Schneider, C. (2025). Wenn du stirbst. Berlin: epubli.
Die Tage war ich mit einem Freund abends im Park laufen. Ein Besoffener pöbelte zwei andere Männer an. Er schrie hasserfüllt Unflätiges und fluchte rassistisch. Wir haben versucht, zu deeskalieren, und sind als Folge ebenso von ihm beschimpft worden. Es war widerlich und ich habe mich hilflos gefühlt. Ekel und Ohnmacht sind auch die beherrschenden emotionalen Themen in dem autobiografischen Roman von Christina Schneider. Sie beschreibt, wie sie ihren Vater als junge Frau bis in den alkoholbedingt vorzeitigen Tod begleitet. Der Ekel bleibt nicht abstrakt: offenen Beine, verfaulendes Fleisch, Inkontinenz, Blut, Erbrochenes, Gestank, Hass, Selbstgerechtigkeit, berauschte Eskapaden, Selbstsucht. Schneider ist schonungslos und zeigt die widerliche Seite der Sucht, die sich in dieser siechenden Form in keiner anderen Autobiografie findet.
Das Abstrakt von der Verlagsseite:
Ein kleines Küstenstädtchen in Spanien. Sonne, Meer – und das langsame Verlöschen eines Lebens. Christina reist zu ihrem Vater, der sich dort ein bequemes Exil geschaffen hat: Alkohol, Wohlstand und die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Sie weiß, dass es auf das Ende zugeht. Für ein Jahr lässt sie ihr Leben in Deutschland hinter sich, um an seiner Seite zu sein – zwischen Hoffnung und Hilflosigkeit, Liebe und Wut, Nähe und Abgrenzung. Doch das Zusammenleben mit einem suchtkranken Elternteil ist ein schmaler Grat: Wie viel Verantwortung kann man für jemanden tragen, der sich selbst längst aufgegeben hat? Wo endet Fürsorge – und wo beginnt Selbstaufgabe? Nachstehend schon mal die Inhaltsangabe von der Verlagsseite:
Wenn du stirbst erzählt die Geschichte einer Tochter, die versucht, ihren Vater zu retten, und dabei fast sich selbst verliert. Es ist ein Roman über Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit, über Scham, Sprachlosigkeit und den Mut, das Schweigen zu brechen. Christina Schneiders Debütroman legt offen, was Sucht in Familien anrichtet – und zeigt, dass Heilung dort beginnt, wo man aufhört zu schweigen.
Das Buch erzählt nicht nur von dem dahinsiechenden Korsakow des Vaters, es gibt den emotionalen Reaktionen der Protagonistin, ihren Gegenübertragungen viel Raum. Sie schildert ihre Ambivalenz zwischen liebevollen Wünschen, den Vater nicht auf seinem letzten Lebensweg allein lassen zu wollen, und den angeekelten Bedürfnissen, das Weite zu suchen bzw. sich manchmal zu wünschen, dass er endlich stirbt und es vorbei ist. Durch kleine Aktivitäten, z.B. im Meer zu schwimmen, das Voranbringen der Promotion und Kontakte zu anderen, verschafft sie sich immer wieder Luft und schafft es, den Kontakt zu sich selbst zu erneuern.
Sie beginnt, eine Fabel über den Pumajungen Tao - Ist der Name Zufall oder gewollt? - zu schreiben, der die Welt retten muss, weil die Farben verschwinden. Diese Allegorie ist geschickt gesetzt, denn im helfenden Kontakt zu suchtkranken Menschen geht es darum, die eigene Farbigkeit zu bewahren. Als Leser habe ich mich über die kleinen Pausen, die durch die kursiv gesetzten Fortsetzungen der Fabel entstanden, gefreut. Sie haben mir geholfen, die Abscheulichkeiten auszuhalten, der aus dem Buch sprichwörtlich quillen und spritzten.
Weil niemand ein Buch besser einordnen kann als die Autorin selbst, lassen wir das Buch ein wenig sprechen (S. 53, 98 - 99, 117, 153):
Mich bedrückte schon länger die Frage, ob ich zwischen dem Gefühl von der Zuneigung und Zustimmung anderer abhängig zu sein, und Dankbarkeit und Erleichterung, wenn ich beides bekam, und dem, was man Liebe nannte überhaupt unterscheiden konnte. Ich hatte ein bisschen den Eindruck, als seien Co-Abhängigkeit und Liebe, von dem Moment an, an dem ich auf die Welt kam, eins gewesen.
