheidende, atmosphärisch verdichtete Szenen ersetzt. Der Film nimmt sich viel Zeit, um im ruhigen Erzählfluss allein auf das Erleben des Kindes Mia zu fokussieren. Das Buch behandelt die gesamte Kindheit von Michelle, der Film nur das elfte Lebensjahr von Mia. Mit der Ausuferung der Drogensucht der Mutter, eskaliert auch die Befindlichkeit von Mia, welche hilflos zerrissen zwischen der Loyalität mit der Mutter und der sich zuspitzenden, stummen inneren Not ist.

Die Reduktion des Films hilft, sich emotional in Mia, die Ausweglosigkeit ihrer Lage und ihre wachsende Verzweiflung einzufühlen. Auf dem Cover wird ein wenig reißerisch von einer "unglaublichen Geschichte" eines elfjährigen Mädchens gesprochen. Nach einer langen Woche in meiner psychotherapeutischen Praxis, in der - neben anderen KlientInnen - ca. 15 erwachsene Kinder aus Suchtfamilien bei mir hatte, kann ich darüber nur müde schmunzeln. Der Film hat mich sehr angerührt, am Ende konnte ich befreiend weinen, als Michelle endlich ihren Vater anruft. Doch das Schicksal von Michelle Halbheer, das Versagen der Hilfesysteme und das gesellschaftliche Vergessen passiert millionenfach in der Schweiz, Deutschland und überall auf der Welt. Bitte vertun Sie sich nicht, Michelle lebt auch in Ihrer Nachbarschaft.

Und weil das so ist, ist Platzspitzbaby ein in meinen Augen notwendiger, wertvoller Film. - Bitte, der Film eignet sich nicht für sensible Seelen, die selber betroffen sind und ihren Schmerz darüber noch nicht aushalten!

Das Schönste vom Film, wie ich finde, ist der Song "Ich gebe nicht auf":

Meine Flügel verwundet | Ohne Kompass im Sturm | Halt mich fest an den Sternen | Um mich Nachts nicht zu verliern | Und ich schaue auf | Im Wind kreisen Schwalben | Ein Leuchten im Meer | Bin immer noch da | Und solang ich zu mir steh | Und die Welt sich dreht | Geb ich nicht auf | Ich gebe nicht auf

Hab ne Feder gefundn | Heb sie auf, halt sie fest | Wenn ich jetzt daran glaube | Mich der Mut nicht verlässt | Voller Hoffnung | Nimmt sie mich mit | Schwerelos frei | Flieg ich auf und davon | Bin immer noch da | Und solang der Wind mich treibt | In eine bess’re Welt | Flieg ich davon

» Website und Trailer
» Titelsong auf Youtube

van Groeningen, F. (Reg., 2018). Beautiful Boy [Film]. USA: Amazon Studios.

Der Film beruht auf einer wahren Geschichte eines Vaters und seines drogenabhängigen Sohnes an der Westküste der USA (San Francisco, Los Angeles). Das Besondere ist, dass das Drehbuch auf den Erzählungen beider basiert, welche jeweils in Romanen niedergeschrieben wurden: "Beautiful Boy: A Father´s Journey Through His Son´s Addiction" von David Sheff und "Tweak: Growing Up on Methampetamines" von Nic Sheff.

Der Film wechselt ständig zwischen den Perspektiven von David und Nic. Die Filmszenen sind in Bezug auf den Sohn chronologisch geordnet, springen in Bezug auf den Vater indes in der Zeit hin und her. Die Rückblenden erzeugen einen noch tieferen emotionalen Einblick in das Erleben des Vaters. Der Zuschauer gerät so immer tiefer in den Strudel der eskalierenden, zerstörerischen Drogensucht von Nic und dem ebenso zerstörerischen Unterfangen des Vaters, den Sohn zu retten.

Die atmosphärische Dichte des Films wird durch den eher zurückhaltenden Einsatz von Sprache und durch die Inanspruchnahme von bis ins Detail ausgestalteten Kulissen, Musik, Landschaftsaufnahmen, Bildern und Symbolik verstärkt. Z.B. kommt der gleichnamige Song von John Lennon "Beautiful Boy" im Film vor. Das Lied handelt von einem Vater, der seinen Sohn nach einem Alptraum tröstet: "Close your eyes - Have no fear - The monster′s gone - He's on the run and your daddy′s here".

Zurück zum Filmplot: David wacht schließlich aus der Endlosschleife seines wahr gewordenen Alptraums auf. Als er von seinen verzweifelten Bemühungen loslassen kann und sich vom Sohn abgrenzt, erfährt die Geschichte eine dramatische Wendung.

