Sucht betrifft viele, alle anderen sind als Angehörige betroffen.

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Willkommen

Sie interessieren sich für die Angehörigenproblematik der Sucht? Vielleicht, weil Sie selbst als Kind, Partner, Eltern, Geschwister oder Freund betroffen sind, weil Sie sich in der Selbsthilfe engagieren oder weil Sie als Suchthelfer, Sozialarbeiter oder Psychotherapeut tätig sind? Vielleicht auch, weil Sie aus der Sucht ausgestiegen sind, und erfahren möchten, wie andere unter Ihrem süchtigen Verhalten gelitten haben? Diese Website solidarisiert sich parteiisch mit den betroffenen Angehörigen.

Der Domänenname dieser Website soll einer vielschichtigen und facettenreichen Problematik eine eigene Überschrift geben. Angehörige sind nicht nur Anhängsel, sie leiden ebenso unter den Folgen und Begleiterscheinungen der Sucht wie die Suchtkranken. Co-abhängige Erlebens- und Verhaltensmuster sind dadurch gekennzeichnet, dass sich die Betroffenen in der Hilfe für eine nahestehende suchtkranke Person verstricken. Durch die Aufopferung im Dienste der Sucht vernachlässigen sie sich selbst, ihre Lebensinteressen und Selbstfürsorge. Darüber entwickeln sie nicht selten eigene psychosoziale und psychosomatische Probleme und Störungen.

Angehörige benötigen Hilfe, doch sie nehmen oftmals die eigene Not kaum wahr und bagatellisieren sie: "Ist nicht schlimm, alles gut!" Ihr stilles Leiden wird durch die Hilfesysteme nur unzureichend erkannt und infolgedessen fallen sie zwischen die Hilfenetze von Prävention, Jugendhilfe, Suchthilfe und Psychotherapie. In der bewussten Hinwendung zu und Beachtung von Angehörigen, davon bin ich überzeugt, liegt eine enorme Chance, die Hilfesysteme gerechter zu gestalten und eine bessere Vernetzung zu entwickeln.

Schneider, C. (2025). Wenn du stirbst. Berlin: epubli.

Die Tage war ich mit einem Freund abends im Park laufen. Ein Besoffener pöbelte zwei andere Männer an. Er schrie hasserfüllt Unflätiges und fluchte rassistisch. Wir haben versucht, zu deeskalieren, und sind als Folge ebenso von ihm beschimpft worden. Es war widerlich und ich habe mich hilflos gefühlt. Ekel und Ohnmacht sind auch die beherrschenden emotionalen Themen in dem autobiografischen Roman von Christina Schneider. Sie beschreibt, wie sie ihren Vater als junge Frau bis in den alkoholbedingt vorzeitigen Tod begleitet. Der Ekel bleibt nicht abstrakt: offenen Beine, verfaulendes Fleisch, Inkontinenz, Blut, Erbrochenes, Gestank, Hass, Selbstgerechtigkeit, berauschte Eskapaden, Selbstsucht. Schneider ist schonungslos und zeigt die widerliche Seite der Sucht, die sich in dieser siechenden Form in keiner anderen Autobiografie findet.

Das Abstrakt von der Verlagsseite:

Ein kleines Küstenstädtchen in Spanien. Sonne, Meer – und das langsame Verlöschen eines Lebens. Christina reist zu ihrem Vater, der sich dort ein bequemes Exil geschaffen hat: Alkohol, Wohlstand und die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Sie weiß, dass es auf das Ende zugeht. Für ein Jahr lässt sie ihr Leben in Deutschland hinter sich, um an seiner Seite zu sein – zwischen Hoffnung und Hilflosigkeit, Liebe und Wut, Nähe und Abgrenzung. Doch das Zusammenleben mit einem suchtkranken Elternteil ist ein schmaler Grat: Wie viel Verantwortung kann man für jemanden tragen, der sich selbst längst aufgegeben hat? Wo endet Fürsorge – und wo beginnt Selbstaufgabe? Nachstehend schon mal die Inhaltsangabe von der Verlagsseite:

Wenn du stirbst erzählt die Geschichte einer Tochter, die versucht, ihren Vater zu retten, und dabei fast sich selbst verliert. Es ist ein Roman über Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit, über Scham, Sprachlosigkeit und den Mut, das Schweigen zu brechen. Christina Schneiders Debütroman legt offen, was Sucht in Familien anrichtet – und zeigt, dass Heilung dort beginnt, wo man aufhört zu schweigen.

