(Co-)Abhängige Bindungen sind verkorkst, verstrickt und verknotet.

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Bindung und Trauma

Im Frühling 2023 lud die Fachstelle Sucht des Diakonischen Werkes Herford zu einer Fachtagung zum Thema "Kinder aus suchtbelasteten Familien" ein. Der Titel der Tagung lautete: "Papa und sein Monster" und Anlass war die Siegelverleihung als offizieller Fitkids-Standort. Fitkids Wesel bietet Organisationsentwicklungen für Suchtberatungsstellen an, von Sucht betroffene Familien systemisch zu unterstützen (» Fitkids). Im Rahmen der Tagung durfte ich über "Bindungsauffälligkeiten des Suchttraumas" referieren. Den Vortrag können Sie in leicht angepasster Form nachstehend einsehen.

Kinder kommen zwar hilfsbedürftig, aber nicht ohne Fähigkeiten zur Welt, welche sie ab dem ersten Tag nutzen. Der wichtigste Fähigkeitskomplex ist das Bindungssystem. Es steuert Verhaltensweisen, das ebenfalls auf der Elternseite vorhandene Bindungssystem anzusprechen, was metaphorisch als emotionales Band bezeichnet wird. Dieses sorgt dafür, dass Eltern und Kinder Nähe herstellen und halten können und die Kinder durch die Eltern geschützt und versorgt werden. Bindung spielt in jeder Art von Beziehung eine wichtige Rolle, im Kindesalter ist sie überlebenswichtig.

Das zentrale Konzept der Bindungstheorie ist das der Bindungsstile. Diese spiegeln die erfahrene Beziehungsqualität zwischen einer Person und den Bezugspersonen wieder und es gibt vier Stile. Der Idealfall ist der sichere Bindungsstil. Sicher gebundene Kinder haben die Erfahrung mit ihren Eltern gemacht, dass diese verfügbar und responsiv sind. Responsivität bedeutet, dass die Bezugspersonen feinfühlig auf emotionale Äußerungen von Kindern eingehen und deren Bedürfnisse angemessen befriedigen. Sicher gebundene Kinder haben gelernt, positiv und moduliert zu anderen in Kontakt zu treten und ihre Gefühle und Bedürfnisse in die Beziehungsgestaltung angemessen einzubringen. Sie haben ein gutes Selbst- und Sozialvertrauen.

Darüber hinaus sind drei unsichere Stile bekannt: der ängstlich ambivalente, der ängstlich vermeidende und der desorganisierte Stil. Der ambivalente und der vermeidende Stil sind wie der sichere Stil durchaus organisiert. Auch hier sind die Eltern im Grunde genommen verfügbar und responsiv, doch es gibt diesbezüglich Einschränkungen. Ambivalent gebundene Kinder haben Eltern, die sich in der Beziehungsgestaltung inkonsistent verhalten. Über weite Strecken versorgen sie die Kinder liebevoll, doch manchmal sind sie brüsk, abweisend oder abwertend. Die Eltern verhalten sich wechselhaft und die Kinder verhalten sich ambivalent, weil sie nie wissen, woran sie gerade sind.

Kinder mit vermeidendem Stil haben ebenfalls Eltern, die sie im Grunde versorgen. Aber diese Eltern sind dabei emotional distanziert bzw. kühl. Sie lassen die Spontaneität von Kindern ins Leere laufen. Sie invalidieren die emotionalen Äußerungen der Kinder, z.B. indem sie die kindliche Freude ignorieren, das Weinen als "Heulen" abwerten oder die Angst vor Gespenstern als unbegründet abtun. Die Kinder emotional distanzierter Eltern lernen, dass sie Kontakt zu den Eltern nur herstellen können, indem sie die Eltern nicht überfordern und auf emotionale und körperliche Intimität verzichten.