» Trailer

Goiginger, A. (Reg., 2017). Die beste aller Welten [Film]. Mödling bei Wien: Ritzl-Film.

Der Film ist autobiografisch, der Autor und Regisseur erzählt von seiner schwierigen Kindheit, wie er als Siebenjähriger in der Drogenszene Salzburgs aufwächst. Die Mutter Helga ist zerrissen zwischen ihrem Vorsatz, für ihren Sohn gut zu sorgen, und dem Zwang, ihre innere Leere mit Drogenkonsum zu stillen. Im Mittelpunkt steht indes Adrian, wundervoll gespielt von Jeremy Miliker, wie er sowohl Liebe, Freiheit und Lebensfreude erfährt, als auch die mit dem Drogenleben verbundenen Schwierigkeiten erlebt und diese mit Ängsten und Alpträumen bezahlt.

Die Geschichte gewinnt ihre Spannung aus der Ambivalenz zwischen dem bis ins Detail schonungslos dargestellten Drogenleben und der zarten Idealisierung der mütterlichen Liebe. Eben gerade deswegen bleibt der Film stets auf dem festen Boden der Realität, gleitet nie ins Sentimentale ab und hinterlässt eine versöhnliche und hoffnungsvolle Stimmung. Adrian geht trotz und wegen dieser Kindheit mutig und kreativ seinen Weg - in der für ihn besten aller Welten.

cover sanfter mann sucht frau

Curval, J.L. (Reg., 2016). Sanfter Mann sucht Frau [Film]. Frankreich: ARTE.

Ein sehr französischer, stiller und unprätentiöser Film darüber, wie Annette, eine 30-jährige Frau, die mit ihrem Sohn Eric in einer Kleinstadt im Norden Frankreichs wohnt und als Kassiererin arbeitet, eine abhängige Beziehung zu einem gewalttätigen Trinker und ein leeres Leben hinter sich lässt. Der Titel verwirrt indes. Er müsste vice versa lauten: Sanfte Frau sucht Mann, denn Annette ist die Protagonistin, die das Heft des Handelns in die Hand nimmt. Der Film kommt vollständig ohne große Aktion aus und bleibt sich bis zum Ende darin treu, die Begegnungen und Beziehungen der Hauptfigur und ihren emotionalen Prozess der Befreiung mit viel Zartgefühl zu begleiten.

» Mehr Informationen

Cretton, D.D. (Reg., 2017). Schloss aus Glas [Film]. USA.

Zum biografischen Hintergrund von Film und Buch auf Wikipedia:

Zum Buch können Sie oben eine Rezension lesen, die weitgehend auch auf den Film zutrifft. Er erzählt nüchtern die Geschichte der Familie Walls, ohne zu urteilen, und balanciert feinfühlg die Ambivalenz von Abenteuer, Sternenhimmel und Authentizität einerseits sowie Hunger, Größenwahn, Gewalt und Erniedrigung andererseits. Doch die letzten fünf Minuten des Films, nach dem Tod des Vaters, sind mir persönlich ein wenig aufgestoßen: Nach meinem Dafürhalten wird ein dicker Zuckerguss aus amerikanischer Familienmoral über das bis dahin sensible und facettenreiche Familienportrait ausgegossen. Die im Abspann gezeigte familiäre Feierlaune und Idealisierung des Vaters widerspricht Film und Buch und übertüncht die gleichermaßen wert- und leidvolle Farbigkeit der Geschichte. Dieser Abspann ist im Buch deutlich dezenter gehalten und wirkt dort keinesfalls kitschig. Wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich nach der berührenden Aussprache von Tochter und Vater auf seinem Todesbett ausgeschaltet. Doch dies ist, dies ist mir bewusst, meine subjektive Interpretation. Bilden Sie sich bitte selbst ein Urteil, es lohnt sich!

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Weegmann, R. (Reg., 2016). Ein Teil von uns [Film]. Deutschland: Constantin Television.

Der Film handelt vom leidvollen Leben einer erwachsenen Tochter einer alkoholkranken Mutter. Brigitte Hobmeier spielt die Hauptfigur Nadja facettenreich, ungeschminkt und vielschichtig. Der Film bringt dem Zuschauer die emotionalen Abgründe einer Suchtfamilie stets aus dem Blickwinkel von Nadja und in mitleidloser Solidarität mit ihr nahe. Brigitte Hobmeier formulierte in einem Interview zur Rolle folgendes (2016): "Sie will meilenweit wegrennen und kommt keinen Millimeter voran. Ihr Selbstschutz wird zur Mauer, hinter der sie vor Einsamkeit fast krepiert."