Das Buch erzählt nicht nur von dem dahinsiechenden Korsakow des Vaters, es gibt den emotionalen Reaktionen der Protagonistin, ihren Gegenübertragungen viel Raum. Sie schildert ihre Ambivalenz zwischen liebevollen Wünschen, den Vater nicht auf seinem letzten Lebensweg allein lassen zu wollen, und den angeekelten Bedürfnissen, das Weite zu suchen bzw. sich manchmal zu wünschen, dass er endlich stirbt und es vorbei ist. Durch kleine Aktivitäten, z.B. im Meer zu schwimmen, das Voranbringen der Promotion und Kontakte zu anderen, verschafft sie sich immer wieder Luft und schafft es, den Kontakt zu sich selbst zu erneuern.

Sie beginnt, eine Fabel über den Pumajungen Tao - Ist der Name Zufall oder gewollt? - zu schreiben, der die Welt retten muss, weil die Farben verschwinden. Diese Allegorie ist geschickt gesetzt, denn im helfenden Kontakt zu suchtkranken Menschen geht es darum, die eigene Farbigkeit zu bewahren. Als Leser habe ich mich über die kleinen Pausen, die durch die kursiv gesetzten Fortsetzungen der Fabel entstanden, gefreut. Sie haben mir geholfen, die Abscheulichkeiten auszuhalten, der aus dem Buch sprichwörtlich quillen und spritzten.

Weil niemand ein Buch besser einordnen kann als die Autorin selbst, lassen wir das Buch ein wenig sprechen (S. 53, 98 - 99, 117, 153):

Mich bedrückte schon länger die Frage, ob ich zwischen dem Gefühl von der Zuneigung und Zustimmung anderer abhängig zu sein, und Dankbarkeit und Erleichterung, wenn ich beides bekam, und dem, was man Liebe nannte überhaupt unterscheiden konnte. Ich hatte ein bisschen den Eindruck, als seien Co-Abhängigkeit und Liebe, von dem Moment an, an dem ich auf die Welt kam, eins gewesen.

Wenn ich nicht abwehrte, nicht mauerte, was stand dann zwischen mir und der Welt? Was stand zwischen mir und meinem Vater? Mit was konnte ich mich schützen? Wo mich verstecken? Ich hatte Angst, nackt und verletztlich zu sein. Das Absurde war dabei, dass es nichts brachte, mich zu verstecke - denn, was ich bekämpfte, war bereits in mir. [...] Ich war müde und mir tat mein Rücken weh. Ich wollte die Dinge erkennen, wie sie waren, annehmen und daraus lernen. Aber ich fühlte mich schwach. Ich wollte mich ins Bett legen, hatte aber Angst vor dem Urteil meines Vaters, der ja sowieso nichts mitbeklam. Also hatte ich Angst vor eminem eigenen Urteil, ...

Zumindest brauchte es ein Mindesmaß an funktionierender Grundstruktur, um eine Fassade überhaupt aufrecht erhalten zu können. Wie auch immer, ich war erwachsen und von daher nicht ausgeliefert. Aber wie viele Kinder und Jugendliche waren gezwungen, in solchen Verhältnissen zu leben? Dauerhaft und mit ihrem Schicksal völlig unbemerkt! So extrem, wie ich es jetzt hier mit meinem Vater erlebte, war es in meiner Kindheit nie. Wenn mior das Leben mit meinem Vater schwerfiel, was mussten dann diese Kinder ertragen? Wer half ihnen, wenn ihre Eltern mit ihrer Suchtkrankheit gerade noch unter dem Radar der Behörden durchflogen?

