2024-11 | Neuerscheinung | Rezension
Schickentanz, A. (2025). Jenseits der Wand. Norderstedt: Book on Demand.
Vor beinah zwei Jahren hat mich die Autorin Annabelle Schickentanz gefragt, ob ich sie dabei begleite, einen autofiktionalen Roman über eine Kindheit in einer Suchtfamilie zu verfassen. (Hinweis: Autofiktionale Texte sind eine fiktionale Konstruktion autobiografischer Erfahrungen und dienen dazu, wahre persönliche Erfahrungen literarisch zu verarbeiten.) Am 02.02.2025 wird das fertige Werk im Self-Publishing erscheinen. Es war eine aufregende und lehrreiche Zeit, zweifelsohne für Frau Schickentanz, mithin auch für mich. Was habe ich gelernt? Daneben, dass ich noch mehr Verständnis und Tiefe für die tragische Situation, aber auch die Ressourcen von Kindern aus Suchtfamilien entwickeln konnte, möchte ich zwei Einsichten hervorheben: Ich habe von Frau Schickentanz gelernt, dass man Philosophie nicht vornehmlich mit dem Intellekt, vielmehr mit dem Herzen begreift. Und ich habe durch sie erfahren, wie tröstlich Philosophie sein kann, um das Leben und die Welt anzunehmen, auch wenn beides manchmal unerträglich, leidvoll und ungerecht erscheint.
Zur groben inhaltlichen Übersicht sei folgend der Buchrückseitentext aufgeführt:
Die Sucht der Mutter und materieller Wohlstand prägen Kindheit und Jugend der Erzählerin. Als die Mutter an den Folgen ihrer Sucht stirbt, begibt sich die Erzählerin auf die Suche. In der Rückschau spürt sie der Atmosphäre nach, in der sie aufgewachsen ist und wagt sich hinter der dissoziativen Wand von empfundener Ablehnung und Ohnmacht hervor. Sie beginnt, philosophische Fragen an ihr Leben zu stellen und enttarnt auf diese Weise allmählich das Zusammenwirken von Sucht, dem Schweigen der Anderen und der eigenen Scham.
Diesen Text möchte ich um eine Kostprobe aus dem Buch ergänzen, welche die persönliche Ambivalenz vieler Kinder aus Suchtfamilien auf den Punkt bringt:
Die empfundene Scham des Alkoholikers ist eine der Ursachen für die Sucht, ganz sicher ist sie eine Folge. Das Schweigen meiner Mutter, es war gleichgültig, beschämt und in der Folge beschämend. Meine Scham ist die Scham über eine Mutter, die getrunken hat. Die so viel und über einen so langen Zeitraum getrunken hat, dass sie daran gestorben ist. ... Meine Mutter hat mich mit meiner eigenen Scham zurückgelassen, sodass ich nun wählen kann, ob ich schweige oder spreche.
Was ist der besondere Wert des Werkes von Schickentanz, vor allem im Vergleich mit anderen Romanen zum Thema (siehe in der Rubrik Romane auf der Seite Medien)? Drei Antworten möchte ich Ihnen geben: Erstens spielt die Geschichte von Schickentanz im gut situierten Bildungsmilieu. Bekanntlich hat Sucht keine sozialen Schranken, sie kommt in allen Schichten vor. Dennoch ist ein interessantes Phänomen, dass sich beinah alle anderen Autobiografien in Familien der Unterschicht abgespielt haben. Nach meinen klinischen Erfahrungen in der Arbeit sowohl mit Suchtkranken als auch Angehörigen ist die Tabuisierung, Maskierung und Verleugnung des süchtigen Problems in der Ober- und Mittelschicht deutlich ausgeprägter als in der Unterschicht.
Suchtbetroffenen und auch Angehörigen der Unterschicht fällt es tendenziell leichter, das Sucht- und die Begleit- und Folgeprobleme beim Namen zu nennen, z.B. zu sagen: "Mein Vater hat sich gestern wieder mal abgeschossen und rum randaliert. Es war voll ätzend, ich hätte kotzen können." Solche Sätze bringen gut erzogene Akademiker kaum über die Lippen. Sucht ist mittels des restringierten Codes oder dem Straßejargon ungeschminkter, direkter auszudrücken. Dem Zierrat des elaborierten Codes wohnt eine diplomatische Tendenz inne, Dinge bis zur Konturlosigkeit weichzuzeichnen. Schickentanz ist hier eine erfrischende Ausnahme, sie findet trotz gehobener Sprache klare Worte zu dem süchtigen Tun ihrer Mutter. Und sie setzt ihre sprachliche Brillanz ein, um die familiäre und gesellschaftliche Doppelbödigkeit präzise zu sezieren und zu enttarnen. Ihr Mut zu dieser Offenheit und Authentizität ist zu würdigen.