Der Film ist realistisch bis zur Schmerzgrenze. Die Bilder gehen unter die Haut und sind nichts für Zartbesaitete oder Betroffene, die von der eigenen Geschichte noch zu sehr verwundet sind. Der Film bietet für Nadja keine Hoffnung oder Erlösung, doch überrascht das Ende in seiner ernüchternden Offenheit und Akzeptanz.

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Medienprojekt Wuppertal (2015). Zoey - Ein Spielfilm über die Lebenswelt von Kindern einer suchtbelasteten Familie [Film]. Wuppertal.

Der Film leuchtet trotz seiner Kürze und Projekthaftigkeit feinfühlig alle emotionalen Nuancen des Schicksals von Jugendlichen aus Suchtfamilien aus. Das Ende deutet an, wie Betroffene das leidvolle Schicksal überwinden können, ohne dass der Film ins Kitschige abrutscht oder falsche Hoffnungen weckt. Der Film ist besonders für die präventive Arbeit mit Jugendlichen geeignet.

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US-amerikanische Fernsehserie Shameless

Wells, J. & Abbott, P. (2011 - 2021). Shameless [Serie]. USA.

Inhaltsangabe von Wikipedia:

Die Dramedy-Serie Shameless behandelt das Alltagsleben der dysfunktionalen Familie Gallagher aus Chicago. Sie gehört der urbanen Unterschicht an und bewohnt ein bescheidenes Einfamilienhaus in der South Side, einem sozialen Brennpunkt der US-Metropole.

Oberhaupt der Familie ist der arbeits- und verantwortungslose Alkoholiker Frank, der von seiner bipolaren Ehefrau verlassen wurde. Er zeigt sehr wenig Interesse an seinen sechs Kindern, und anstatt sich um den gemeinsamen Lebensunterhalt zu kümmern, verbringt er den Großteil der Zeit in seiner Lieblingsbar (The Alibi Room). Der Familie fehlt es an einem regelmäßigen Einkommen, da Frank die Sozialhilfe lieber in seinen Alkohol- und Drogenkonsum investiert.

Sich selbst überlassen, versucht seine älteste Tochter Fiona das meist chaotische Familienleben zu organisieren und hat notgedrungen die Mutterrolle für ihre Geschwister übernommen. Der hochintelligente, aber kleinkriminelle Lip lebt lieber in den Tag hinein, als sich um gute Schulnoten zu bemühen. Ian verbirgt seine Homosexualität vor seinem Umfeld und leidet unter seinen versteckten Gefühlen. Debbie ist ein umsorgendes Mädchen, doch auch sie stößt regelmäßig an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Der zehnjährige Carl wiederum kompensiert fehlende Struktur im Leben mit Gewalt, und schließlich gibt es noch Nesthäkchen Liam.

Gemeinsam versuchen die Kinder, trotz ihres unmöglichen Vaters, ihr Leben am Rand der Gesellschaft auf kreative, skandalöse, aber auch warmherzige Weise zu meistern. Dabei erhalten sie Unterstützung durch ihre Nachbarn, Fionas beste Freundin Veronica Fisher und deren Lebensgefährten, den Barkeeper Kevin Ball.

Die Serie wurde mir von einer jüngeren Klientin empfohlen. Shameless ist eine Dramedy, ein Kombination von Drama und Komödie. Mein Eindruck ist zwiespältig. Nach meinem Dafürhalten bietet die Serie zum einen tragische Einblicke in die kaputten Abgründe von Suchtfamilien, die ohne bürgerlich erhobenen Zeigefinger, aber mit selbstbewusstem Stinkefinger daherkommen. Im Mittelpunkt steht Fiona, die älteste Tochter, die die Familie am Laufen hält und als Folge sich selbst vernachlässigt. Sie verkörpert das Enabler-Konzept von Wegsheider-Cruse (1981).

Zum anderen ist Shameless eine typische US-amerikanische Soap Opera, die der Unterhaltung dient. Der Mix aus Sex, Drugs and Crime ist guter Stoff, der sich abends auf dem Sofa gut konsumieren lässt. Mir reichte es, einige Folgen zu sehen, da sich die Geschichte in meinen Augen in einer Endlosschleife verliert (11 Staffeln, 134 Episoden)), was zweifelsohne typisch für eine (co-)abhängige Struktur ist. Dem Thema Suchtfamilie darf man sich auch unterhaltsam nähern, wie ich finde, nehme jedoch an, dass die Serie vor allem die jüngere Generation ansprechen wird, die mit dieser bunten und lauten Schablonenhaftigkeit amerikanischer Unterhaltungsindustrie aufgewachsen sind und sich darin zu Hause fühlen.