Wenn wir in unserem ängstlichen Leben noch schön konsumeren konnten, fühlten wir uns frei. Denn was war das, was wir für Freiheit hielten, ja, was wir mit Freiheit verwechselten: Konsumfähigkeit. Es ist absurd dumm. [...] Wenn du deine Individualität primär über deinen Konsum zu erreichen trachtest, dann warst du zwar wie alle, kamst dir aber, wie alle, ziemlich individuell vor. Sehr armselig, wie das funktionierte. [...] Die menschliche Gesellschaft widerte mich an, sie stank zum Himmel. Oder stank meine Situation einfach nur zum Himmel?

Schneider nutzt den Begriff der Co-Abhängigkeit, um das Erleben und Handeln der Protagonistin intelligent zu hinterfragen. Die Ich-Erzählerin stellt Fragen und reflektiert. Sie probiert Antworten aus, ohne abschließende Antworten zu geben, was wohltuend ist. Als Fachbuchautor, der ein Konzept zur Co-Abhängigkeit erstellt hat, möchte ich der Protagonistin wie auch der Autorin indes eine Antwort geben: Meines Erachtens verhält sie sich im Großen und Ganzen nicht co-abhängig. Ihr Wunsch, den Vater in den Tod zu begleiten, ist nicht co-abhängig zu werten. Sie wird zwar oft durch ihre widerstreitenden Gefühle geflutet, doch sie wehrt sie nicht ab; sie verleugnet sich - abgesehen von Momenten der Überforderung - nicht wirklich selbst. Sie verhält sich riskant, aber sie achtet auf sich, sich nicht in der Hilfe zu verlieren, und ergreift immer wieder notwendige Maßnahmen der Selbstfürsorge.

Dieser Entwicklungsprozess ist beeindruckend, ein wenig sogar vorbildhaft. Wenn du stirbst ist ein Beispiel dafür, wie man einem suchtkranken Menschen auf dem letzten Weg helfen kann, ohne die eigene Würde beschädigen zu lassen, auch wenn sich die Person würdelos und verletzend verhält. Es ist ebenfalls ein Beispiel dafür, wie viel Kraft dies erfordert; aus dem Epilog (S. 270): "Die wahre Kunst beim Schreiben dieses Buches bestand darin, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren." Davor verneige ich mich.

» Das Buch bei epubli

2025-11 | NRWision | Podcast

Wie erreichen wir Angehörige

Burkhard Thom hat einen Podcast zum Angehörigenthema mit mir als Interviewpartner erstellt. Eigentlich wollte ich dieses Jahr keine Interviews mehr geben - Interviews strengen mich sehr an -, aber die Kooperation mit Burkhard hat mir trotz des schwierigen Themas viel Vergnügen bereitet. Er hat die richtigen Fragen gestellt und mir vorgegeben, pro Antwort nicht mehr als eine Minute zu sprechen. Es war eine Herausforderung, mich prägnant und präzise auszudrücken und dennoch der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Aus der Kurzbeschreibung von der Seite NRWision:

Jens Flassbeck engagiert sich für Angehörige und Kinder von Suchtkranken. Der Diplom-Psychologe und psychologische Psychotherapeut ist spezialisiert auf Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie. Außerdem gibt er Vorträge und veröffentlicht Bücher zu den Themen Suchthilfe und Prävention. Mit Podcaster Burkhard Thom spricht Jens Flassbeck über die Fragen: Was erleben Angehörige, wenn sie merken, dass ein geliebter Mensch süchtig ist? Warum ist der Begriff Co-Abhängigkeit problematisch? Und welche Rolle spielen sogenannte "personenzentrierte" Konzepte in der Suchthilfe?