Der desorganisierte Stil betrifft nur eine kleine Gruppe von Kindern. Dieser Stil ist lange nicht erkannt worden, weil er sich in der Gruppe der sicher gebundenen Kinder "versteckte". Eltern desorganisiert gebundener Kinder vernachlässigen diese erheblich und fortwährend, z.B. indem sie nie Annahme und Liebe vermitteln, indem sie die Kinder alleine lassen oder indem sie keinen Raum und Rückhalt bieten, die Welt spielerisch zu erkunden. Und die Eltern verhalten sich übergriffig. Sie missbrauchen die Kinder emotional oder sexuell oder tun ihnen psychisch oder physisch Gewalt an. Vernachlässigung und Übergriffigkeiten verstärken sich gegenseitig in den schädigenden Auswirkungen.

Wechseln wir nun den Blickwinkel und wenden wir uns dem Thema der Kinder aus Suchtfamilien zu. Es gibt einen entscheidenden biografischen Faktor, anhand dessen man psychische Störungen sicher vorhersagen kann. Er ist so trivial, dass wir ihn leicht übersehen. Kinder, die vier oder mehr Belastungen und Traumata dauerhaft in der Kindheit ausgesetzt sind, entwickeln später höchstwahrscheinlich psychische Störungen. Kinder aus Suchtfamilien sind nach meinen Recherchen die größte Gruppe in unserem Land, auf die dieses multiple Risiko zutrifft. In dem Fachbuch "Die langen Schatten der Sucht" beschreiben wir (Flassbeck & Barth, 2020) insgesamt 23 Belastungen und Traumata, denen Kinder aus Suchtfamilien ausgesetzt sein können. Ich habe KlientInnen, die sogar alle 23 davon erfahren haben. Das, was in unserer Nachbarschaft tagtäglich geschieht, ist so schrecklich, dass wir es kaum fassen können.

Aufgrund von epidemiologischen Schätzung wird davon ausgegangen, dass die Kinder aus Suchtfamilien ein 50 bis 60 Prozent hohes Risiko haben, infolge der dramatischen Biografie eine Abhängigkeits- oder eine andere psychische Störung zu entwickeln. Diese betroffenen Kinder können in zwei gleich große Gruppen unterteilt werden, die zudem einem Gendereffekt unterliegen.

30 Prozent der Kinder aus Suchtfamilien entwickeln in der Jugend und Adoleszenz eigene Suchtstörungen; dies betrifft eher die Söhne. Die Weitergabe der abhängigen Problematik wird als süchtige Transmission bezeichnet und diese ist gut erforscht. Wir wissen beispielsweise, dass die Gruppe schon in der Kindheit verhaltensauffällig ist und sinnbildlich über Tische und Bänke geht. Die verhaltensauffällige, suchtgefährdete Gruppe ist in Fachkreisen wohlbekannt und für sie gibt es mittlerweile präventive Hilfen.

Darüber hinaus existiert eine zweite Gruppe, welche bis heute übersehen und vergessen wird. Weitere geschätzte 30 Prozent der suchtbelasteten Kinder entwickeln andere psychische Störungen. Im Gegensatz zur verhaltensauffälligen Gruppe, welche externalisierende Auffälligkeiten aufweist, entwickelt diese Gruppe sogenannte internalisierende Auffälligkeiten. Die stillen Kinder, wie Frau Barth und ich sie nennen, verhalten sich überangepasst, also auffällig unauffällig.

Die Gruppe der stillen Kinder ist unerforscht und ihr Hilfebedarf entsprechend unerkannt. Die Betroffenen fallen zwischen die Hilfenetze von Prävention, Jugendhilfe, Beratung und Therapie. Die psychisch gefährdete Gruppe besteht überwiegend aus den Töchtern der Suchtfamilien. Diese Mädchen respektive Frauen zeigen eine Tendenz, sich später im Leben suchtkranke Partner zu suchen, also einen co-abhängigen Lebensweg einzuschlagen und die selbstaufopfernden Neigungen wiederum an ihre Töchter weiterzugeben. Wir nennen dies die co-abhängige Transmission.