» Shameless auf Wikipedia

Parker, A. (Reg., 1999). Die Asche meiner Mutter [Film]. Irland, USA.

Eine Rezension zum Buch finden Sie oben in der Rubrik Romane. Der Film hält sich nah an die Romanvorlage und gibt Episoden aus dieser wieder, ohne aber den Detailreichtum der Texte auch nur annähernd realisieren zu können. Wie auch im Buch werden die Geschehnisse aus der Perspektive des Kindes bzw. des Jugendlichen dargestellt. Zur Handlung von Wikipedia:

Brooklyn 1935: Margaret, das fünfte Kind der irischen Einwandererfamilie McCourt, stirbt sieben Wochen nach der Geburt. Verwandte schicken Geld für die Schiffspassage, damit Angela, ihr Mann Malachy und die Kinder Frank, Malachy, Eugene und Oliver nach Irland zurückkehren können. In Limerick, der Geburtsstadt Angelas, straft deren Mutter Mrs. Sheehan ihren aus Nordirland stammenden arbeitslosen Schwiegersohn mit Verachtung. Als er nach langer Zeit endlich Arbeit in einem Zementwerk findet, vertrinkt er am ersten Abend den Lohn, versäumt deshalb die zweite Schicht und wird gleich wieder entlassen.

Die Familie haust im oberen Stockwerk in einem abbruchreifen Haus, das sie „Italien“ nennen. Im Erdgeschoss, „Irland“ genannt, steht bei Regen das Wasser zentimeterhoch. Die Toilette steht im Freien und wird von allen Anwohnern der Straße benutzt. Vater Malachy McCourt ist zu stolz, um die von Fuhrwerken auf die Straße gefallenen Kohlenstücke aufzusammeln, aber seine Frau Angela tut es. Sie erbettelt auch Essensreste von der Kirche und Almosen von der Wohlfahrt. In ihrer Verzweiflung leiht sie sich sogar zu Wucherzinsen etwas Geld von Mrs. Finucane.

Die Zwillinge Oliver und Eugene sterben trotzdem an Entkräftung. Angela bekommt noch zwei weitere Kinder. Die beiden jüngsten Söhne werden auf die Namen Michael und Alphie getauft. Frank, der Älteste, wird bei der Firmung ohnmächtig. Im Krankenhaus wird Typhus diagnostiziert, was Frank knapp überlebt. Da er dadurch jedoch zwei Monate der Schule fernbleibt, wird angeordnet, dass er die fünfte Klasse wiederholt. Erst als er einen brillanten Aufsatz vorlegt, darf er in seine bisherige Klasse zurückwechseln. Angesichts seiner literarischen Fähigkeit legt ihm der Schulleiter nahe, nach Amerika auszuwandern, wo er etwas werden könne.

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Kaurismäki, A. (1990). Das Mädchen aus der Streichholzfabrik [Film]. Finnland/Schweden.

Ein typischer Film des Regisseurs Aki Kaurismäkis: lakonisch, hoffnungslos, bildmächtig und sozial kritisch. Iris arbeitet am Fließband und finanziert mit ihrem kargen Lohn Mutter und Stiefvater ein bequemes, konsumorientiertes - Nikotin, Wodka, Essen, Fernsehen - Leben. Sie erledigt den Haushalt, geht einkaufen, kocht und schläft auf dem Sofa. Sie ist genügsam, gleichmütig, ein Mauerblümchen, welches niemand sieht. Die einzigen Zuwendungen, die sie von den Eltern erhält, sind kaltes Schweigen und böse Blicke. Als sie schwanger wird, lehnt der Mann sie und das ungeborene Leben brüsk ab. Jetzt endlich wird Iris wütend, schreitet zur Tat und tötet.

Selbstverständlich ist das fiktive Handeln der Antiheldin Iris in der wirklichen Welt keine Lösung. Doch die Geschichte symbolisiert auf der übertragenen Ebene, dass Menschen manchmal alles aus ihrem Leben rigoros herauswerfen müssen, was sie kaputt macht, um die Schieflage ihres verletzten Selbstwerts geradezurücken und Freiheit und Würde wiederherzustellen.

podcast wdr 5

Janssen. L.M. (2023). Co-Abhängigkeit. Mitgefangen in der Sucht des anderen [Radio]. Köln: WDR 5.