» Podcast

2025-09 | ARD | Film

Ein Mann seiner Klasse

Die SWR-Koproduktion Ein Mann seiner Klasse ist als bester Fernsehfilm mit dem Deutschen Fernsehpreis 2025 ausgezeichnet worden. Das Abstract zum Spielfilm von der Mediathek der ARD:

Kaiserslautern, im Sommer 1994. Für den zehnjährigen Christian ist ein Ausflug in den Freizeitpark die absolute Ausnahme. Realität sind die eingetretene Wohnungstür, Hämatome auf dem Rücken der Mutter Mira und die Erfahrung von ständigem Mangel. Sein Vater Ottes ist unberechenbar, meist siegt der Alkohol über den guten Willen und er macht es seiner Familie nicht leicht, ihn zu lieben. Als der aufgeweckte Christian unerwartet eine Gymnasialempfehlung bekommt, will Mira, dass der begabte Sohn seine Chance nutzt. Ottes ist strikt dagegen. Christian soll wie er die Hauptschule besuchen und arbeiten.

Als Mira lebensgefährlich erkrankt, gibt ihre Schwester Juli ein Versprechen ab: Sie wird Verantwortung für die Kinder übernehmen. Nach Miras Tod setzt sie gegen den Willen von Ottes durch, dass Christian aufs Gymnasium geht. In Bedrängnis zwischen Juli und dem Vater, von dem er sich emotional nicht lösen kann, muss Christian sich entscheiden, welchen Weg er im Leben gehen möchte.

Der Spielfilm „Ein Mann seiner Klasse“ und die gleichnamige Doku sind nach dem Bestseller von Christian Baron entstanden.

Auf der Seite Medien unter der Rubrik Romane finden Sie eine Rezension zum autobiografischen Buch. Der Film ist gut gemacht, doch vieles fehlt oder wird nur szenisch angedeutet. Das Buch führt nach meinem Dafürhalten die familiäre Tragik und das Schicksal von Christian genauer, vielschichtiger und tiefgehender aus. Sowohl das Buch als auch der Film sind von suchtbedingter Gewalt geprägt, was nicht für sensible Gemüter oder traumatisierte Personen geeignet ist.

Beim Schauen des Films habe ich über den Titel nachgesonnen, der das eigentliche Thema verschweigt. Sucht kennt nämlich keine Klasse. Die Auswirkungen der suchtbedingten Übergriffigkeiten auf das soziale Umfeld sind unabhängig vom Milieu: Die Würde der Angehörigen wird nachhaltig verletzt. Ist dies Absicht des Autors, um den Vater nicht nur als gewalttätigen Säufer zu erinnern, vielmehr ihm als "Mann seiner Klasse" ein menschliches Denkmal zu setzen und so ein liebevolles Gedenken zu pflegen? Ist dies wichtig und gut für den Seelenfrieden von Christian, ist es Ausdruck der Zerrissenheit des Protagonisten oder ist es eine Täuschung? Oder ist alles drei zutreffend, je nach Betrachtungsweise?

» Film in Mediathek

2025-02 | ARTE | Serie

In my Skin

Derzeit und bis zum 14.01.2026 läuft auf ARTE die englische Serie In my Skin. Die dark comedy der Autorin und Regisseurin Kayleigh Llewellyn wurde von 2018 bis 2021 gedreht und durch die BBC Three herausgebracht. Aus der Ankündigung auf ARTE:

Die aufsässige und stürmische Bethan verheimlicht in der Schule ihre dramatischen Familienverhältnisse. Die tragikomische Coming-of-Age-Serie mit spitzzüngigen Dialogen zeichnet das subtile Porträt einer Jugendlichen, die ihr Leben auf eine ungewöhnliche Art anpackt.

In Wales gibt sich die 16-jährige Bethan Gwyndaf vor ihren Mitschülern Travis und Lydia fröhlich und sorglos, doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein schwieriger Familienalltag. Nicht genug, dass sie sich um ihre bipolare Mutter Trina kümmern muss. Auch ihr Vater Dilwyn, ein verantwortungsloser Alkoholiker, macht ihr das Leben schwer. Als Trina nach einem manischen Anfall in die Psychiatrie eingewiesen wird, tritt Bethans Schreibtalent zutage.