Zweitens ist der Roman von Schickentanz nicht wie üblich chronologisch geordnet. Die Geschichte beginnt am Ende mit dem Tod der Mutter, erzählt dann Jugenderfahrungen der Protagonistin mit der Mutter und ihrer Familie, wird aber immer wieder durch Erinnerungen an Episoden der Kindheit, Reflexionen des Schreibprozesses, Assoziationen und Analysen unterbrochen und springt am Ende ins Erwachsenenalter. Der rote Faden von Jenseits der Wand ist die Entwicklung der Protagonistin bzw. der Schreibprozess der Autorin. Es ist insofern ein Entwicklungsroman. Auf dem Hintergrund einer äußerlich erstarrten Situation macht sich die Erzählerin auf den Weg, ihre innere Lebendigkeit zu erkunden. Der Leser darf daran teilhaben, wie sich die Autorin autofiktional auf eine Reise zu sich selbst macht, die Essenz der scheinbar unumstößlichen familiären Gewissheiten hinterfragt, Humor, Sinn und Würde in ihrer ganz eigenen Erfahrungswelt entdeckt und darüber sich der Welt und dem Leben öffnet.
Drittens darf das Buch als ein philosophischer Roman eingeordnet werden. Er ist voller philosophischer und auch soziologischer und psychologischer Reflexionen. Dies erinnert entfernt an die Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Die beiden Autorinnen verbindet das persönliche, familiäre Thema der Scham. Schickentanz nutzt unter anderem die Lehren von Martin Heidegger, Albert Camus, Peter Bieri, Ernst Bloch und anderen, um Schicht für Schicht die eigene, die familiäre und die gesellschaftliche Doppelbödigkeit freizulegen und sich von dem Ballast der intra- und interpsychischen Abhängigkeiten zu befreien.
Das Werk von Schickentanz ist vielschichtig, verstörend. Es ist zum einen in seinen Erzählungen anrührend, neugierig, trotzig, humorvoll, sinnlich und eigensinnig. Es lädt zu zwischenmenschlicher Nähe und Mitgefühl ein und löst Sympathie für die namenlose Protagonistin aus. Man kann gar nicht anders, als sie ins Herz schließen. Zum anderen ist der Text in seinen Reflexionen schonungslos, ethisch, fordernd, kritisch und aufdeckend. Die Schreiberin schubst den Leser weg und hält ihm einen Spiegel seiner Verstricktheit und Verruchtheit vor. Das Buch kann nicht konsumiert werden, es widersetzt sich dem; es will entschlüsselt und durchdrungen werden. Dies löst Respekt, vielleicht sogar Ehrfurcht vor der Schreiberin und ihrer Authentizität aus. Einige Kapitel habe ich - aus einer inneren Notwendigkeit - zwei-, dreimal oder öfter gelesen, um alle Facetten zu verstehen. Die Tiefe der Erzählung und des Selbstfindungsprozesses kann durch den Leser nur erfahren werden, wenn er sich auf einen eigenen, ehrlichen, dialektischen Prozess einlässt. Schickentanz zu lesen, ist nicht leicht, doch lohnenswert, bereichernd und - wie schon oben angedeutet - tröstlich.
Und noch zwei letzte Zitate aus dem letzten Kapitel, welches die selbstannehmende, lebensbejahende und doch schmerzhafte Wahl und Motivation der Autorin, zu sprechen, verdeutlicht:
Die Antworten auf Ellas Fragen sind einfach und schwierig zugleich. Sie sind einfach, weil es Erklärungen gibt, Herleitungen, Einordnungen. Sie sind schwierig, weil die Antworten schmerzen, weil der Schmerz unsichtbar ist. An dieser Stelle droht meine Sprache zu versagen, da das Unsichtbare zwar potentiell sagbar ist, es jedoch für immer verborgen bleibt, sofern ich schweige. Noch perfider verhält es sich mit dem Sichtbaren - es umgibt mich, mitunter schon immer, jedoch ist es nicht automatisch sagbar. Damit es sagbar wird, braucht es jemanden, der die Wand öffnet, der dem Sichtbaren erlaubt, sich zu zeigen.
Wir sollten unser Leben vom Ende her denken, das Ende der Zukunft antizipieren, um das Zeitbewusstsein eines Kindes zu erlangen, das die Fähigkeit hat, sich dem Hier und Jetzt voll und ganz hinzugeben. Nach Kierkegaard ist es der Augenblick, welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufhebt, der uns befreien kann von der Last des Gedankens an den Tod, an die unumstößliche Wahrheit, dass wir eines Tages gewesen sein werden. Bewegen sich unsere Ängste nicht auch in einem Raum, der aus der Vergangenheit gebildet ist und sehr mächtig in die Zukunft ragt? Demnach kann es helfen, das Gefühl der Erleichterung zu antizipieren, das immer dann eintritt, nachdem wir uns den eigenen Ängsten gestellt haben.
Ab 02.02.2025:
» Jenseits der Wand auf Books on Demand