Die Journalistin Laura Mareen Janssen hat für WDR 5 einen Podcast zum Thema Co-Abhängigkeit erstellt. In dem Feature kommen die beiden selbstbetroffenen Expertinnen Chandika Loh und Jil Rieger und auch ich als Psychotherapeut zu Wort. Frau Janssen hat die Inhalte der drei Interviews dramaturgisch so kunstvoll miteinander verwoben, dass ein informatives, umfassendes und gut zugängliches Bild zum Thema entsteht, welches gleichermaßen Betroffene, Fachleute als auch am Thema Interessierte anspricht. Rundum gelungen und hörenswert, wie ich finde! Aus der Anmoderation des Radiobeitrags:

Co-abhängige Menschen sind in der Regel Kinder, Partner:innen oder Freunde von Suchtkranken. Viele von ihnen leiden sehr unter dem Miterleben der Sucht und nicht selten führt das zu gesundheitlichen Schäden, berichtet Laura Mareen Janssen.
Einen Menschen lieben, der suchtkrank ist. Chandika Loh und Jil Rieger haben das beide erlebt. Bei Jil war es die erste große Liebe mit Anfang 20. Chandika heiratet ihren Partner und bekommt 2 Kinder. Das war 1985. 37 Jahre liegen zwischen den Erfahrungen der beiden. Und doch gibt es da diese dunklen Momente im Zusammenleben mit ihren Partnern, die beide kennen: die emotionalen und auch körperlichen Übergriffe, die mit jedem Konsum normaler werden. Und auch das Hoffen, dass alles besser wird, wenn man das Suchtproblem des anderen in den Griff bekommt.

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deutschlandfunk

Rebmann, S. (2021). Flucht vor alkoholkranken Eltern. "Und dann öffnete sich die Welt für mich" [Radio]. Köln: Deutschlandfunk.

Utz Dräger vom Deutschlandfunk im Gespräch mit Plus Eins Autorin Sophie Rebmann, die die Geschichte von Emilia erzählt: "Emilia wächst mit einem alkoholkranken, gewalttätigen Vater auf. Als auch die Mutter zu trinken beginnt, ist sie auf sich allein gestellt. Emilia will ihr Elternhaus hinter sich lassen, aber kann sich nur schwer lösen. Doch irgendwann gelingt es... Bei Plus Eins erzählt Sophie Rebmann, wie Emilia es schafft, sich in einem langwierigen Prozess endlich vom Schatten der Eltern zu befreien. Es ist eine Geschichte über die Flucht aus den Fesseln der Kindheit und den starken Überlebenswillen einer Frau." (Plus Eins, 22.10.2021)

Es wird mit viel Sensibilität und liebevollen Verständnis die "normale", schreckliche Geschichte eines Kindes aus einer Suchtfamilie erzählt, wie sie Millionen Kinder aktuell in Deutschland erfahren. Unbedingt hörenswert, doch nichts für schwache Nerven!

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deutschlandfunk

YouTube-Kanal von NACOA

Lunchtime-Interviews mit dem Zeitzeichen-Redakteur Stephan Kosch und der Reporterin und Autorin Christina Rubarth: Jede Woche ein neues Gespräch über das Aufwachsen in suchtbelasteten Familien. Beispiele aus den Interviews: "Hilfe bei Verdacht auf Gewalt gegen Kinder - Interview mit der »Medizinischen Kinderschutzhotline«, "»Mit der Axt hinter uns hergerannt« - Interview mit Christina, Tochter eines alkoholkranken Vaters.", Die Mutter hinter der Tür - Interview mit der Sozialarbeiterin und Buchautorin Mira Galle.

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filmplakat trinkerkinder

Brunner, U. (Reg., 2020). Trinkerkinder. Die langen Schatten alkoholkranker Eltern [Film]. Schweiz.

Eine Dokumentation über das Schicksal von (erwachsenen) Kindern aus Suchtfamilien. Ausgehend von der persönlichen Geschichte der Autorin Ursula Brunner und anhand verschiedener betroffener Personen wird in dem Schweizer Film das Schicksal und die Not der Trinkerkinder und ihre Schwierigkeiten und Möglichkeiten, sich zu befreien, veranschaulicht. Erwachsene und noch jugendliche Betroffene kommen in dem 49-minütigen Beitrag selbst ausgiebig zu Wort, erzählen von ihren tragischen Erfahrungen und den Auswirkungen auf ihr Leben.