Die übrigen 40 Prozent der Kinder aus Suchtfamilien zeichnen sich laut der aktuellen Studienlage durch eine hohe Resilienz und das Beschreiten eines geordneten Lebensweges aus. Es sind Kinder, die besondere soziale oder persönliche Ressourcen haben, also z.B. eine liebevolle Großmutter, die sie tröstet, einen Freund, bei dem sie ihre Freizeit verbringen, oder ein Hobby, welches sie ausfüllt. Es sind also die Kinder, die Glück im Unglück haben.

Lassen Sie uns jetzt die beiden Themen Bindungsstile und Suchtfamilie miteinander verknüpfen. Wie prägen sich die drei unsicheren Bindungsstile in der verhaltensauffälligen, suchtgefährdeten Gruppe aus? Exemplarisch möchte ich ausschließlich auf die Konsummuster in Abhängigkeit vom Bindungsstile eingehen; weitere psychische und Verhaltenauffälligkeiten sind analog gestaltet. Nach meinen Erfahrungen stehen Bindungsstil und Konsummuster in einem tendenziellen Zusammenhang.

Wie beeinflusst der ambivalente Stil den Konsum? Der Konsum und die Konsummenge sind abhängig davon, ob die Person Probleme, Stress oder Konflikte hat. Der Konsum dient der Regulation stressbedingter, überschießender Emotionen. Starke Gefühle der Angst, Trauer oder Wut werden durch den Rausch gedämpft. Im Konfliktfall kann der Konsum auch die Funktion haben, andere zu bestrafen, welche für die Probleme, den Stress oder die Konflikte verantwortlich gemacht werden. Früher hätte man die Betroffenen als "Erleichterungstrinker" oder auch "Quartalstrinker" bezeichnet. Wenn es den Personen mit ambivalentem Stil allerdings gut geht, sind diese nicht selten in der Lage, Abstinenz zu wahren oder sogar kontrolliert zu konsumieren.

Der vermeidende Stil hingegen äußert sich in einem gleichförmigen Konsum. Früher wurden die Betroffenen als "Spiegeltrinker" bezeichnet. Der Konsum dient einerseits dazu, sich dauerhaft emotional herunterzuregulieren, um im Lebensalltag gleichmütig zu funktionieren. Andererseits ist der Rausch eine Strategie, sich vom eigenen emotionalem Erleben und den Wünschen und Erwartungen anderer zu distanzieren, um die eigene Person und die Beziehungen zu anderen auszuhalten.

Der desorientierte Stil bricht sich in einem exzessiven Konsum Bahn. Personen mit diesem Stil konsumieren, sowohl um seelische Schmerzen zu betäuben als auch um sich zu bestrafen, zu schädigen und Schmerzen zuzufügen. Der Konsum kann darüber hinaus eine suizidale Note haben oder er dient dazu, angestaute Aggressionen zu enthemmen.

Um die Auswirkungen der verschiedenen Bindungsstile auf die Gruppe der gefährdeten bzw. psychisch kranken Gruppe an Kindern aus Suchtfamilien abzubilden, müssen wir ein weiteres Konzept einführen, nämlich das der Schemata. Schemata sind dissoziierte Erlebens- und Verhaltensmuster und werden in einer dauerhaft belasteten und traumatischen Situation gelernt. Metaphorisch werden sie auch als Falle, Gefängnis oder Film bezeichnet. Wenn eine Person in ihrem Film ist, fühlt sie sich gefangen in sich und abgetrennt von anderen. Das schematische Erleben und Verhalten einer Person läuft quasi automatisch ab. Die Person ist in ihrer Aufregung und Not nur schwer von außen zu erreichen und zu beruhigen.