Nach außen hin spielt sie die aufsässige Jugendliche, daheim fungiert sie als letzte Stütze einer dysfunktionalen Familie. Bethan führt ein Doppelleben und verschweigt ihren Freunden die Dämonen, die ihren Alltag erdrücken. Mit ihrer bipolaren Mutter, die sie vor ihrem alkoholkranken, untätigen und aufbrausenden Vater beschützen muss, trägt das Mädchen eine viel zu schwere Last. Davon lässt sie sich nichts anmerken und flüchtet zusammen mit ihren Mitschülern ins Teenagerdasein, doch irgendwann bricht die Fassade zusammen.

Ohne jemals in Pathos zu verfallen, manövriert die Serie geschickt zwischen dem jugendlichen Leichtsinn der Tochter, den manisch-depressiven Schüben der Mutter und dem Verfall des Vaters, um die übergroße Verantwortung der jungen Protagonistin, die in die Rolle einer Erwachsenen schlüpfen muss, in den Fokus zu rücken. Gabrielle Creevy, Jo Hartley und Di Botcher bilden ein wunderbares Trio aus Tochter, Mutter und Großmutter, das wie eine Ode an die Schwesternschaft anmutet.

Dem habe ich wenig hinzuzufügen. Ich habe die Serie gerade zu Ende geschaut und bin begeistert. Very british und trotz der komödiantischen Schauspielkunst schmerzhaft realistisch! Derzeit habe ich vier Klientinnen in Psychotherapie, die genauso intelligent wie Beth sind und verblüffend ähnliche Schicksale erlitten haben. Eine Warnung möchte ich für alle sensiblen Menschen aussprechen. Die erste Staffel ist über weite Teile eher Komödie, die Tragödie deutet sich nur an und nimmt erst in der zweiten Staffel richtig Fahrt auf. In der Episode 3 der zweiten Staffel explodiert die unterschwellige Anspannung in einen Gewaltexzess. Dies zu schauen, war für mich schwer auszuhalten, weil ich morgens noch eine Klientin da hatte, die von ähnlich schlimmen Erlebnissen erzählt hatte. Und genauso wie Beth konnte sie als Heranwachsende nicht reden und hat keine angemessene Unterstützung erfahren.

In der Folge 4 der zweiten Staffel kommt es zu einem kleinen, zärtlichen Dialog zwischen Beth und der Freundin Cam, der die ausweglose Tragik von Beth unerträglich verdichtet:

Cam: Wer weiß noch davon?
Beth: Niemand. Nur Du.
Cam: Warum hast du nichts gesagt?
Beth: Keine Ahnung.
Cam: Nein, komm schon. Warum?
Beth: Weil ich mich schäme.

Falls Sie die schwarzhumorige, nervöse Unterschwelligkeit der ersten Serie und den gewalttätigen Spannungsbogen der zweiten Serie nicht ertragen, schauen Sie ausschließlich die letzte Folge. Sie ist so zartfühlend, so wundervoll, so rührend - nicht alles wendet sich zum Guten und das, was gut wird, ist schmerzhaft -, dass meine Frau und ich die ganze Zeit still geweint haben.

» Stream auf ARTE
» Wikipedia

2025-12 | Kunst | Der Blaue Reiter

Über Geist, Seele und Materie in der Festzeit

Vor kurzem war ich in der Selbsthilfe beim Blauen Kreuz in München, um eine Lesung zur Angehörigenproblematik zu geben. Die Fahrt habe ich damit verbunden, das dortige Lenbachaus zu besuchen und in die Farbenfülle des Blauen Reiters einzutauchen: Gabriele Münter, Franz Marc, August Macke, Marianne von Werefin, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky etc. Es beeindruckt mich tiefgehend, wie sich diese Künstler gegenseitig inspiriert und aus dem Postimpressionismus einen neuen expressionistischen Kunststil entwickelt haben. Dazu schreibt Gabriele Münter in ihrem Tagebuch: "Ich habe da nach kurzer Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhaltes, zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes."