Die Kamera bewegt sich im Lebensalltag der Betroffenen und hält doch Abstand. So sind die Ausführungen zwar zugewandt, bleiben aber nüchtern. Diese Sachlichkeit des Films erinnert mich an den dissoziativ gefühlsfernen Selbstschutz der Betroffenen, ihre gleichförmig unaufgeregte Stimme und ihre unbewegte Mimik und Gestik, wenn sie in der Therapie über die Schrecknisse der Kindheit erzählen. Dadurch wird die Dokumentation ihrem unprätentiösen Anspruch, über das Thema zu informieren, durchaus gerecht.

deutschlandfunk

Ruparth, C. (2020). Das Leiden der Angehörigen. Wie Alkoholsucht Familien zerstört [Radio]. Köln: Deutschlandfunk.

Aus der Ankündigung: "Wenn es um Alkoholismus geht, werden Angehörige selten gehört. Meist steht die Sucht und damit der Süchtige im Mittelpunkt. Hier soll es andersherum sein: Die, deren Leiden oft übersehen wird, bekommen eine Stimme." Die Autorin Christina Rubarth hat mit dem Feature den Deutschen Sozialpreis 2021 in der Sparte Hörfunk gewonnen.

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Es gibt jede Menge Songs, die Suchtmittelkonsum sowohl verherrlichen als auch problematisieren, z.B. "Alkohol" von Herbert Grönemeyer. Musik, in denen die Sorgen, Not und Sehnsucht der Angehörigen im Mittelpunkt stehen, ist rar. Deswegen sind die, die es gibt, besonders wertvoll. Folgend eine subjektive Auswahl von Liedern und Alben, welche ich mit dem Angehörigenthema assoziiere und auch in der Therapie einsetze.

Lieder

Sarah Lesch (2024). Wenn er nicht trinkt. Gute Nachrichten [CD].
Ich mag es gern, wenn er morgens schon auf ist und mir liebevoll Kaffee ans Bett bringt, weil er sowieso schon an der Theke war, weil er nicht schlafen kann, wenn er nicht trinkt.
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cover luna mwezi

Luna Mwezi (2020). Ich gebe nicht auf. Platzspitzbaby Titelsong [Film].
Meine Flügel verwundet | Ohne Kompass im Sturm | Halt mich fest an den Sternen | Um mich Nachts nicht zu verliern | Und ich schaue auf | Im Wind kreisen Schwalben | Ein Leuchten im Meer | Bin immer noch da | Und solang ich zu mir steh | Und die Welt sich dreht | Geb ich nicht auf | Ich gebe nicht auf
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Duo EigenArts (2020). Albatros. Dennoch [CD].
Nicht reden, nicht fühlen, niemandem trauen. Es ist doch nichts... Mama und Papa, auf Alkohol formatiert. Es ist doch nichts... Kindergefühle, wie Müll kompostiert. Es ist doch nichts. - Albatros, nimm mich mit auf deinen Schwingen. Flieg mich hinauf aus grauen Mauern in warmen Sonnenschein.
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Jacques Palminger & 440 Hz Trio (2016). Es ist mein Leben. Jzz & Lyrc [CD]. Hamburg.
Also, lebe dein Leben und lass mich los. Kümmere du dich um deine Angelegenheiten und lass meine in Ruhe... Deshalb hör auf, mich zu belästigen, hör auf, mich zu bedrängen, hör auf, mich anzuschreien, denn es ist, es ist mein Leben.
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Voodoo Jürgens (2016). Alimente. Ansa Voar [CD]. Österreich: Lotterlabel.
... des hod si für mi erledigt hapo, i wü von dem nix mehr hean. du kaunnst mi gern hobn und wem anan anrean. i hob a engels geduld und hob ma deine geschichtln lang gnua augheart. i hobs in guadn probiert... hod ollas nix brocht und sche langsam föd ma die kroft.
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cover max mutzke

Max Mutzke (2015). Hier bin ich Sohn. Max [CD]. New York: Columbia Records.
Es gibt so vieles, was ich kann, ich bin Vater, ich bin Mann, doch hier bin ich Sohn. Mit meiner Wut und meiner Angst, die nur du mir nehmen kannst, will ich dich verschonen.
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Marius Müller-Westernhagen (2002). Was Du... In den Wahnsinn [CD]. Europa: Warner Music.
Ich hab auch keinen Vater mehr. Er soff sich in sein Grab. Als er noch lebte, liebte ich ihn. Das ist, glaub ich, normal. - Was du fühlst ist nicht immer, was du fühlst. Was immer du auch fühlst.
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Reinhard Mey (1996). Kati und Sandy. Leuchtfeuer [CD]. Berlin: Hansa-Tonstudio.
Sandys Vater hängt im Sofa, schon am Mittag breit. Und dann kommen seine fiesen, ekeligen Sprüche. Und Mutter hört die lustigen Musikanten in der Küche. Manchmal ist alles so sinnlos, hat alles keinen Zweck. Manchmal sehnen sich die beiden weit, weit weg.
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Alben

cover album outside child

Allison Russell (2021). Outside Child. Chicago: Fantasy Records.

cover album cellar children

Mirel Wagner (2014). When the Cellar Children See the Light of Day. Finnland: Kioski.