Schemata sind die inhaltliche Ausgestaltung von Bindungsstörungen auf der Erlebens- und Verhaltensebene. Sie dienen dazu, zu überleben und das Beste aus einer schlimmen Situation zu machen. Sie sind also in einer von Vernachlässigung und Feindseligkeit geprägten Kindheitsrealität höchst funktional, stehen allerdings den Betroffenen im Erwachsenenalter dysfunktional im Weg. Der dauerhafte "Autopilot des Alarm- oder Krisenmodus" verhindert, dass die Betroffenen umlernen können. Die schematische Einengung sorgt unbewusst zudem dafür, dass sich die Betroffenen im Erwachsenenalter wieder eine Realität schaffen, die ihren biografisch traumatischen Erfahrungen entspricht. Suchttraumatisierte Frauen suchen sich z.B. suchtkranke Partner und bestätigen dadurch ihre Lernerfahrungen. Die Muster verfestigen sich so immer weiter. Die sogenannte posttraumatische Reinszenierung ist ein tragischer Teufelskreis.

Mädchen respektive Frauen, die in der Kindheit durch eine Suchtfamilie traumatisiert wurden, sind gefangen in der unendlichen Pendelbewegung von Hoffnung und Enttäuschung. Die Betroffenen sind harmoniesüchtig. Sie ordnen den Prinzipien von Harmonie und Hoffnung alles unter. Sie passen sich an, stellen eigene Bedürfnisse hinter die Anderer, sorgen für die Menschen in ihrem Umfeld oder sogar darüber hinaus und opfern auf dem Altar der Selbstlosigkeit eigene Bedürfnisse, Wünsche und Interessen. Sie sind in ihrer Befindlichkeit stark abhängig davon, wie es anderen geht, leiden unter Minderwertigkeits- und Versagensgefühlen und suchen nach Bestätigung und Anerkennung im Außern.

Abgesehen davon, falls irgendetwas ihrem Harmoniestreben in die Quere kommt, können sie auch laut werden. Wenn der suchtkranke Elternteil oder Partner rückfällig wird, bricht es aus ihnen heraus und sie drohen mit der Trennung und anderem. Hernach allerdings entwickeln sie Schuldgefühle, weil sie meinen, sich gegenüber dem "armen Kranken" fehlerhaft und ungebührend verhalten zu haben. Diese Schuldgefühle sind der Kern ihrer Verstrickung.

Diesem Dilemma von persönlicher Verletztheit und moralischem Anspruch weichen sie aus, indem sie ihre Not herunterspielen: "Anderen geht es schlechter", und für die Rechte benachteiligter Menschen kämpfen. Sie setzen sich aufopferungsvoll für Suchtkranke, Kinder, Pflegebedürftige und alle anderen ein, die in ihren Augen hilfebedüftig sind und ungerecht behandelt werden. Frau Dr. Barnowski-Geiser hat dieses Muster trefflich durch die literarischen Figuren "Mutter Teresa", "Robin Hood" und "Superman" charakterisiert (Ratgeber "Vater, Mutter, Sucht", 2015). Durch ihren Einsatz holen sich die Betroffenen täglich die Dosis der Bestätigung, gebraucht zu werden, und bauen wieder berauschte Hoffnung auf, dass alles gut wird. Das seelische Pendel schlägt aufs Neue aus.

Zwei Beispiele dazu aus der Psychotherapie:

1. Eine Klientin erzählt in der Therapiesitzung aufgeregt, dass sich die junge Tochter vom Freund getrennt habe und mit anderen Männern rummache. Die Klientin kann nicht mehr schlafen und telefoniert täglich stundenlang mit der Tochter und ihrem Exfreund, um die beiden wieder zusammenzubringen.