Wenn ich nicht abwehrte, nicht mauerte, was stand dann zwischen mir und der Welt? Was stand zwischen mir und meinem Vater? Mit was konnte ich mich schützen? Wo mich verstecken? Ich hatte Angst, nackt und verletztlich zu sein. Das Absurde war dabei, dass es nichts brachte, mich zu verstecke - denn, was ich bekämpfte, war bereits in mir. [...] Ich war müde und mir tat mein Rücken weh. Ich wollte die Dinge erkennen, wie sie waren, annehmen und daraus lernen. Aber ich fühlte mich schwach. Ich wollte mich ins Bett legen, hatte aber Angst vor dem Urteil meines Vaters, der ja sowieso nichts mitbeklam. Also hatte ich Angst vor eminem eigenen Urteil, ...
Zumindest brauchte es ein Mindesmaß an funktionierender Grundstruktur, um eine Fassade überhaupt aufrecht erhalten zu können. Wie auch immer, ich war erwachsen und von daher nicht ausgeliefert. Aber wie viele Kinder und Jugendliche waren gezwungen, in solchen Verhältnissen zu leben? Dauerhaft und mit ihrem Schicksal völlig unbemerkt! So extrem, wie ich es jetzt hier mit meinem Vater erlebte, war es in meiner Kindheit nie. Wenn mior das Leben mit meinem Vater schwerfiel, was mussten dann diese Kinder ertragen? Wer half ihnen, wenn ihre Eltern mit ihrer Suchtkrankheit gerade noch unter dem Radar der Behörden durchflogen?
Wenn wir in unserem ängstlichen Leben noch schön konsumeren konnten, fühlten wir uns frei. Denn was war das, was wir für Freiheit hielten, ja, was wir mit Freiheit verwechselten: Konsumfähigkeit. Es ist absurd dumm. [...] Wenn du deine Individualität primär über deinen Konsum zu erreichen trachtest, dann warst du zwar wie alle, kamst dir aber, wie alle, ziemlich individuell vor. Sehr armselig, wie das funktionierte. [...] Die menschliche Gesellschaft widerte mich an, sie stank zum Himmel. Oder stank meine Situation einfach nur zum Himmel?
Schneider nutzt den Begriff der Co-Abhängigkeit, um das Erleben und Handeln der Protagonistin intelligent zu hinterfragen. Die Ich-Erzählerin stellt Fragen und reflektiert. Sie probiert Antworten aus, ohne abschließende Antworten zu geben, was wohltuend ist. Als Fachbuchautor, der ein Konzept zur Co-Abhängigkeit erstellt hat, möchte ich der Protagonistin wie auch der Autorin indes eine Antwort geben: Meines Erachtens verhält sie sich im Großen und Ganzen nicht co-abhängig. Ihr Wunsch, den Vater in den Tod zu begleiten, ist nicht co-abhängig zu werten. Sie wird zwar oft durch ihre widerstreitenden Gefühle geflutet, doch sie wehrt sie nicht ab; sie verleugnet sich - abgesehen von Momenten der Überforderung - nicht wirklich selbst. Sie verhält sich riskant, aber sie achtet auf sich, sich nicht in der Hilfe zu verlieren, und ergreift immer wieder notwendige Maßnahmen der Selbstfürsorge.
Dieser Entwicklungsprozess ist beeindruckend, ein wenig sogar vorbildhaft. Wenn du stirbst ist ein Beispiel dafür, wie man einem suchtkranken Menschen auf dem letzten Weg helfen kann, ohne die eigene Würde beschädigen zu lassen, auch wenn sich die Person würdelos und verletzend verhält. Es ist ebenfalls ein Beispiel dafür, wie viel Kraft dies erfordert; aus dem Epilog (S. 270): "Die wahre Kunst beim Schreiben dieses Buches bestand darin, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren." Davor verneige ich mich.
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