Im Almanach Der Blaue Reiter von 1912 wurden die kunsttheoretischen Vorstellungen der Strömung als eine lose Sammlung an Texten und Skizzen ausgebreitet. Ein ausgestellter Text von Wassily Kandinsky hat mich besonders angesprochen. Mir kam spontan der Gedanke, dass der Inhalt irgendwie auch etwas über die Adventszeit und das Weihnachtsfest, übermäßigen materiellen (Suchtmittel-)Konsum und kreative Möglichkeiten, dem Konsumterror zu entsagen, aussagt:

Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif. D.h. der schaffende Geist (welchen man als den abstrakten Geist bezeichnen kann) findet einen Zugang zur Seele, später zu den Seelen und verursacht eine Sehnsucht, einen inneren Drang.

Wenn die zum Reifen einer präzisen Form notwendigen Bedingungen erfüllt sind, so bekommt die Sehnsucht, der innere Drang, die Kraft, im menschlichen Geist einen neuen Wert zu schaffen, welcher bewusst oder unbewusst im Menschen zu leben anfängt.

Bewusst oder unbewusst, sucht der Mensch von diesem Augenblick an dem in geistiger Form in ihm lebenden neuen Wert eine materielle Form zu finden.

Das ist das Suchen des geistigen Wertes nach Materialisation. Die Materie ist hier eine Vorratskammer, aus welcher der Geist das ihm in diesem Fall Nötige wählt, wie es der Koch tut.

Das ist das Positive, das Schaffende. Das ist das Gute. Der weisse befruchtende Strahl.

Dieser weisse Strahl führt zur Evolution, zur Erhöhung. So ist hinter der Materie, in der Materie der schaffende Geist verborgen.

Das Verhüllen des Geistes in der Materie ist oft so dicht, dass es im allgemeinen wenig Menschen gibt, die den Geist hindurchsehen können. So sehen gerade heute viele den Geist in der Religion, in der Kunst nicht. Es gibt ganze Epochen, die den Geist ableugnen, da die Augen der Menschen im allgemeinen zu solchen Zeiten den Geist nicht sehen können. So war es im 19. Jahrhundert und so ist es im grossen und ganzen noch heute.

Die Menschen werden verblendet.

Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die schwarze Hand gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel die Evolution, die Erhöhung zu bremsen.

Das ist das Negative, das Zerstörende. Das ist das Böse. Die schwarze todbringende Hand.

Kandinsky meint mit dem Hass und der schwarzen Hand vermutlich die chauvinistischen, kriegstreiberischen Kräfte seiner Zeit, die zwei Jahre später im Ersten Weltkrieg mündeten. Man könnte die geistlose Verdichtung der Materie und das Zerstörende ebenfalls mit der Sucht gleichsetzen. Sucht ist eine Form, Krieg gegen sich selbst, andere und das Leben zu führen. Sucht plündert die Vorratskammer sinnlos und entwertend.

Kandinsky bietet hierzu einen Gegenentwurf an: Geist und Seele treffen aufeinander und Materie aus der Vorratskammer wird nur so weit genutzt, wie es nötig ist, kreative Werte zu schaffen. Das ist in meinen Augen spannend und vielschichtig aktuell. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine geistig und seelisch erhellende Advents- und Festzeit und entzünden Sie so häufig wie möglich Kerzen und singen Sie!

Folgend einige Hinweise zum Gebrauch und zum konzeptionellen Hintergrund dieser Website:

Schmökern

Diese Website ist zum Schmökern gedacht. Sie ist gefüllt mit Informationen, die sich an verschiedene Gruppen richten: Kinder aus Suchtfamilien, PartnerInnen, Eltern, andere Angehörige, Freunde, Kollegen, Suchtbetroffene, Fachleute, Journalisten und alle anderen, die sich informieren wollen. Die Inhalte bilden das Spektrum von trockenen Fachkonzepten bis hin zu kreativen Medien ab. Um Ihnen die Orientierung zu erleichtern, gibt es erstens ein Sidemap, welches Sie auf jeder Seite unten links im Footer aufrufen können. Zweitens finden Sie unten auf den Seiten die Rubrik Obendrein mit Vorschlägen für inhaltlich ähnliche, weiterführende Seiten.