Fotoausstellung Gesicht zeigen!

Der Fotograf Hauke Dressler und der Journalist Stephan Kosch haben die Fotowanderausstellung Gesicht zeigen! erstellt. Das Projekt wurde durch die KKH Kaufmännsche Krankenkasse gefördert. Im Fokus von Fotos und Texten steht die Resilienz von erwachsenen Kinder aus Suchtfamilien. Aus der Beschreibung der Ausstellung von der Website von NACOA Deutschland:

Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen zehn unterschiedliche erwachsene Menschen, darunter eine junge Tänzerin, ein Priester, ein stolzer weiblicher Fußballfan, eine FASD-Betroffene, ein prominenter Sänger, ein diverser TV-Moderator. Dazu weitere Männer und Frauen unterschiedlichen Alters. Sie teilen eine gemeinsame Erfahrung: eine Kindheit im Schatten der elterlichen Sucht. Das bedeutet in vielen Fällen Vernachlässigung, Überforderung, Übergriffe, manchmal auch Gewalt. Für Kinder aus suchtbelasteten Familien geht es ständig um Leben und Tod. Doch diese zehn Menschen haben nicht nur überlebt, sondern sind zu beeindruckenden Persönlichkeiten geworden. Was hat sie stark gemacht?

Dieser Frage geht die Ausstellung auf 24 Roll-Ups nach und zeigt die unterschiedlichen Antworten: Tanz, Musik und Malerei als Möglichkeit, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken; die biographische Arbeit als reflektierender Rückblick in das eigene Leben; Religion und Spiritualität als Kraftquelle; eine tragende Gemeinschaft im Sport oder in einer der wenigen Gruppen für betroffene Kinder und Jugendliche; die Geborgenheit einer Ersatzfamilie; die Liebe zu sich selbst.

Die Ausstellung kann gegen eine Schutzgebühr ausgeliehen werden. Hinweis: Das Foto von dem Aufsteller mit Max Mutzke habe ich auf der 20-jährigen Jubiläumsfeier von NACOA geschossen.

» Ausstellung Gesicht zeigen!
» Website Fotograf

Sturm, C. (2019). Sucht vergeben. Berlin: Neopubli.

Das Buch ist das Ergebnis der mutigen und feinfühligen Kooperation der Fotografin Christa Sturm und einer Angehörigengruppe Suchtkranker. Durch die Kombination von Foto und Poesie wird der Angehörigenproblematik bewegend und eindrucksvoll Gesicht und Stimme gegeben. In der Therapie nutze ich die Fotos, um Klienten einen Spiegel vorzuhalten.

» Website der Künstlerin

Nachstehen eine kleine Auswahl meiner Favoriten aus Belletristik, Poesie, Philosophie, Musik und Film, die zwar nicht angehörigenzentriert sind, die ich dennoch gerne für co-abhängig Betroffene einsetze, um ihre starren Erlebens- und Verhaltensmuster herauszufordern und mehr Selbstmitgefühl, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung anzuregen.

Michael Kunze & Silvester Levay (1992). Elisabeth. Das Musical Theater an der Wien.
Was geht es dich an, was ich riskier, denn ich gehör nur mir.
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Glaubensbekenntnis, Bodo Rulf
Dieses Gedicht setze ich gerne ein, um das negative Selbstbild, die Selbstzweifel, Selbstablehnung und Schuldgefühle von Angehörigen zu verstören und eine annehmende Alternative anzubieten. Meine Lieblingsstelle lautet: "Ich glaube daß es wichtig ist zu mir zu halten und mich anzunehmen auch und gerade dann, wenn ich mich absolut nicht leiden kann." Herr Rulf hat mir erlaubt, Ihnen das Gedicht zur Verfügung zur stellen. Herzlichen Dank dafür!
» Glaubensbekenntnis

Bieri, P. (2013). Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. München: Carl Hanser.
Der Autor definiert Würde als eine Lebensform und er kommt immer wieder auf Sucht zu sprechen, um zu verdeutlichen, wie Suchtkranke ihre Würde und die Würde anderer Menschen mit Füßen treten. Beri bietet nicht weniger als eine philosophisch-psychologische Anleitung, wie gedemütigte Menschen ihre Selbstständigkeit und Selbstachtung wiedergewinnen können.

