Der zweite Mythos wurde im letzten Jahrzehnt offensiv von Suchtverbänden verbreitet. Er besagt, dass Angehörige nicht als krank stigmatisiert werden dürfen und nur Stress im Zusammenleben mit dem Suchtkranken haben. Ausschließlich das Stressmodell sei demnach für Angehörige anzuwenden.
Es ist sehr wohl richtig, dass viele Angehörige Stress haben, ohne psychisch zu erkranken. Die Verzerrung des Mythos versteckt sich in der Absolutheit der Bewertung. Es ist nämlich ebenfalls richtig, dass Angehörige als Folge des chronischen Stresses überdurchschnittlich häufig psychische Probleme entwickeln. Darüber hinaus beinhaltet das Zusammenleben mit einem Suchtkranken für viele Angehörige nicht ausschließlich Stress, sie sind mannigfaltigen Traumata ausgesetzt. Z.B. erfahren Kinder in Suchtfamilien oftmals über viele Jahre tagtäglich Vernachlässigung und Übergriffigkeiten, z.B. in Form von Ablehnung, Parentifizierung, Invalidierung, Beschämung, Beschuldigungen, Feindseligkeiten, Gewalt und Missbrauch. Multiple Belastungen und Traumata in der Kindheit sind der bedeutsamste biografische Risikofaktor, der eine spätere psychische Krankheit vorhersagt. So haben Kinder aus Suchtfamilien ein geschätzt 50- bis 60-prozentiges psychisches Erkrankungsrisiko. Traumafolgestörungen können zweifelsohne nicht durch das Stressmodell adäquat erklärt werden.
Die Kinder werden erwachsen und aus ihnen, vornehmlich den Mädchen, werden signifikant häufig wiederum Partnerinnen von Suchtkranken. Ungefähr die Hälfte aller betroffenen PartnerInnen, die ich behandelt habe, bringt schon die biografische Belastung einer Suchtfamilie mit sich. Diese erwachsenen Kinder werden in der Partnerschaft mit einem Suchtkranken retraumatisiert. Die Forschung hat schließlich auch aufgezeigt, dass Partner und Eltern von Suchtkranken immense Belastungen zu ertragen haben und ebenfalls überdurchschnittlich häufig psychisch erkranken. Diese komplexen psychosozialen Problemzusammenhänge können keinesfalls durch das Stressmodell abgebildet werden.
Die Folie "Würdigung Fachkonzepte", nutze ich gerne für Vorträge, um zu verdeutlichen, dass ein komplexe Thematik vielfältige Modelle braucht, um angemessen verstanden zu werden. Durch anklicken können Sie sie vergrößern.
Um den Angehörigen, ihren Problemen und ihrer Not gerecht zu werden, sollten wir sie nicht voreingenommen über einen Kamm scheren, vielmehr sollten wir differenziert hinschauen und analysieren. Alle Angehörige brauchen Solidarität und Mitgefühl für die Schwierigkeiten, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind. Die vermutlich Mehrheit der Angehörigen meistert die Situation eigenständig und gut. Sie leisten einen wertvollen Beitrag zur Gesundheitsfürsorge. Dies sollte gesehen und gewürdigt werden.
Diejenigen Angehörigen, die aufgrund von Stress belastet und psychisch gefährdet sind, benötigen kurz- und mittelfristigen Beistand in Form von Prävention, Unterstützung und Beratung. Bei Betroffenen, die aufgrund von Stress, Vernachlässigung und Übergriffigkeiten psychisch erkranken, ist mittel- und langfristige Zuwendung in Form von Schutz und Therapie indiziert (» Hilfen).