» Sidemap

Eine Angehörigenproblematik

Verschiedene Gruppen sind als Angehörige von Sucht betroffen: Kinder, erwachsene Kinder, Partner, Eltern, Geschwister, Freunde, Arbeitskollegen, Suchthelfer etc. Die Betroffenheit hat zwar viele individuelle Gesichter, doch es gibt meines Erachtens nur eine Angehörigenproblematik. Das möchte ich Ihnen anhand von zwei Argumenten erläutern.

Erstens überschneiden sich die Betroffenengruppen erheblich. Dies liegt an der co-abhängigen Transmission (» mehr). Mädchen - seltener Jungen - aus Suchtfamilien, suchen sich als Erwachsene überdurchschnittlich häufig suchtkranke Partner. Aus diesen (co-)abhängigen Partnerschaften gehen wiederum süchtig und co-abhängig gefährdete Kinder hervor. Geschätzt die Hälfte der Partnerinnen und Mütter und auch, doch seltener Partner und Väter, die ich in über 20 Jahren Angehörigenarbeit behandelt habe, ist biografisch schon durch eine Kindheit in einer Suchtfamilie vorbelastet gewesen.

Zweitens sind alle Personen, die in einem engen, langfristigen Kontakt mit Suchtkranken stehen, denselben Belastungen ausgesetzt: Das berauschte und entzügige Verhalten der Suchtkranken ist selbstsüchtig, verantwortungslos und unzuverlässig. Als Reaktion darauf entwickeln die Angehörigen komplementäre Muster der Selbstlosigkeit, Verantwortungsübernahme und Verlässlichkeit, um die Defizite der Suchtkranken auszugleichen. Auch wenn Kinder zweifelsohne aufgrund ihrer ungefestigten Persönlichkeit besonders vulnerabel sind, sind die psychosozialen Leiden und Folgeprobleme der unterschiedlichen Angehörigengruppen im Prinzip dieselben.

Aus den beiden genannten Gründen wird die Angehörigenproblematik auf dieser Website ganzheitlich betrachtet und behandelt.

Suchthelfer sind Angehörige

Bevor ich mich ambulant als Psychotherapeut niedergelassen habe, habe ich lange als Suchttherapeut gearbeitet. Damals habe ich nach und nach begriffen, dass die Themen und Probleme der Angehörigen ähnlich den beruflichen Herausforderungen der Suchthilfe sind. Auch Suchthelfer können sich in selbst aufopfernden und Verantwortung schulternden Mustern verlieren. Wie Dachdecker vom Dach fallen können, können sich Suchthelfer verstricken. Es ist ihr Berufsrisiko.

Die therapeutische Arbeit mit Angehörigen ist Psychohygiene für Suchthelfer. Indem ich Angehörigen geholfen habe, klarer zu werden und sich besser abzugrenzen, habe ich implizit gelernt, mich gegenüber der suchtkranken Klientel konsequenter zu verhalten. Es hat mir geholfen, sowohl die Sorge für die süchtige Klientel als auch die Selbstfürsorge im Berufsalltag besser auszubalancieren, um nicht auszubrennen und hart und negativ zu werden. Zynismus ist eine häufig zu findende Form der psychischen Beschädigung von Suchthelfern und Angehörigen.

Der Begriff Angehörige wird auf dieser Website als eine Kategorie verwendet, unter die auch Suchthelfer fallen. Alle Inhalte richten sich gleichermaßen an familiär und beruflich Betroffene.

Angehörige von psychisch kranken Personen

Alle Angehörigen von psychisch kranken Personen sind belastet. Warum beschränkt sich diese Website auf das Angehörigenthema der Sucht?