2. Eine andere Klientin, Ende 20, ist sauer auf die Mutter, durch die sie parentifiziert wird. Sie ist wütend auf den Vater, der sie als erwachsene und eigenständige Person nicht anerkennt und sie als Frau abwertet. Und sie ist enttäuscht vom Partner, weil er nicht so für sie da ist, wie sie es sich wünscht. In der Therapie erzählt sie immer wieder von ihrer Wut. Sie weint stets dabei und sucht den Trost von mir als Therapeuten, den sie aber nicht annehmen kann, weil sie sich selbst als "Heulsuse" abwertet. Auf meine Intervention, wie sie als erwachsene Frau mit ihrer Verletztheit umgehen kann, geht sie nicht ein: "Denken Sie auch, dass ich zu sensibel bin?"

Betroffene, die einen vermeidenden Stil aufweisen, verhalten sich von außen betrachtet unspektakulär. Ihr Leben scheint wie ein ruhiger Strom durch die Landschaft zu mäandern. Im Privaten wie auch auf der Arbeit machen sie äußerlich stoisch ihren Job. Erlebens- und Verhaltensmuster der Gefühlsferne, der Selbstverleugnung, der Entfremdung und der Genügsamkeit helfen ihnen, in der Befindlichkeit stabil zu bleiben und eine hohe Beständigkeit im Leben zu realisieren. Auch treiben sie nicht selten übermäßig Sport oder arbeiten unentwegt, um sich körperlich und emotional auszupowern.

Doch innerlich langweilen sie sich und fühlen sich wie eine leere Hülle. Und noch tiefer, versteckt im dunkelsten Verlies ihrer Seele kocht das Magma der unterdrückten Gefühle und Bedürfnisse. Ihre Emotionen haben sie so gut versteckt, dass sie diese nicht einmal selbst wahrnehmen können. Wenn ihnen jemand zu nahe kommt, ihnen auf die Schliche kommt, dann neigen sie dazu, den Kontakt abrupt zu unterbrechen oder gleich die Beziehung vorsichtshalber zu beenden.

Zwei Fallbeispiele des vermeidenden Stils:

1. Eine Klientin weint. Als ich ihr spiegele, dass sie traurig ist, fragt sie erstaunt: "Wie kommen Sie darauf?" Als ich ihre Tränen anspreche, die reichlich ihre Wangen herunterlaufen, antwortet sie: "Erstaunlich! Sie sehen Dinge, die ich nicht fühle."

2. Eine weitere Klientin lächelt immerzu, als sie von den biografischen und aktuellen Belastungen erzählt. Als ich sie frage, ob sie lächelt, wenn es wehtut, lächelt sie noch mehr und nickt nur. Die Klientin hat gerade mit dem Partner eine Familie gegründet. Er ist viel unterwegs, kifft und lässt sie allein. Sie erzählt, dass sie fast täglich mit dem Säugling zu den alkoholkranken Eltern fährt: "Ich kann nur dort zur Ruhe kommen." Sie sei auch als Kind ruhig und pflegeleicht gewesen. In einer weiteren Sitzung bricht die unterdrückte Wut aus ihr heraus. Den darauf folgenden Termin sagt sie - angeblich wegen Corona - ab und kommt nicht wieder.

Der desorganisierte Stil ist schwieriger zu beschreiben, weil er sehr widersprüchlich ist. Die desorganisierten Kinder aus Suchtfamilien mit komplexer PTBS können sich wochen- oder monatelang depressiv ins Bett zurückziehen. In Beziehungen verhalten sie sich unterwürfig und laden andere zu Grenzüberschreitungen und Übergriffigkeiten ein, weil sie denken, dass sie es nicht anders verdienen. Zwischenmenschliche Intimität können sie nicht genießen, es verspannt sie so sehr, dass sie Bauch- oder Muskelschmerzen bekommen. Sie leiden an schmerzhaften somatoformen und psychosomatischen Beschwerden, z.B. Spannungskopfschmerzen, Muskelverspannungen oder Magen- und Darmstörungen.