Ernaux, A. (2020). Die Scham. Berlin: Suhrkamp. (Die französische Orginalausgabe erschien 1997 unter dem Titel La honte bei Editions Gallimard, Paris.)
Vom Klappentext: "Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux seziert es an sich selbst, indem sie weit zurückschwingt in eine eigentlich unfassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will." Ernaux analysiert wie die Scham über die Scham zu einem Gefängnis in uns selbst wird.

Die Lösung, Annett Louisan
Ein leichter, provokativ humorvoller Schlager über den sekundären Krankheitsgewinn, also darüber, warum Menschen an Problemen festhalten und nicht an Lösungen interessiert sind.

Aufhebung, Erich Fried
Ein wunderbares Gedicht darüber, dass Trost im Unglück Glück bedeutet.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit, Ingrid Wuthe
Eine kleine Erzählung über die Angst und Flucht der Menschen vor der Trauer und die eigentliche Funktion dieses zarten Gefühls.
» Märchen

Pavane pour une infante défunte, Maurice Ravel
Ravel soll das Stück auch "Pavane für eine verstorbene Prinzessin" genannt haben. Das Stück regt Trauer an, z.B. um Trost über eine unglückliche Kindheit zu finden oder auch Abschied von prinzessinnenhaften Idealen zu nehmen.

Eine Geschichte von Gott, Herman van Veen
Eine wunderbare Anektode darüber, wo wir "Gott" finden: Auf einer Bank in der Sonne in uns selbst, und eine Parabel auf das, worauf es im Leben eigentlich ankommt: Atmen, Licht, Blumen, Wasser, Sonne, Gelassenheit, den Augenblick genießen...

Camus, A. (2023). Der Mensch in der Revolte (35. Aufl.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. (Die Originalausgabe erschien 1951 unter dem Titel "L´Homme révolté" bei Librairie Gallimard, Paris.)
Sucht und Co-Abhängigkeit können auch gemäß Camus als "Terror" oder "Tyrannei" verstanden werden. Das Buch des Nobelpreisträgers bietet eine Metaphysik der Verweigerung und Befreiung (S. 27): "Gleichzeitig mit dem Widerwillen gegen den Eindringling enthält jede Revolte eine völlige und unmittelbare Zustimmung des Menschen zu einem Teil seiner selbst."

Filme

Und täglich grüßt das Murmeltier mit Bill Murray (1993)
Was kann man tun, wenn man feststellt, dass das Leben eine endlose Wiederholung desselben Musters ist? Die Filmkomödie gibt vielschichtige Antworten.

Grüne Tomaten, Jon Avnet (1991)
Es gibt viele Filme darüber, wie sich Frauen aus gesellschaftlichen Korsetts befreien. Dieser Spielfilm ist besonders ansprechend, weil die Protagonistin, Evelyn Couch (gespielt von Kathy Bates), eine normale, spießige, beleibte Hausfrau in den Wechseljahren ist, die es allen versucht recht zu machen, aber selbst immer zu kurz kommt. Eine feinfühlig erzählte und modellhafte Geschichte darüber, wie unterdrückte Frauen mithilfe von Mut, Humor, Hammer und Pfanne ihre Freiheit (gegenüber einem normierenden, bevormundenden, gewalttätigen und selbstsüchtigen Patriachat) erkämpfen und verteidigen.

Fremder Feind (Alternativtitel: Krieg), Rick Ostermann (2017)
Das Filmdrama empfehle ich manchmal, wenn bei Angehörigen die Situation sehr zugespitzt ist und es darum geht, den Selbsterhalt und das eigene Leben vor dem zerstörerischen Sog der Sucht zu retten. Der Protagonist Arnold, facettenreich von Ulrich Matthes gespielt, verliert fast alles, was in seinem Leben wertvoll ist, auch weil er es aus pazifistischen Idealen ablehnt, sich zu wehren. Schicksalsergeben bis über jede Schmerzgrenze hinweg nimmt er alles hin. Erst als es um seine nackte Existenz gegen einen unsichtbaren Feind geht, beendet er sein gewohnheitsmäßiges Zaudern und beginnt, zu kämpfen.