Abhängigkeitserkankungen sind auch psychische Störungen, doch sie unterscheiden sich in einem Aspekt von den meisten anderen psychischen Störungen. Der Suchtmittelmissbrauch ist der Versuch, eine primäre psychische Erkrankung zu bewältigen. Durch den Rausch werden die psychischen Leiden betäubt. Kurzfristig sorgt dies zwar für Erleichterung, doch langfristig verschlimmert sich derart die primäre Problematik und schafft zudem zerstörerische Folgeprobleme. In der Problemverleugnung, den süchtigen Manipulationen, Beschämungen und Beschuldigungen und den rausch- und entzugsbedingten Übergriffigkeiten entwickeln Suchterkrankungen zerstörerische Auswirkungen auf das soziale Umfeld.

Diese schädigenden sozialen Effekte sind bei anderen psychischen Störungen in der Stärke und dem Ausmaß nur selten zu finden. Bitte missverstehen Sie mein Argument nicht, es beschreibt nur eine Tendenz. Ihre konkrete, individuelle Situation kann nämlich ganz anders aussehen, z.B. können Angehörige von Personen mit Impulskontrollstörungen ebenfalls Übergriffigkeiten erfahren. Übrigens gehen solche aggressiven Störungen häufig mit Suchtmittelmissbrauch einher. Nichtsdestotrotz ist - im Gegensatz zur süchtigen Uueinsichtigkeit - den meisten psychisch erkrankten Personen sehr wohl bewusst, dass sie krank sind, und sie tun alles, damit andere nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Diese Website muss inhaltlich begrenzt werden, damit sie nicht ausufert und beliebig wird. Diese Entscheidung hat Vorteile, sie hat aber auch Nachteile. Die Problematik von Angehörigen psychisch kranker Personen wird auf CO-ABHAENIGIG.de implizit berücksichtigt. Sind Sie als Angehörige in diesem Sinne betroffen, sind Sie eingeladen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkunden.

Illustrationen

Die Illustrationen von Prinzessin & Frosch, welche diese Website schmücken, sind von Sina Gruber, eine junge Künstlerin und damals Studentin der Psychologie aus Kassel. Die 23 Werke entstanden 2013 auf Grundlage des Manuskriptentwurfs zum Ratgeber "Ich will mein Leben zurück!"

Anliegen

Co-ABHAENGIG.de habe ich 2010 eingerichtet, als mein erstes Fachbuch zum Thema herauskam. Damals hat es im deutschsprachigen Raum kaum informative Internetrepräsentationen zum Thema gegeben. Seitdem sind zwei weitere Fachbücher entstanden, ich habe eine Reihe an Artikeln verfasst, unzählige Vorträge gehalten, Interviews gegeben und Workshops und Fortbildungen zum Thema durchgeführt. Darüber hatte ich viele bereichernde Begegnungen zu Betroffenen wie auch zu anderen, in der Sache engagierten Fachleuten. Es sind kleinere und größere, kurz- und langfristige Kooperationen zustande gekommen. Vor allem aber habe ich von meinen Klienten gelernt. Ihre Erfahrungen sind für mich Geschenke. Ich bin dankbar, dass ich an ihren Entwicklungen, sich zu befreien und ihr Leben zurückzuerobern, teilhaben darf.

So ist aus dem in der Freizeit gepflegten Steckenpferd mein heutiger Arbeitsschwerpunkt geworden. Mit diesem Prozess ist auch die Website peu à peu gewachsen. Motiviert durch die Kooperation mit der Kollegin und Mitautorin, Judith Barth, habe ich mit dem Jahreswechsel 2020/21 alle Inhalte gründlich überarbeitet, Design und Navigation erneuert und jede Menge neue Seiten hinzugefügt. Das Motiv für mein Engagement hat sich in all den Jahren nicht verändert: Ich möchte über eine tabuisierte Thematik aufklären und zum kritischen Nachsinnen und konkreten Handeln anregen. Darüber hinaus gestalte ich die Website eigenständig und unabhängig und verfolge damit keine wirtschaftlichen, institutionellen oder sonstigen Interessen.

meditierende prinzessin