Aus Selbsthass beschimpfen sie sich unentwegt und sie bestrafen sich, indem sie sich seelisch oder körperlich Schmerzen zufügen. Doch die innere Dramatik steht im Widerspruch zum äußeren, unauffälligen Verhalten. Nach außen verhalten sie sich angepasst und normiert. Sie beherrschen die Kunst, sich unsichtbar zu machen, zu schweigen und nicht aufzufallen. Aufgrund ihres normgerechten Verhaltens werden sie fälschlicherweise in den sicheren Stil eingeordnet.

Drei Beispiele desorganisierten Verhaltens:

1. Eine Klientin beginnt am ganzen Körper, zu zittern, als ich ihre Mutter Alkoholikerin nenne. Sie ruft panisch: "Das dürfen wir nicht sagen. Vielleicht tun wir ihr Unrecht!"

2. Eine andere Klientin besucht regelmäßig ihre Familie, obgleich sie sich dort immerzu dieselben Vorwürfe und Abwertungen abholt und parentifiziert wird. Hernach fühlt sie sich stets taub und gelähmt.

3. Eine letzte Klientin kann nicht weinen, obgleich ihr danach zumute ist. Am Ende der Therapiestunde offenbart sie, dass die alkoholkranke Mutter sie fast täglich besucht und darüber jammert, dass sie ihr eine schlechte Mutter ist. Als ich behutsam vorschlage, die Mutter hinauszuwerfen, erschrickt sich die Klientin: "Das darf ich nicht. Dann bringt sie sich um."

Lassen Sie uns ein letztes Mal den Blickwinkel wechseln: Anamnese, Diagnostik und Analyse sind in der Prävention, Beratung und Therapie nur Mittel zum Zweck. Eine gründliche Analyse dient dazu, eine bedarfsgerechte Hilfeleistung zu ermöglichen. Es ist unser eigentliches Anliegen. Vier zentrale Implikationen für die Behandlung möchte ich aus meiner bindungstheoretischen Problemanalyse ableiten.

Erstens: Kinder aus Suchtfamilien mit Bindungsstörungen benötigen Hilfemaßnahmen, die sich durch zeitliche und personelle Beständigkeit auszeichnen. In der Prävention sind Gruppenprogramme wie Trampolin oder auch Naturprojekte weit verbreitet. Diese bieten z.B. zehn Sitzungen über einen Zeitraum von einem halben Jahr an. Die Programme sind inhaltlich gut gemacht, doch der zeitliche Rahmen ist schlichtweg ungenügend: Es ist ein Wassertropfen auf einen heißen Stein. Positive Beispiele von Beständigkeit sind Patenschaften, SozialarbeiterInnen an Schulen, zu denen Betroffene jahrelang gehen können, um sich zu entlasten und Unterstützung zu erhalten. Oder auch Beratungen, Selbsthilfegruppen oder Psychotherapien, die einem langfristigen Prozess Raum geben.

Indem wir als Pädagogen, Berater oder Therapeuten das Im-Kreis-Drehen der Klienten immer wieder mitmachen, sie darin nicht alleinlassen, werden die dysfunktionalen Bindungsmuster bzw. Schemata nach und nach abgemildert. Steter Tropfen höhlt den Stein. Dies benötigt liebevolle und tolerante Beharrlichkeit.

Zweitens: Hilfen für betroffene Kinder sollten beziehungs- bzw. bindungsbezogen sein. Die Behandlung des Suchttraumas spielt sich vor allem auf der Beziehungsebene ab. Das ständige Bemühen des Therapeuten und auch das im Verlauf der Therapie wachsende Bemühen des Klienten um eine sichere, vertrauensvolle, offene und unabhängige Beziehung ist der Kernprozess der Therapie. Der Beziehungsgestaltung wird alles andere untergeordnet und nur dort, wo ein sicherer Bezug herrscht, können andere Methoden, Interventionen oder Techniken erfolgreich zum Einsatz gelangen. Deswegen sind bei einem gravierenden Posttrauma auch Einzelmaßnahmen zunächst Methode der Wahl. Nur sie bieten einen Schutzraum, in dem Selbst- und Sozialvertrauen nachreifen kann. Erst wenn dies ausreichend vorhanden ist, können Gruppenmaßnahmen eingesetzt werden.

Drittens: Hilfen sollten systemisch organisiert oder vernetzt sein. Das Kind - gleichgültig, ob es noch Kind oder schon erwachsen ist - ist Teil eines abhängigen Systems. Bei einem Kind, das noch Kind ist, haben wir als Pädagoge, Präventionskraft oder Therapeut keine Chance, wenn nicht mindestens eine Bindungsperson mitzieht und ebenfalls eine Entwicklung durchmacht. Ansonsten verpuffen die Therapieeffekte im belasteten und traumatischen Lebensalltag der Kinder und können sogar schädigende Wirkung haben. Wenn ein Kind beispielsweise in der Therapie lernt, offen zu reden, dann wird es infolgedessen Familiengeheimnisse verletzen. Tabubruch in Suchtfamilien wird bestraft. Wenn die Familie nicht ebenfalls lernt, die Problematik zu benennen und zu besprechen, muss die Intervention nach hinten losgehen.

Kindbezogene Maßnahmen sollten deswegen flankiert von weiteren Maßnahmen werden, die an anderen Stellen des Bezugssystems ansetzen. Im Idealfall sollte gleichzeitig auf das Kind, die co-abhängige Bezugsperson und die süchtige Bezugsperson durch Hilfemaßnahmen eingewirkt werden. Bei erwachsenen Kindern können wir hingegen in familiär aussichtslosen Fällen darauf hinwirken, dass die Betroffenen sich von ihrer Familie distanzieren und sich eine neue Familie schaffen. Eine Klientin drückte es mal wie folgt aus: „Meine Freunde sind meine Ersatzfamilie.“

Viertens: Hilfemaßnahmen für Kinder aus Suchtfamilien wie auch für andere Angehörige sollten solidarisch sein. Angehörigenzentrierte Solidarität ist dadurch gekennzeichnet, dass die Themen der Betroffenen in der Behandlung im Vordergrund stehen. Darüber hinaus beinhaltet es einen zweiten wichtigen Aspekt. Kinder aus Suchtfamilien sind Opfer von Vernachlässigung, Missbrauch und Gewalt. Sie entwickeln häufig Traumafolgestörungen, wie z.B. klassische oder komplexe PTBS. Solidarität in der Traumabewältigung ist parteiisch.

Solidarität mit Kindern bzw. Opfern klingt so selbstverständlich, ist es aber in der Praxis nicht. Es gibt einen Mangel an Angeboten für Kinder aus Suchtfamilien und für andere Angehörige. Dies ist seit ca. 40 Jahren bekannt. Und falls Angebote für Angehörige vorgehalten werden, stehen dabei gewöhnlich die Belange der Suchtkranken im Vordergrund. So werden Angehörige häufig co-therapeutisch genutzt, um auf die süchtigen Protagonisten Einfluss zu nehmen. In Bezug auf Selbsthilfe und Suchthilfe spreche ich deshalb von Systemversagen. Auch die Psychotherapie ist in Bezug auf die Kinder aus Suchtfamilie defizitär aufgestellt. Das Thema Abhängigkeit kommt in Studium und Therapieausbildung kaum vor. Allein die Jugendhilfe möchte ich positiv hervorheben. Sie ist das einzige System, welches nach meiner Erfahrung die Problematik der Kinder aus Suchtfamilien solidarisch im Blick hat.

Dort, wo Systeme versagen, sind Projekte, die es besser machen, umso wichtiger. Die Angehörigenberatung des Diakonischen Werkes in Herford und Fitkids sind in meinen Augen Leuchtturmprojekte, die eine Menge Solidarität ausstrahlen und auch die drei anderen genannten Qualitäten realisieren. Es ist wichtig, dass sich die wenigen vorbildhaften Projekte, die es gibt, vernetzen, um gemeinsam noch mehr Strahlkraft zu entwickeln.